Der Rollator, mein bester Freund „Selektive Optimierung und Kompensation“ in einer ambulanten geriatrischen Rehabilitation Ein Fallbeispiel: Die 78-jährige Patientin begann bei uns die geriatrische Rehabilitation, nachdem sich in den Monaten zuvor eine deutliche Verschlechterung in den Bereichen Mobilität, Kraft und Beweglichkeit entwickelt hatte, auch Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule hatten zugenommen. Folgende Dauerdiagnosen liegen bei ihr vor: chronische Schmerzen bei degenerativen Veränderungen der LWS, Gonarthrose rechts, Z.n. Knie-TEP links, schwerer therapierefraktärer essentieller Tremor des Kopfes und der Hände, sowie eine COPD (geringe Symptomatik), intermittierendes VHF und Katarakt bds. Die Diagnosen spiegeln die Problematik der Patientin nur ungenügend wider. In mehreren Gesprächen wurde der Einfluss von psychosozialen Faktoren auf das Krankheitsgeschehen deutlich: Die Patientin hatte in mehreren Lebensbereichen vermehrt Einschränkungen und Abhängigkeiten erfahren müssen. Ein Sturz in einem Baustellenbereich sechs Monate zuvor hatte für sie eine entscheidende Zäsur bedeutet. Obwohl sie sich keine ernsthaften Verletzungen zugezogen hatte, entwickelte sie danach eine große Sturzangst und verließ nur noch gemeinsam mit ihrem Ehemann das Haus. Es entwickelte sich ein für unsere Patienten so typischer Teufelskreis aus Bewegungsarmut, Kraftverlust und zunehmender Gehbehinderung. Andere Faktoren wie der essentielle Tremor und finanzielle Schwierigkeiten hatten dazu geführt, dass sie Aktivitäten wie die Töpferei und regelmäßige Besuche der Abendakademie und von Konzerten hatte aufgeben müssen. Der Rollator, von dem sie jetzt bei außerhäuslichen Aktivitäten abhängig war, erschien ihr wie das Symbol ihres unausweichlichen Niedergangs. Zu Rehabeginn sah sie keine Hoffnung, jemals wieder eine befriedigende Lebensqualität erreichen zu können. Während der 30-tägigen Rehabilitation konnte sie im Rahmen des komplextherapeutischen Vorgehens große Fortschritte in der Mobilität erreichen. Kraft, Ausdauer und Gangsicherheit verbesserten sich deutlich. Die Fortschritte spiegelten sich auch an dem Verlauf des Assessments wider: der Timed up and go verbesserte sich von 40 auf 22 sec am Rollator, den Chair Rising Test absolvierte die Patientin zu Rehaende in 20 sec, nachdem zu Rehabeginn ein Aufstehen aus dem Stuhl nur mit Unterstützung der Arme möglich gewesen war. Sie verließ auch wieder alleine ihre Wohnung und konnte Spaziergänge von ca. 1,5 km am Rollator bewältigen. Entscheidenden Anteil am Rehaerfolg hatten auch die Veränderungen in der Krankheitswahrnehmung der Patientin. Unterstützt durch die von psychologischer Seite geführten Gespräche gelang es ihr, neue Perspektiven und Interessen zu entwickeln. Sie betrachtete schließlich ihre Einschränkungen nicht mehr als „der Anfang vom Ende“, sondern konnte sie besser als Teil ihres Lebens akzeptieren. Explizit stellte sie fest, dass „der Rollator ihr zum Freund geworden sei“, nachdem sie ihn vorher noch so vehement abgelehnt hatte. Diese positive Wahrnehmung konnte sie aufbauen, obwohl die Benutzung des Rollators immer wieder zu schmerzhaften Verspannungen im Schulter-Nacken-Bereich führte. Sie ließ sich auch durch den starken Tremor des Kopfes nicht mehr von gesellschaftlichen Unternehmungen abhalten (eine neurologische Vorstellung war selbstverständlich erfolgt). Das Fallbeispiel dieser Patientin zeigt, welche Regenerationsfähigkeit Menschen auch im fortgeschrittenen Alter besitzen und zu welcher inneren Flexibilität sie fähig sein können. Die Gerontologen Baltes und Baltes haben 1989 dazu folgende Theorie geprägt: „Erfolgreiches Altern“ bedeutet einerseits das Ausschöpfen der eigenen Kapazitätsreserven und andererseits die Kompensation von Leistungseinbußen oder –verlusten („selektive Optimierung und Kompensation“). Eine geriatrische Rehabilitation versucht diese individuellen Entwicklungen des Patienten zu unterstützen. Gemeinsam mit dem Patienten wird eine „Selektion“ der Ziele vorgenommen, d.h. Bereiche und Fähigkeiten bekommen Priorität, die für den Lebensalltag des Patienten von entscheidender Bedeutung sind (um beim Beispiel zu bleiben: den Tremor können wir nicht bessern, aber die Mobilität). In diesen Bereichen wird ein „Optimierung“ der Fähigkeiten angestrebt (intensiver Kraftaufbau über Gerätetraining, Verbesserung des Gangbildes durch Physiotherapie…). Eine „Kompensation“ der anhaltenden Defizite erfolgt beispielsweise über eine Versorgung mit Hilfsmitteln durch die Ergotherapie. Über positive Feedbackmechanismen, die von psychologischer Seite her bewusst gemacht werden, kann der Patient das Vertrauen in die noch vorhandenen körperlichen Fähigkeiten zurückgewinnen. Im Idealfall gelingt es ihm, neue Perspektiven aufzubauen und nicht mehr mögliche Aktivitäten durch andere zu ersetzen Es wird dabei deutlich, wie entscheidend es ist, dass das therapeutische Team interdisziplinär zusammengesetzt ist. Dr. Ulrike Hornung Fachärztin f. Allgmeinmedizin Klin. Geriaitrie
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