KÜNSTLER FÜR DIE EWIGKEIT

Bregaglia GR
WEEKENDTIPP
Alberto Giacometti formt im Atelier in Stampa eine seiner legendären Büsten.
KÜNSTLER FÜR
DIE EWIGKEIT
Die Giacomettis sollen unvergessen bleiben. Das hat sich ein Verwandter
zur Aufgabe gemacht. In Bregaglia werkt er an einem Centro und mit
Führungen lockt er Ausflügler auf die Spuren der Künstler-Dynastie.
Text Markus Schneider
m
arco Giacometti weiss,
was er gefragt wird,
darum schickt er die Antwort
voraus. Er sei nur entfernt verwandt mit den Künstlern, am
nächsten mit Augusto, einem
Cousin zweiten Grades von Giovanni, der wiederum der Vater
ist von Alberto, dem grössten
Giacomettis aller Gicacomettis.
Kürzlich wurde Albertos Skulptur «Zeigender Mann» in New
York für mehr als 140 Millionen
Franken ersteigert.
Das ist Weltrekord.
Aber auch von Giovanni und Augusto
gibt es inzwischen kein
Gemälde mehr, das unter einer Million zu kaufen wäre.
Ebenso wenig unterschätzt wird
Albertos Bruder Diego.
Jetzt will der entfernte Verwandte Marco (kleines Bild) die
Künstlerfamilie in ihrer Bergeller Heimat in die Ewigkeit retten.
Marco bewohnt im
Dorf Stampa das Geburtshaus von Giovanni, das einmal das
Hotel Piz Duan war. Ein
stattlicher Bau mit freiem
Blick auf die Bergzacken. Der
Saal im Parterre könnte bald ein
Element sein des Centro Giacometti, das Marco eifrig voran
treibt: ein Millionen-Projekt.
Als erste Aktion hat er letztes
Jahr das längst fällige Buch unter
Fotos: Ernst Scheidegger/2015 Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich, Michael Würtenberg, Pro Litteris 2015, Zürich
dem Titel «Die Giacomettis» heraus gegeben. Die nächste Etappe
folgt im Mai 2016 mit der App
«Giacometti Art Walk». Mit dem
Mobiltelefon in der Hand werden sich Touristen auf die Spuren
der Giacomettis machen. Film­
szenen, Originalschauplätze,
Bilder, Anekdoten über Giovanni, Augusto, Alberto, Diego. Mit
30 000 Besuchern jährlich rechnet Marco, wenn «sein» Centro
Giacometti einmal realisiert ist. ➳
Schweizer Familie 36/2015
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WEEKENDTIPP
Bregaglia GR
Das Dorf Soglio
gehört zur Wakkerpreis-gekrönten
Gemeinde
Bregaglia.
Bis es so weit ist, bietet er
Führungen im kleineren Rahmen an. Mich empfängt er in
Vicosoprano. Wir essen im «Corona» frische Rindsleber, beste
Polenta und spazieren nach Borgonovo, wo die Giacomettis begraben sind. Die karge protestantische Kirche beinhaltet einen
einzigen Farbtupfer: eine halbkreisförmige Glasmalerei von
Augusto, natürlich nicht so majestätisch wie Augustos Figuren
im Fraumünster von Zürich.
Ein unbekanntes Werk
Draussen vor der Kirche zeigt
mir Marco das Grab von Gio-
BREGAGLIA/GR
Anfahrt: Via St. Moritz nach
Maloja bis Castasegna.
Mit den SBB und Postauto
von Zürich viereinhalb Stunden Dauer.
Führungen: mit Marco Giacometti oder einer andern
Fachperson, 150 Franken.
Max. 20 Teilnehmer. Dauer
zwei Std; Wanderschuhe.
Daten: In Absprache.
Kontakt:
[email protected]
Allgemeine Auskünfte:
Telefon 081 834 01 40,
www.centrogiacometti.ch
Literatur: «Die Giacomettis», herausgegeben von
Marco Giacometti, Salm
Verlag, 275 Seiten mit
vielen farbigen Abbildungen,
ca. 48 Franken.
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Schweizer Familie 36/2015
Mal-Utensilien im Giacometti-Atelier, einem
Bergeller Stall in Stampa (oben und Mitte).
Ein Werk von Giovanni Giacometti
«Autumn Morning», 1908.
vanni und seiner Frau Annetta.
Davor «enthüllt» er ein Geheimnis: eine echte Skulptur von Alberto, von der bis heute niemand
weiss. Wie könnte es anders
sein? Unter den anderen Grabsteinen fällt dieser Felsbrock
nicht weiter auf. Er ist mit Flechten bewachsen. Und man müsste ihn mit den Fingern abtasten,
um zu erkennen, was Marco interpretiert: «Eine Sonne, ein Vogel, eine Vase als Symbol für das
ewige Leben».
Er führt mich hinüber ins
Wäldchen zu einer dunklen
Höhle im Bündnerschiefer. Für
Alberto war das ein magischer
Ort: «der goldene Monolith».
Hier verwandelte sich der Knabe in einen Bildhauer, der Formen lebendig macht: «Mein
Vater hatte uns eines Tages diesen Felsen gezeigt. Welch eine
ungeheure Entdeckung! Sofort
betrachtete ich ihn als einen
Freund, als ein Wesen, das uns
wohlgesinnt war, das uns rief
und das uns zulächelte wie jemand, den man früher einmal
gekannt und geliebt
hat und den man
überrascht und überglücklich wiederfindet.» Ich
fotografiere.
Hinab gehts über frisch gemähte Wiesen ins Dorf Stampa
zum Atelier von Giovanni, in
dem sein Sohn Alberto seine
ersten Striche gekritzelt und ersten Materialien modelliert hat.
Von aussen ist das ein typischer
Bergeller Stall. Das Tor verschlossen. Drinnen verborgen
sind originale Pinsel neben einem roten Aschenbecher mit
der Aufschrift Coca-Cola samt
einem gelben Paket Gauloises.
Alberto war Kettenraucher, Spuren ausgebrannter Zigaretten
liegen auf dem Holzboden
herum.
Ausgezeichnete Gemeinde
Ob dieses kleine Atelier je einem
breiten Publikum zugänglich
wird? Marco zweifelt, dass der
originale Holzboden so viel Andrang vertragen wird.
Offen ist das Museum Ciäsa
Granda. Eine Dauerausstellung
zur Flora, Fauna, Geologie des
Bergells. Dazu Kunstwerke von
Giovanni, Augusto, Alberto und
Diego. Ein Höhepunkt ist das
faltige Gesicht von Alberto Se­
nior, fein gepinselt von dessen
Sohn Giovanni. Dieses Museum
Granda sei zu klein, findet Marco. Er hat Grösseres im Sinn.
Da passt es, dass die Gemeinde Bregaglia, bestehend
aus den acht Dörfern Maloja
(1800 Meter ü M.), Casaccia,
Vicosoprano, Borgonovo, Stampa, Soglio, Bondo, Castasegna
(680 Meter ü. Meer) am 22. August mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet wurde. Offiziell «für
die Belebung der Baukultur».
Gleichzeitig ist das eine Referenz an die Giacomettis. Warum
kamen die ihr Leben lang immer wieder heim? «Die Berge,
das Licht, die Familie», vermutet Anna Giacometti, die Gemeindepräsidentin von Bregaglia. Weil sie weiss, was sie
gefragt wird, schickt sie die Antwort voraus: sie ist nur entfernt
verwandt mit den Künstlern.
Anna ist die Schwester von
●
Marco.
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finden Sie unter www.schweizer
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Fotos: Michael Würtenberg, Keystone, bridgemanart, Pro Litteris 2015, Zürich