3. Einheit: «1811 – Friedrich de la Motte Fouqué, Undine»

3. Einheit: «1811 – Friedrich de la Motte Fouqué, Undine»
Autor
Lebenslauf
Geboren 1777 in Brandenburg, gestorben 1843 in Berlin; Hugenotte
„Ein­Werk­Schriftsteller“, zu Lebzeiten sehr starke Ausstrahlung und Wirkung, heute nur noch aufgrund von „Undine“ im Kanon vertreten; Begegnung mit Schlegel, erste Veröffentlichung im Jahr 1803, seine letzten Jahre verbrachte er – nach dem Tod seiner Frau Caroline – verbittert.
Werke
Er schrieb dutzende Dramen (verschollen und irrelevant), Hauptthema war u.a. die germanische Mythologie, welche in der Romantik eine Aufklärung durchlebte, „Der Held des Nordens“ knüpft an die Edda an (und wurde später von Richard Wagner verarbeitet), „Galgenmännlein“ 1810, „Der Zauberring“ als quasi erster dt. Fantasyroman, „Parcival“, eine Grimmelshausen­Rezeption usw.
Wirkung
Fouqué schon zu Lebzeiten wieder vergessen, Hochkonjunktur zwischen 1810 und 1820, Eichendorff, Grillparzer und Poe waren große Anhänger, ab dem Vormärz verloren seine Themen an Zugkraft, da er beim Phantastischen blieb, Heine kritisierte ihn als Vielschreiber und „Don Quixote der Romantik“, seine Werke wurden der Trivialliteratur zugeordnet, gleichzeitig war er der einzige Autor seiner Zeit, dessen Werke von allen sozialen Schichten gelesen wurden
Inhalt
Der Ritter Huldbrand wird von seiner Verlobten Bertalda in den Geisterwald geschickt. Dort verirrt er sich und kommt bei einem Fischerpaar und dessen Pflegetochter Undine unter. Diese ist eine Nixe, die erste eine Seele bekommt, wenn sie einen Menschen heiratet. Ihr Oheim Kühleborn fungiert als Intrigant der Novelle. Die Jahre vergehen, Huldbrand heiratet Undine → Seelengewinn, Erlösung und neue Bewusstseinsebene (Einsicht in Liebe und Leid), gemeinsam kehren sie in die Reichsstadt zurück, wo sie auf Bertalda treffen → Konflikt, Bertalda eigentlich die Tochter des Fischerpaares und vom Herzog adoptiert (erfährt Undine von Kühleborn), Undine verrät dies (ohne böse Absichten, sie und Bertalda wurden Freundinnen) öffentlich, Bertalda ist erzürnt und will nichts davon wissen, Geburtsmal als Beweis, Bertalda verlässt Reichsstadt und will zu ihren Eltern, Undine lädt sie aber auf Burg Ringstetten ein, verschließt aber wegen Kühleborn den Brunnen; auf Donaufahrt nach Wien attackiert Kühleborn die Reisenden und versucht Huldebrand und Bertalda zu ertränken, diese werden aber von Undine gerettet, Huldbrand ist den Wassergeistern überdrüssig und schimpft Undine, die ihn deshalb verlassen muss (Geistergesetz), Huldbrand heiratet Bertalda, Undine warnt ihn im Traum, sie muss ihn töten, wenn er wieder heiratet, Bertalda lässt Brunnen offen, bei Hochzeit küsst Undine Huldbrand und tötet ihn so. Bei seinem Begräbnis erscheint auch Undine, die zu Wasser zerinnt und als zwei kleine Bäche Huldbrands Grab umfließen.
Stoffgeschichte
Sage und Literatur vor Fouqué Nixen und Wassergeister in Volksüberlieferungen: Spiegelwelt im Wasser mit zerstörerischen Wasserkräften (Kühleborn), sie entführen Menschenkinder oder tauschen sie aus (man spricht vom „Wechselbalg“); Paracelsus als Erfinder des Namens „Undine“, er klassifiziert sie zu den Elementargeistern (neben Gnomen, Feuersalamendern und Sylphen), sie sind ohne Seele, aber nur sie sind in der Lage eine menschl. Form anzunehmen (durch Heirat), Fouqué trennt aber Paracelsus' Lehren von seinem Werk, auch bei Goethe findet man Undinen; sie befinden sich zwischen der Menschen­ und der Geisterwelt, zwischen Eros und Thanatos und sind Lebensspender und Lebensvernichter.
„Undine“ und die Nachwelt
„Undine“ hinterließ ein riesiges Echo, Goethe bezeichnete es als „allerliebst“, der Stoff sei exquisit, nur die Gestaltung wäre nicht perfekt. Poe rühmt die poetische Pracht der Übergänge/Verwandlungsprozesse. Die Musik schien ein geeignetes Medium zur Umsetzung der Stoffe zu sein, drei Dutzend Vertonungen der Novelle (z.B. Hoffmann, Lortzing) „Undine“ wird erste deutsche Oper der Romantik, konnte sich durch einen unglücklichen Theaterbrand aber nicht im Spielplan verfestigen, Lortzing verfasste das Libretto selbst, mit Comic­Relief­Charakter und versöhnlichem Ende (Hauptfigur lebt mit Undine im Wasserreich weiter);
1837: Andersens „Die kleine Meerjungfrau“, nicht typisch­tragisch, Nixe opfert Stimme und Fischschwanz, um auf der Oberwelt leben zu können
1891: Oscar Wilde: „Der Fischer und seine Seele“, Fischer opfert aus Liebe zu einer Undine Seele und Schatten (Schattendiebstahl bei „Peter Schlemihl“ und „Das kalte Herz“), ohne Herz → böse
Ingeborg Bachmann: „Undine geht“, weibliche Perspektive
Struktur
„Undine“ als Novelle
1. Novelle als Produkt der progressiven Universalpoesie (Auflösen der Gattungsgrenzen, lyrische Einschübe);
2. Durchdringen des Alltäglichen mit Wunderbaren, Züge des Kunstmärchens (Novalis: Märchen = Kanon der Poesie, Kunstmärchen ohne mündliche Überlieferung); in der Romantik: Kunstmärchen parallel zur Archivierung von Volksmärchen (Grimm)
3. Romantische Geselligkeit: Undine aus kollektiver Überlieferung geschöpft (Melusine, Mahrtenehe)
Raum
Seelandschaft: Abgeschiedenheit, pastorales Idyll, zeitlose arkadische Märchenwelt, Isolation, unverdorbene Reinheit, Fischertochter, Kühleborn als Beschützer Huldbrands
Höfische Welt: Ritterwelt, Zivilisation, höfisches Mittelalter (mit Bezug zur Realität: Donau & Wien werden erwähnt), Gesellschaft, Entfremdung, Niedertracht, Rittersgattin, Kühleborn als Huldbrands Bedroher
Grenzüberschreitung als Voraussetzung für die Handlung
literarisches Erfolgsmuster: Elementarwesen in Isolation → Einführung in die Gesellschaft → Konflikt mit Gegenspielerin (vgl. z.B. Heidi)
symbolhafte Topographie, erotische Landschaftssituation (Verschmelzung & Harmonie), Ende: Quelle „umarmt“ Grab, versöhnlicher Eindruck
Personenkonfiguration
1. Mann zwischen zwei Frauen, eine aus Geisterwelt (Uninde), eine aus Menschenwelt (Bertalda), → vgl. Runenberg
2. Deformierte Eltern­Kind­Beziehung: Fischerpaar mit „undankbarem, abwesendem“ Pflegekind, Adoptivkind sonst typische männliche Heldenausgangssituation (Siegfried, Harry Potter, Moses, Superman, etc.), Herzogspaar mit nicht leiblicher Tochter, nach der Enthüllung folgt die Entfremdung, in Geisterwelt fehlen die älteren weiblichen Teile
3. Natur und Allegorie: in Volksmärchen Elementargeister eher Nebenfiguren; Wasser: gefährlich und lebenswichtig, Ambivalenz der Thematik: Unine – positiv, Kühleborn – neg.
Entwicklung Undines
Phasen: I: Naturwesen: spontan, verantwortungslos – Heirat – II: Disziplinierung und Unterwerfung, zart, häuslich (in Frühromantik: emanzipatorisch, kein so reaktionäres Frauenbild) – Beschimpung – III: Wiedergänger: Todgestalt und Wiederkehr, Undine erstickt Huldbrand mit Tränen, beide Phasenüberschreitungen (Heirat und Beschimpung) geschehen über Huldbrand und sind Teil des Regelwerks der Geister „wenn­dann­Beziehungen“: wenn du heiratest, dann erlangst du Seele; wenn er dich beschimpft, dann musst du verschwinden. Heirat – Seelengewinn – Wunscherfüllung – Ehe – Beschimpfung – Untergang des Seelenspenders – Tabubruch – Verschwinden, keine homogene Personenstruktur Undine und die romantische Liebe
Autobiographie? (Beginn, 13. Kapitel), Erzähler lässt Persönliches einfließen, Poe ortet persönliches Anliegen, evtl. Verarbeitung von Fouqués glückloser Beziehung zu Elisabeth zu Breitenbach
Wandel des Liebebegriffs: romantische Liebe als Dauerbrenner der Literatur
frühere Partnerwahl nach Nützlichkeit und anderer Kommunikationscode
um 1800: industrielle Revolution → körperl. Anforderung geringer, geistige Qualität wichtiger, Gefühlsleben wichtiger, Suche nach dem Seelenpartner, Ideal der Liebesheirat, Poetisierung des Alltags, Symbiose statt Unterordnung der Frau. Gegner: Versorgungsprinzip vernünftiger, Gefühle und Stimmungen sind nur vage, Frau bei Liebesheirat nur unbestimmt, oft nur flüchtig erblickt und distanziert
Rolle der Körpersprache als Basis des Gefühlsausdruck, Mimik und Gestik zur Verstärkung od. Vermeidung von Scham und Schande (Bertalde bei Offenledung über ihre Herkunft)
Loslösung vom Partner auch thematisiert, Scheidungsreicht zeitgenössisches Problem (Caroline Schlegel), Undine wurde dazu durch Verhaltenskodex gezwungen → Ist Literatur ein Spiegel oder ein Generator von politischen Diskursen?