Die Unerträglichkeit der Stille 1 - Hannelore-Dechau-Dill

Leseprobe
Vergangenheit
Über Verzweiflung, Ekel und Schuld
Undine steht in der nasskalten Dunkelheit neben der Küchentür, eng an die Hauswand gedrückt.
Zitternd atmet sie die kalte Luft ein und schlingt beide Arme um ihre Schultern. Sie hat nur ein
dünnes Wolljäckchen an und friert. Drinnen im Haus tobt die Wut.
Die Wut des Vaters, der halb betrunken heimgekommen ist. Es ist spät, Patrick schläft schon.
Undine sitzt am Küchentisch und macht Hausaufgaben. Am Tage hat sie keine Zeit dafür
gefunden. Die Mutter hat sich hingelegt, ihr war gar nicht gut. Und das hat man gesehen.
Da kommt der Vater nach Hause, Undine hat heute Nacht gar nicht mehr mit ihm gerechnet.
Manchmal kommt es vor, dass er auswärts übernachtet. Bei irgendwelchen Saufkumpanen oder in
einem Schuppen eines Hinterhofs – weiß der Himmel, wo er dann unterkommt. Undine ist das
gleichgültig. Und die Mutter ist froh. So wie heute Abend.
Er kommt nicht mehr, sagt sie. Ich gehe ins Bett.
Dann aber ist er doch da. Plötzlich steht er in der Küchentür, dünn und hängeschultrig, wie immer.
Das Gesicht aufgedunsen vom Alkohol, das Haar wirr in der Stirn.
Er mustert Undine mit schrägem Blick.
Warum sitzt du jetzt noch an den Schularbeiten? Sollten die nicht längst erledigt sein?
Undine sieht ihn offen an, mit kalter, zorniger Miene.
Das ging nicht, sagt sie, ich musste Mama helfen.
Soso, du musstest Mama helfen. Diese faule Schlampe hat wohl wieder den Tag auf der Couch
verbracht.
Er öffnet die Kühlschranktür und späht hinein, greift sich die halbvolle Schnapsflasche und nimmt
einen kräftigen Zug. Er stellt die Flasche zurück und wischt sich mit dem Ärmel über den Mund.
Wo ist mein Essen, he?
Es steht auf dem Herd, aber es ist längst kalt, sagt Undine ungerührt. Kannst es dir ja selber
wärmen. Ich hab es stundenlang warm gehalten. Jetzt habe ich keine Zeit.
Der Vater starrt seiner Tochter ins Gesicht. So hat sie noch nie zu ihm gesprochen. Für einen
Augenblick verschlägt es ihm die Sprache. Er kneift die Augen zusammen und mustert Undine
mit neu erwachtem Interesse. Ein staunendes Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus.
Undine sitzt mit steifem Nacken am Tisch und blickt in ihre Bücher. Die Schrift verschwimmt ihr
vor den Augen und Schweiß perlt auf ihrer Stirn, sie hat Angst. Aber sie lässt sich nichts
anmerken. Bisher hat der Vater sie nie geschlagen, höchstens einmal heftig am Arm gepackt, aber
das kann sich ja ändern. Er ist unberechenbar.
Einen Augenblick noch steht er regungslos da und mustert seine Tochter mit grüblerischer Miene.
Dann rülpst er laut und fährt sich mit der Hand durchs Haar.
Das sind ja ganz neue Töne hier im Hause, was? Übernimmt meine zwölfjährige Tochter jetzt das
Kommando?
Undine antwortet nicht, sitzt nur stumm da und starrt in ihre Bücher.
Grunzend tritt er an den Herd, hebt den Deckel und späht in den Topf. Mit einem Knall lässt er
ihn zurück fallen.
Verdammter Fraß!
Er könnte besser sein, wenn du nicht alles Geld vertrinken würdest, kommt Undines Stimme
gelassen vom Tisch her.
Hoho, das hör sich einer ein. Mein Fräulein Tochter will mir sagen, was ich zu tun und zu lassen
habe!
Er lacht höhnisch auf und schlägt mit der Faust an die Kühlschranktür, dass es darin nur so
scheppert. Das bringt ihn auf eine Idee. Er öffnet die Tür und holt die Schnapsflasche wieder
hervor. Es ist nicht mehr allzu viel darin. Mit einem Schluck gießt er sich den ganzen Rest durch
die Kehle, knallt die leere Flasche auf den Tisch, direkt auf Undines Bücher.
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Mit einem Ruck dreht er sich um und steuert auf die Schlafzimmertür zu. Auf einmal verändert
seine Haltung sich, die Schultern sinken noch mehr herunter, der Kopf drückt sich in den Nacken
und sein Blick wird listig und verschlagen. Es sieht aus, als hätte er einen tollen Streich im Sinn.
Leise öffnet er die Tür.
Und nun zu dir, flüstert er heiser und schleicht hinein. Er lässt die Tür halb offen stehen, und
Undine sieht, wie er vor dem Bett der Mutter Halt macht. Eine schwache Helligkeit dringt von der
Straße herein. Er beugt sich über das Bett und zieht die Decke zurück.
So, mein Täubchen. Jetzt wollen wir beide mal eine nette kleine Plauderei abhalten.
Die Mutter schreit auf.
Glaubst du tatsächlich, dass ich nichts davon erfahren würde? He, ich rede mit dir.
Er schüttelt sie mit beiden Händen, die Mutter keucht und wimmert. Dann gibt sie seltsam
gurgelnde Laute von sich. Sekundenlang fürchtet Undine, er könnte sie würgen. Dann lässt er sie
los und sich selber schwer aufs Bett fallen.
Er holt tief Luft und stößt hervor: Wer hat dir erlaubt, diese alte Betschwester, deine Mutter zu
besuchen, ich etwa? Antworte!
Nein, wimmert die Mutter. Ich wollte doch nur . . . . .
Undine zuckt zusammen. Darum geht es also.
Vor ein paar Tagen hat die Nachbarin angeboten, die Mutter im Wagen ein Stück mitzunehmen,
da sie den gleichen Weg hatte.
Undine wird es heiß und kalt, als sie an jenen Morgen denkt.
Er schlägt nicht oft ins Gesicht, oh nein. Das sehen die Leute, obwohl die Mutter kaum noch
ausgeht. In der Nacht davor aber hat er es doch getan. Am nächsten Morgen ist ein Auge
zugeschwollen, auf der Wange prangt ein blauschwarzer Fleck.
So hat die Nachbarin sie gesehen, und so ist sie zur Großmutter gefahren.
Auf irgend eine Weise ist der Vater dahinter gekommen!
Was ist das nun, was ihn jetzt in Wut versetzt, grübelt Undine. Ist es Scham? Schämt er sich für
das, was er getan hat? Oder schämt er sich nur, dass andere es erfahren haben?
Was geht wohl in ihm vor? Warum muss er sie überhaupt dauernd schlagen?
Zum ersten Mal stellt Undine sich diese Fragen.
Nebenan wimmert die Mutter in den Kissen.
Ich wollte doch nur meine Mutter mal wieder sehen.
Du wolltest deine Mutter mal wieder sehen, äfft er ihren weinerlichen Ton nach.
Hast du nicht hier im Hause genug zu tun? Sieh dich doch bloß mal um, wie es hier aussieht! Hier
ist dein Platz.
Er reißt das Bettzeug zurück und holt aus. Undine hört den klatschenden Schlag, dann den Schrei
der Mutter.
Sie springt auf und stürzt ins Schlafzimmer. Da steht er über das Bett gebeugt im Schummerlicht,
die Hand noch in der Luft.
Undine macht Licht und tritt auf den Vater zu.
Hör sofort auf damit, schreit sie ihn an.
Niemand nimmt Notiz von ihr. Die Mutter liegt zusammen gekrümmt im Bett und wimmert.
Ich will’s ja nicht wieder tun. Ich geh nie wieder zu ihr. Ich verspreche es. Ich tu ja alles, was ich
soll.
Mühsam richtet sie sich im Bett auf. Zum Erbarmen sieht sie aus. Das Haar steht ihr wirr vom
Gesicht ab, die Augen liegen blutunterlaufen in dunklen Höhlen.
Ich steh gleich auf und mach dir dein Essen warm. Und ich geh nie wieder zu meiner Mutter und .
...
Der Mann starrt voller Verachtung auf sie herunter. Ihre Verzweiflung erfüllt ihn mit Ekel. Er
mustert sie mit kaltem Blick und zieht die Mundwinkel herunter. Dann sieht er Undine an.
Guck sie dir an, deine Mutter. Was aus ihr geworden ist.
Du hast das aus ihr gemacht, zischt Undine. Das hast du gemacht. Du ganz allein.
2
So? Glaubst du? fragt der Vater leise. Dass du dich nur nicht irrst.
Er packt Undine und stößt sie zur Seite. Dann rennt er aus dem Zimmer. Einen Augenblick später
fällt scheppernd die Hintertür ins Schloss.
Undine bringt die wimmernde Mutter ins Bett zurück.
Warum um Himmels willen lässt du dir das gefallen? herrscht sie die Mutter an.
Die Mutter zieht sich die Bettdecke über die Ohren. Sie dreht den Kopf zur Seite.
Bitte, mach das Licht wieder aus, flüstert sie.
Auf einmal weiß Undine: sie schämt sich. Sie schämt sich für das, was der Vater mit ihr tut, sie
schämt sich wegen ihres ganzen elenden Lebens!
Aus den Kissen wispert es fast unhörbar: Es ist meine Schuld, er hat die Beherrschung verloren.
Ich hätte es wissen müssen, dass er das nicht gutheißen würde.
Was sagst du da?
Undine ist fassungslos. Es ist deine Schuld? Wie kannst du das sagen? Wie kommst du überhaupt
darauf?
Ich bin nun mal nicht die Frau, die er braucht. Eine tüchtigere, klügere hätte er haben müssen.
Weißt du, er hat es nicht leicht gehabt im Leben . . . dieser strenge Vater, immer Geldknappheit
und die vielen Kinder - ach ja. Es ist nicht seine Schuld . . .
Aber Mama!
Undine ist über alle Maßen empört.
Das alles ist doch kein Grund, dich zu schlagen.
Die Mutter seufzt und gräbt sich tiefer in die Kissen.
Du verstehst das nicht. Er ist ja gar nicht so – tief innen drin. Es überkommt ihn eben manchmal,
dann rastet er aus.
Sie wendet sich ab.
Lass mich ein bisschen schlafen, ja?
Ein Gedanke scheint ihr zu kommen.
Schläft Patrick schon? Und du? Musst du nicht auch längst im Bett sein. Morgen ist doch Schule,
oder?
Plötzlich gibt es Undine einen Stich.
Ja, verdammt noch mal, morgen ist Schule, möchte sie schreien.
Und Patrick schläft zum Glück seit ein paar Stunden in seinem Bett. Er hat nichts mit gekriegt.
Aber das wird er schon noch, sei unbesorgt. Er wird älter und aufmerksamer. Er kann hören und
sehen.
Und die Veränderung, die da mit dir vorgeht, kriegt er ja jetzt schon mit. Schon jetzt sieht er, wie
verkniffen dein Gesicht geworden ist. Sieh doch deine fahle Haut, die Ringe unter deinen Augen,
deine eingezogenen Schultern als würdest du jeden Augenblick einen Schlag erwarten.
Sieh dein Haar an, das einmal schön und glänzend war. Ungepflegt und strähnig hängt es
herunter. Die einzige Pflege, die ihm zuteil wird, ist ein eigenhändiger Schnitt mit der
Küchenschere und ein Stück Kernseife – und auch das nur alle paar Wochen.
Oh ja, auch Patrick wird eines Tages sehen, was hier los ist, in diesem Haus. Und schon bald,
denn er ist dabei aufzuwachen!
Das alles möchte sie der Mutter an den Kopf werfen, aber sie bleibt stumm.
In ihr drin jedoch kocht und brodelt es.
Wo ist das Mitleid geblieben?
Im Augenblick empfindet sie nur Groll und Erbitterung.
Ihre Lippen bleiben verschlossen, nur in ihrem Kopf ertönen weiter die stummen Vorwürfe: Da
liegst du in deinem Bett und ziehst dir die Decke über den Kopf. Vielleicht nimmst du noch ein
paar Pillen, bevor du die Augen für diese Nacht zumachst. Die garantieren dir einen ruhigen
Schlaf und sanfte Träume.
Du schleichst dich davon, und wir bleiben hier, Patrick und ich. Morgen schläfst du bis in die
Puppen, und ich kann sehen, dass dein Sohn sein Frühstück kriegt. Von mir und der Schule gar
nicht zu reden.
Bin ich für dich nur noch da, um den Haushalt mehr schlecht als recht in Gang zu halten?
3
Und sie schwört bei sich: Nie, niemals im Leben wird so etwas mir passieren! Zum Glück bin ich
anders, ich weiß mich zu wehren.
Warum nur lässt die Mutter das alles geschehen? Warum lässt sie jegliche Selbstachtung aus sich
heraus prügeln?
Undine versucht sich das Bild der Mutter vor Augen zu rufen, wie sie früher einmal war. Gewesen
sein könnte, denn eigentlich hat Undine gar keine Erinnerung daran.
In ihrer Vorstellung erscheint nun ein Bild, das sie selber erschaffen hat – mit dem Gesicht der
jungen Frau auf dem Hochzeitsfoto: zurückhaltend und bescheiden, immer bereit, es allen recht zu
machen, hilfsbereit und gefällig, sogar unterwürfig, verlegen lächelnd, wenn man sie anspricht.
Wirkte ihr ganzes Wesen auf ihn wie Schwäche und Feigheit. Feigheit, die ihm Kraft gab, sie zu
unterdrücken? Aber auch das kann ja nicht die Antwort auf all ihre Fragen sein.
Mit offenen Augen liegt Undine im Bett und starrt in die Dunkelheit. Auf einmal hat sie große
Sehnsucht nach dem Haus der Großmutter, nach der friedlichen Atmosphäre und Geborgenheit.
So ist es in diesem Haus für sie noch nie gewesen. Am liebsten würde sie auf der Stelle aufstehen
und fortlaufen.
Schon sieht sie sich vom Haus weg durch die grauen Straßen gehen, dann die breite Allee entlang,
den Sandweg zwischen den Birken, deren Äste sich schwarz gemeißelt zum tiefblauen Himmel
recken, dann quer über die Wiese ins Tal hinunter. Bereiftes Gras knistert unter ihren Füßen, weit
hinten ist der Fluss, silbergrau schimmert er in der Wintersonne. Und hinter der Wiese da wartet
ihr Haus . . . . .
Wieder schiebt sich das Bild der Mutter davor – so wie sie heute ist. Warum erträgt sie dieses
Leben? Was hält sie immer noch an der Seite dieses Mannes. Ist da immer noch ein Funken
Liebe, eine Art von Zusammengehörigkeitsgefühl?
Sieht sie etwa diesen unerträglichen Zustand als ihre eigene Schande, ihr eigenes Versagen, an?
Oder ist es ganz einfach die Angst davor, ein anderes Leben zu beginnen? Nur sie und die Kinder!
Ist es die Angst vor einer neuen Situation und den Anforderungen, denen sie sich nicht gewachsen
fühlt aus Unselbständigkeit und mangelnder Kenntnis ihrer Möglichkeiten?
Was hat die Mutter gesagt? Ich bin selbst schuld, weil ich unfähig bin.
Hat er ihr das so oft vorgesagt, bis sie es selber glaubte? Woher nur kommt diese innere
Bereitschaft, erniedrigt zu werden?
Wieder kommt ihr die Großmutter in den Sinn.
Die Großmutter mit ihren dunklen Röcken, den blitzenden Augen und dem spitzen Kinn, das
gleichzeitig energisch und demütig aussehen kann. Mit ihrer Bilderbibel, den weisen Reden und
den wunderbaren Märchen. Mit ihren Enten und Hühnern und der gemütlichen Küche, in der es
nach frischem Brot und Waffeln riecht.
Und mit ihren frommen Ratschlägen und ihrer Demut.
Die Demut! Ja, diese Demut - was es damit wohl auf sich hat?
Demut - Unterwürfigkeit – gibt es einen Unterschied?
Was macht in den Augen der Großmutter ein Frauenleben aus? Geht es um eine schon in Kindheit
und Jugend anerzogene Bereitschaft, zu dienen, zu umsorgen, zu ertragen, sich dem Gegebenen
zu fügen?
Außerdem: die Ehe ist heilig! Wie mag es in der Ehe der Großeltern zugegangen sein?
Undine schläft.
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