Jan Knopf Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel Reclam Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel Von Jan Knopf Ein 24-jähriger Student fährt von seinem nicht näher spezifizierten Heimatort, der, da die Hauptfigur häufig als Selbstporträt Dürrenmatts aufgefasst worden ist, in der Regel mit Bern identifiziert wird, zu einer Züricher Universität, um dort ein Seminar zu besuchen, »das zu schwänzen er schon entschlossen war« (119). Der Zug ist überfüllt, jedoch findet der Student in der dritten Klasse, ganz hinten, einen passablen Platz und beschäftigt sich mit seinen Studien. Nach etwa zwanzig Minuten fährt der Zug in einen kleinen Tunnel ein, den der Student – er fährt die Strecke fast jede Woche – bisher kaum beachtet hatte. Jedoch diesmal nimmt der Tunnel kein Ende, was sich der »junge Mann« zunächst damit zu erklären versucht, dass er den falschen Zug genommen hat. Der Schaffner jedoch bestätigt, dass der Zug nach Zürich fahre. Außer dem Studenten ist niemand beunruhigt; alle Mitreisenden bleiben mit ihren normalen Tätigkeiten beschäftigt, sei es mit versunkenem Romanlesen, wie ein junges Mädchen im Abteil, sei es mit Schachspielen gegen sich selbst, wie der männliche dicke Zuginsasse. Als der Tunnel auch nach zwanzig Minuten nicht endet, macht sich der Student auf den Weg zum Zugführer, der sich in einem der vorderen Wagen aufhält. Auch der Zugführer versucht zunächst zu beschwichtigen, führt dann aber den Studenten entschlossen durch den Packwagen zur Zugspitze und schließlich mit einem riskanten Klettermanöver in die Lokomotive, die leer ist: der Lokführer ist abgesprungen, sobald er bemerkt hatte, dass es nicht mit rechten Dingen zuging. Die Geschwindigkeit des Zugs nimmt zu und die Fahrt geht deutlich abwärts. Es wird klar, dass der Zug ins Erdinnere abstürzt. Den Versuch des Zugführers, wieder zurück in die Wagen zu 1 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Jan Knopf Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel Reclam gelangen, verhindert die Neigung, und er stürzt schließlich blutüberströmt auf das Fenster der Lokomotive und kommt neben dem Studenten zu liegen, der das Gesicht über den Abgrund gepresst hält. Auf die Frage des Zugführers, was zu tun sei, antwortet der Student: »›Nichts. Gott ließ uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu.‹« (133) So weit der Plot der Erzählung, die durch ihren scheinbar offenen Schluss1 sowie mit der ›theologischen‹ Erklärung des Studenten – schon zu ihrer Entstehungszeit, nämlich 19512 (veröffentlicht 1952), als der Zweite Weltkrieg noch vor Augen stand – herausfordern musste. Die einfache Erläuterung, dass Dürrenmatt bereits mit seiner frühen Prosa sich seinem Dauerthema, nämlich dem Einbruch des Ungewöhnlichen in den gewöhnlichen Alltag bzw. in die gewohnte Ordnung,3 verpflichtet habe, ist sicherlich nahe liegend, aber wohl kaum zureichend. Dazu enthält die Erzählung zu viele erklärungsbedürftige Passagen. Die Probleme beginnen bereits mit dem ersten Satz. Der junge Student schottet sich mit seinem Fett und dem Verstopfen der »Löcher in seinem Fleisch« gegen das »Schreckliche« und »Ungeheuerliche«, das sich hinter den »Kulissen« verbirgt, ab (119). Damit sind bereits zwei Wirklichkeitsbereiche ausgemacht, die in der Erzählung dann kollidieren werden. Es liegt nahe – im Sinn der angedeuteten Erläuterung – den Bereich der »Kulissen« als die alltägliche Wirklichkeit zu interpretieren, hinter der sich eine andere Wirklichkeit verbirgt, die am Ende der Erzählung das letzte Wort behält, die des Schrecklichen.4 Freilich – und da ist entschieden zu differenzieren – enthält der Begriff »Kulisse« bereits eine Wertung, nämlich dass diese Wirklichkeit in Wahrheit keine ist, sondern lediglich ›Theater‹, also nur scheinbare Wirklichkeit. Da das ›schreckliche‹ Geschehen am Ende aber ebenfalls mit der Theatermetapher bedacht wird – es sei ein »tödliches Schauspiel«, heißt es (133) –, erweist sich auch diese 2 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Jan Knopf Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel Reclam ›Wirklichkeit‹ lediglich als Theater und nicht, wie man zu Beginn meinen möchte, als die ›eigentliche‹ Wirklichkeit, die der alltäglichen kontrastiv gegenübergestellt wird. Das heißt: Eine idealistisch-philosophische Deutung, wonach unsere alltägliche Wirklichkeit nur Schein sei, in die – sie zerstörend oder zumindest in Frage stellend – eine andere, von den Menschen ignorierte Wirklichkeit (deutlich am Verhalten der übrigen Fahrgäste abzulesen) einbricht, wird durch die Theatermetapher am Ende zurückgewiesen (womit auch das in den Interpretationen immer wieder bemühte platonische Höhlengleichnis als Deutungsmuster ausfällt5). Es wird folglich nicht – wie dann später etwa im Stück Der Meteor – eine ›höhere‹ gegen eine ›niedere‹ Wirklichkeit ausgespielt, vielmehr wird durch die Schauspielmetaphorik das gesamte Geschehen als Fiktion, als Theater deklariert. Es handelt sich um Gegenbilder zur gewohnten Wirklichkeit und möglicherweise – das ist zu prüfen – um Metaphysik. Es gibt weitere scheinbare Ungereimtheiten im Text. Obwohl der Student derjenige ist, der den Einbruch des Schrecklichen nicht nur wahrnimmt, sondern am Ende auch annimmt, tut er zunächst alles, um das Ungeheuerliche, »welches er sah (das war seine Fähigkeit, vielleicht seine einzige)« (119), mit allen Mitteln von sich abzuhalten; sogar seine Leibesfülle hat er sich zu diesem Zweck zugelegt, das heißt, dass er seinen ganzen Körper als Schutzschild gegen das Schreckliche, als adipositas, eingesetzt hat. So gesehen müsste er es eigentlich sein, der den Todessturz des Zugs ignoriert; der Text jedoch besteht darauf, dass alle übrigen Fahrgäste entweder nach rationalen (und zum Teil komischen: »Simplon«, 125) Erklärungen suchen oder das Geschehen im Ganzen überhaupt nicht wahrnehmen (wie z. B. auch niemand – was ja gänzlich unwahrscheinlich ist – merkt, dass der Haltepunkt Olten nicht kommt). Der Student verfügt aber über die Fähigkeit, das Schreckliche zu ›sehen‹, folglich ist er es, der offenbar allein dazu prädestiniert ist, das Ungeheuerliche wahrzunehmen, weshalb alle seine Panzerungen unnütz werden. Neben dem Studenten erkennt auch der 3 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Jan Knopf Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel Reclam Zugführer das Unheil, er muss aber erst durch den Studenten zum Eingeständnis des Schrecklichen gebracht werden (auch er versucht zunächst zu verdrängen). Im Zusammenhang mit der Theatermetapher (»Schauspiel«) bedeutet dies, dass dieses ›Sehen‹ möglicherweise als Vision6 zu verstehen ist und dass es sich bei dieser Vision um eine ›Veranstaltung‹ des Studenten handelt, die sich vielleicht nur in dessen Kopf abspielt, die Erzählung folglich als eine Art ›objektivierter‹ innerer Monolog zu verstehen ist. Es sei angemerkt, dass Elisabeth Brock-Sulzer die These in die Welt gesetzt hat, es spreche in der Geschichte ein ›erzählendes Ich‹,7 wovon keine Rede sein kann; das Missverständnis kommt aber möglicherweise dadurch zustande, dass sich die Erzählung wie die Wiedergabe eines Bewusstseinsstroms liest. Oder anders gesagt: Erzähler ist der Bewusstseinsstrom des Studenten, den dieser in der Fiktion, sein ›Ich‹ nämlich in ein ›Er‹ erzählerisch transponierend, als Fiktion aufgezeichnet hat und von daher nur als ein metaphysischer Scherz aufzufassen ist. Diese Lesung lässt sich durch weitere Indizien stützen. Der Student tritt eine Reise an, die völlig unsinnig und folglich ›ziellos‹ ist, weil er sich bereits entschlossen hat, das Seminar, zu dem er angeblich »muss« (vgl. 121), zu schwänzen. Warum fährt er dann überhaupt nach Zürich? Doch offenbar nur darum, um eben dieses Erlebnis des Schrecklichen nicht zu versäumen, das der Fahrt plötzlich ›Sinn‹ verleiht. Hinzu kommt, dass der Student – und dies ist doppelt betont – »nebulose Studien« (119) bzw. ›verworrene Studien‹ betreibt, »die ihm niemand recht glaubte« (121), was darauf verweist, dass der Student sein Studium nicht dazu nutzt, und dies ist ja wohl der übliche Sinn von Studium, sich – in welchem Fach auch immer – rationalen Wirklichkeitserklärungen zu widmen. Er ist vielmehr damit beschäftigt, sich eine irrationale ›Ordnung‹ zuzulegen, was nochmals das Fiktionale der Erzählung betont: »alles, was er tat, war nur ein Vorwand, hinter der Fassade seines Tuns Ordnung zu erlangen, nicht die Ordnung selber, nur die Ahnung einer Ordnung, angesichts des 4 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Jan Knopf Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel Reclam Schrecklichen« (121). Diese Ordnung aber hat mit der gewöhnlichen Ordnung, wie sie in der Erzählung durch die Statistik des dicken Mitreisenden, durch die Fahrpläne, durch die ›Normalität‹ des Verhaltens der übrigen Fahrgäste oder durch die Regeln des Schachspiels repräsentiert ist, nichts zu tun.8 Die Frage ist, um welche Ordnung es sich dann handelt. Vermutlich geht es wohl um eine, die zur gewohnten Ordnung buchstäblich auf dem Kopf steht, womit man bei der metaphysischen Komponente des Textes ist. Die Kernstelle lautet: »Der junge Mann war froh, nach der bedenklichen Nähe der Felswände auf etwas gelenkt zu werden, das ihn an die Alltäglichkeit erinnerte, in der er sich noch vor wenig mehr denn einer halben Stunde befunden hatte, an diese immer gleichen Tage und Jahre (immer gleich, weil er nur auf diesen Augenblick hin lebte, der nun erreicht war, auf diesen Augenblick des Einbruchs, auf dieses plötzliche Nachlassen der Erdoberfläche, auf den abenteuerlichen Sturz ins Erdinnere).« (129) Trotz des noch fast jugendlichen Alters des Studenten hat dieser sein Leben in Alltäglichkeit und Immergleichheit verbracht; beides erscheint negativ und pejorativ besetzt und wäre etwa mit Leere und Sinnlosigkeit zu übersetzen. Der Text sagt ausdrücklich, wenn auch durch die Klammern scheinbar nur nebenbei, dass diese Zugfahrt offenbar das eigentliche Ziel und der eigentliche Sinn des Lebens für den Studenten ist. Dem korrespondiert, dass dieser am Ende »geborgen auf der Glasscheibe des Führerstandes lag« (131), also seinen Tod, der gewiss ist, weil die Scheibe zu bersten beginnt, nicht fürchtet, sondern als Geborgenheit annimmt (was – darauf sei nur verwiesen – eine starke Nähe zu Martin Heideggers »Sein zum Tode« bedeutet9). Es ist daher konsequent, wenn der Student auf die Frage des Zugführers, was sie tun sollten, mit »Nichts« (133) antwortet. Er überlässt sich dem Absturz und gewinnt durch ihn Schutz sowie Sicherheit, was ja wohl nichts anderes heißt, als dass der Tod der ›eigentliche Sinn‹ des Lebens ist; er ist das Ziel, auf das hin der Student 5 © 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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