Latein Erhöhtes Anforderungsniveau – Aufgabe I In

Abiturprüfung Niedersachsen 2015 – Latein
Erhöhtes Anforderungsniveau – Aufgabe I
Übersetzungstext
In einer für den Staat sehr schwierigen Lage wendet sich Sallust an den Politiker
Caesar:
5
10
15
Quodsi tecum patria atque parentes possent loqui, scilicet haec tibi dicerent: „O
Caesar, nos te genuimus fortissimi viri, in optima urbe, decus praesidiumque nobis,
hostibus terrorem. Quae multis laboribus et periculis ceperamus, ea tibi nascenti cum
anima simul tradidimus: patriam maxumam in terris, domum familiamque in patria
clarissimam, praeterea bonas artis, honestas divitias, postremo omnia honestamenta
pacis et praemia belli. Pro iis amplissimis beneficiis non flagitium a te neque malum
facinus petimus, sed utei libertatem eversam restituas. Qua re patrata profecto per
gentes omnes fama virtutis tuae volitabit. Namque hac tempestate tametsi domi
militiaeque praeclara facinora egisti, tamen gloria tua cum multis viris fortibus
aequalis est. Si vero urbem amplissimo nomine et maxumo imperio prope iam ab
occasu restitueris, quis te clarior, quis maior in terris fuerit? Quippe si morbo iam aut
fato huic imperio secus accidat, cui dubium est, quin per orbem terrarum vastitas,
bella, caedes oriantur? Quodsi tibi bona lubido fuerit patriae parentibusque
gratificandi, posteroque tempore re publica restituta super omnes mortales gloriam
agitabis tuaque unius mors vita clarior erit. Nam vivos interdum fortuna, saepe
invidia fatigat. Ubi anima naturae cessit, demptis optrectatoribus ipsa se virtus magis
magisque extollit.“
Ceterum deos inmortales optestor, ut, quocumque modo ages, ea res tibi reique
publicae prospere eveniat.
(208 Wörter ohne die in Z. 13 f. übersetzte Passage)
Hilfen
Z. 1:
Z. 2:
Z. 3:
quodsi – wenn nun
gignere, gigno, genui – hervorbringen
capere, capio, cepi – erwerben
tibi nascenti – dir (gemeint ist Caesar) bei der Geburt
Z. 3 f: cum anima simul – zugleich mit dem Leben
Z. 7:
utei = ut
qua re patrata (patrare, patro, patravi, patratum) – nachdem du dies vollbracht hast
Z. 8:
volitare – sich verbreiten
namque … tametsi – denn auch wenn
Z. 10: aequalis, e – gleich; gleichgestellt
amplissimo nomine et maxumo imperio – Beziehen Sie diese Ablativi qualitatis auf
urbem.
Z. 10 f.: prope iam ab occasu – kurz vor dem Untergang
Z. 11: fuerit – er/sie /es steht da
Z. 12: secus – ein Unheil (hier Subjekt in der dt. Übersetzung)
dubium est, quin m. Konj. – es ist zweifelhaft, dass m. Ind.
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Z. 13:
quodsi – wenn aber
bona lubido (lubidinis f.) m. Gen. – ehrenhaftes Verlangen, etwas zu tun
Z. 14: gratificari m. Dat. – jemandem einen Gefallen erweisen
-que – entfällt bei der dt. Übersetzung
Z. 15: agitare – hier: erheben
tuaque unius mors vita clarior erit – und nur bei dir wird der Tod berühmter sein als das
Leben
Z. 16: anima naturae cessit – das Leben ist vorbei
demptis optrectatoribus – nach dem Verschwinden der Widersacher
Z. 16 f.: se extollere (extollo) – sich erheben
Z. 18: quocumque modo – wie auch immer
Aufgabenstellung
I. Übersetzung
Übersetzen Sie den anliegenden lateinischen Text in angemessenes Deutsch.
II. Interpretation
1. Stellen Sie dar, mit welchen Argumenten Sallust im Text versucht, Caesar
zum politischen Handeln zu bewegen.
2. Nennen Sie fünf verschiedene sprachlich-stilistische Mittel, die im Text vorkommen, und erklären Sie deren Funktion im Textzusammenhang.
3. Erläutern Sie unter Bezugnahme auf den Text die Deutung der römischen
Geschichte durch Sallust.
4. Stellen Sie dar, nach welchen Wertvorstellungen Aeneas in Vergils Aeneis
handelt, und untersuchen Sie, inwiefern diese Wertvorstellungen im Text zum
Ausdruck kommen.
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Lösungsvorschläge
I. Übersetzung
Wenn nun die Heimat und die Eltern mit dir sprechen könnten, würden sie dir
wohlgemerkt dieses sagen: „Oh Caesar, wir tapfersten Männer haben dich hervorgebracht, in der besten Stadt, als Auszeichnung und Schutz für uns, als
Schrecken für die Feinde. Was wir durch viele Mühen und Gefahren erworben
hatten, das haben wir dir bei der Geburt zugleich mit dem Leben übergeben: die
größte Heimat auf Erden, das berühmteste Haus und die berühmteste Familie in
der Heimat, außerdem gute Eigenschaften, ehrenhaften Reichtum, schließlich alle
Zierden des Friedens und Beutestücke des Krieges. Für diese äußerst prächtigen
Wohltaten verlangen wir von dir kein schändliches Vergehen und auch keine
schlechte Tat, sondern dass du die zerstörte Freiheit wiederherstellst. Nachdem
du dies vollbracht hast, wird sich tatsächlich der Ruhm deiner Tapferkeit in allen
Völkern verbreiten. Denn auch wenn du zu dieser Zeit in Friedens- und Kriegszeiten glänzende Taten vollbracht hast, ist dennoch dein Ruhm mit dem vieler
tapferer Männer gleichgestellt. Wenn du aber diese Stadt von angesehenstem
Namen und von größter Macht kurz vor dem Untergang wiederhergestellt hast,
wer steht dann berühmter, wer größer auf Erden da als du? Wenn allerdings
diesem Reich nun durch Krankheit oder durch einen Schicksalsschlag ein Unheil
widerfahren sollte, wem ist es dann zweifelhaft, dass auf dem Erdkreis Verwüstung, Kriege, und Blutbäder entstehen? Wenn du aber das ehrenhafte Verlangen
hast, der Heimat und den Eltern einen Gefallen zu erweisen, wirst du in der Folgezeit nach Wiederherstellung des Staates über alle Sterblichen hinaus deinen
Ruhm erheben und nur bei dir wird der Tod berühmter sein als das Leben. Denn
manchmal macht das Schicksal, oft der Neid die Lebenden müde. Sobald das
Leben vorbei ist, erhebt sich nach dem Verschwinden der Widersacher die Tapferkeit selbst mehr und mehr.“ Im Übrigen bitte ich die unsterblichen Götter,
dass, wie auch immer du handeln wirst, dein Einsatz für dich und den Staat
glücklich ausgehen möge.
Sall. epist. 2,13, 1 – 8 (Auslassung von „Quae … perscripsi.“ hinter „extollit“, Z. 17)
II. Interpretation
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1. Notieren Sie sich auf einem Konzeptblatt unter Berücksichtigung der immer
wiederkehrenden Schlüsselwörter die entscheidenden Argumente Sallusts.
Entwerfen Sie dann eine kurze Einleitung und einen logischen Schluss der
Argumentation, bevor Sie mit der Reinschrift beginnen.
Anforderungsbereich: I – II, Bewertungsfaktor: 1
Da sich der Staat in einer schwierigen Lage befindet, wendet sich Sallust an
den Politiker Caesar und versucht, ihn zum politischen Handeln zu bewegen,
um eine Verbesserung der Lage herbeizuführen. Die dazu verwendeten Argumente werden im Folgenden dargestellt:
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Sallusts geschicktester Schachzug seiner Argumentation besteht darin, dass
nicht er selbst Caesar zum Handeln auffordert, sondern die Paränese (Ermahnung) in einer Rede der Heimat und Eltern präsentiert (Z. 1: tecum patria
atque parentes possent loqui). Da für einen römischen Mann die Vorfahren
mit ihren Sitten und die Heimat als Identifikationsfigur aufgrund des Wertekanons von größter Bedeutung sind, ist Caesar als pflicht- und traditionsbewusster Römer – er inszeniert sich ja u. a. als Nachfahre des Aeneas, um
seine Authentizität zu behalten – dazu verpflichtet, den Bitten nachzukommen, um dem Idealbild eines vir vere Romanus zu entsprechen.
Zusätzlich bezeichnet Sallust die Wiederherstellung der Freiheit (Z. 7:
libertatem eversam restituas) als Gefallen gegenüber den Vorfahren
(Z. 13 /14: patriae parentibusque gratificandi). Caesar ist besonders an die
Vorfahren gebunden, da diese ihm schon bei der Geburt große Wohltaten
zukommen ließen (vgl. Z. 4 – 6). Caesar ist also dort, wo er momentan steht,
weil er auf der harten Vorarbeit der Vorfahren (Z. 3: multis laboribus et
periculis) aufbauen konnte. Caesar steht demnach in ihrer Schuld und muss
ihrem Willen aus Dankbarkeit für die reichen Gaben nachkommen. Und das
kann er tun, indem er das Erbe der Vorfahren, die Republik, wiederherstellt.
Zu diesem Argument kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Caesar hat die
richtigen Verbindungen (sog. „Vitamin B“ bzw. die Connections) (Z. 4 / 5:
domum familiamque in patria clarissimam) und auch die nötigen finanziellen Mittel (Z. 5: honestas divitias) zur Durchsetzung politischer Maßnahmen. So kommt man leicht auf den Gedanken: Wenn nicht Caesar dem
Staat helfen kann, wer dann?
Ab Zeile 7 b kommt nun ein mindestens ebenso wichtiges Argument dazu,
nämlich die Aussicht auf Ruhm (Z. 7/ 8: per gentes omnes fama virtutis tuae
volitabit). Zu Sallusts Zeit war das Leitmotiv eines jeden Römers aus der
Oberschicht, möglichst viel Ruhm zu erringen. Jeder Römer, der etwas auf
sich hielt, und damit insbesondere Caesar, strebte also an, durch seine Taten
größtmöglichen Ruhm zu ernten und mit diesem Ruhm (Z. 9: gloria) in Erinnerung zu bleiben, also memoria (Z. 15: tuaque unius mores vita clarior
erit) zu gewinnen. Und genau das, den maximal möglichen Ruhm, verspricht
Sallust Caesar hier. Nun erweitert Sallust den Blick von der römischen res
publica auf die ganze Welt: Sollte Caesar die Freiheit wiederherstellen, so
wird die ganze Welt seinen Namen preisen (Z. 11: maior in terris; Z. 12: per
orbem terrarum; Z. 14: super omnes mortales) und niemand wird sich mit
ihm messen können.
Ebenso weltweit jedoch werden die Folgen bei unterlassener Hilfeleistung
sein (Z. 12 /13 per orbem terrarum vastitas, bella, caedes). So ruht die letzte
Hoffnung Roms und der ganzen Welt auf Caesar.
Folglich kann man zusammenfassen, dass Sallust mit der Pflicht gegenüber
den Vorfahren, mit der Aussicht auf Ruhm (gloria) und Nachruhm
(memoria) und mit den weltweiten katastrophalen Folgen bei unterlassener
Hilfeleistung argumentiert. Einen genialen Abschluss bildet die im Anschluss
an die Vorfahren-Rede von Sallust geäußerte Bitte an die Götter (Z. 18 /19:
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