Premiere Zum ersten Mal treffen sich die im Bergell wohnhaften Nachkommen von Alberto Giacomettis Familie vor dessen Atelier in Stampa. Der Maler und Bildhauer ALBERTO GIACOMETTI starb vor 50 Jahren – sein Mythos ist ungebrochen. Er liebte das Bergell und seine Menschen. Spurensuche in der Heimat des Weltstars. Wir Giacomettis SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 101 Nähe und Distanz Giacomettis geheimnisvolle Aura spiegelt sich in seinen Figuren wider. Das Kunsthaus Zürich zeigt noch bis 15. Januar 2017 seltene Meisterwerke. Alberto und Annette Das Paar lebte in Paris, war oft in Stampa zu Besuch. Sie sitzt ihm 1961 im Atelier Modell. Fotos Ernst Scheidegger / Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich, Ullstein Bild © Pro Litteris, 2016 Brandspuren statt Farbklekse Das Atelier blieb so, als wäre der Künstler kurz rausgegangen, um Zigaretten zu holen. «Ich verstehe weder das Leben noch den Tod» ALBERTO GIACOMETTI SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 103 Kachelofen im Elternhaus Alberto, Schwägerin Odette, Ehefrau Annette, die Brüder Diego und Bruno, Neffe Silvio Berthoud und Silvios Frau Françoise feiern Annettas 90. Geburtstag (v. l.). TEXT CAROLINE MICAELA HAUGER FOTOS GERI BORN Fotos Henri Cartier-Bresson / Magnum, Dardofoto / Fondazione Centro Giacometti D as Mittagslicht wirft lange Schatten ins spärlich möblierte Atelier. Alberto sitzt auf einem Hocker und malt. Vor ihm posiert seine Frau Annette. Auf dem Tisch Trockenblumen. Unter der Staffelei fressen sich glimmende Zigarettenstummel ins Holz. Der Kettenraucher wirft sie dutzendfach zu Boden. Als sei jeder Pinselstrich für die Ewigkeit – und das Ausdrücken der Kippen im Aschenbecher Zeitverschwendung. Der Schweizer Maler und Bildhauer revolutionierte mit seinen spindeldürren Figuren die Kunstwelt. Er liess den Menschen durch Raum und Zeit huschen, ihn schrumpfen und die Sockel wachsen. Sein Stil war einzigartig. Avantgarde! In seinen Händen wurde ein Klumpen Ton zum Meisterwerk. Bis heute ist sein Œuvre in den wichtigsten Museen vertreten. 141,3 Millionen Dollar erzielte «Der zeigende Mann» 2015 an einer Auktion. Die höchste Summe, die je für eine Skulptur erzielt wurde. Trotz Ruhm und Ehre brannte sich die Bergeller Heimat in sein Herz ein. Im Schoss der rauen Natur, von windschiefen Häusern, dunklen Tagen und bäuerlicher Mentalität fühlte sich Alberto Giacometti geborgen; hier durfte er Mensch sein. Mehrmals jährlich entfloh er dem hektischen Alltag in Paris, wo er seit 1922 lebte. Tankte in Stampa Kraft nach Krankheiten und Unfällen. Innig war sein Verhältnis zu Mutter Annetta. Die charismatische, elegant gekleidete Frau wurde von allen Don’Annetta genannt. Alberto war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten: Beide hatten das gleiche krause Haar, die typische Giacometti- 104 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE Mutter und Sohn Alberto winkt Annetta auf dem Balkon des Ateliers zu. Schon Vater Giovanni malte hier herausragende Landschaftsbilder. Nase, das dominante Kinn. Und einen melancholischen Blick, der Güte ausstrahlte, aber auch respektvolle Distanziertheit. 50 Jahre nach dem Tod des Weltstars treffen sich erstmals die Nachkommen aus dem Tal zum Fototermin vor dem Atelier. Viele tragen noch den Namen Gia cometti. Initiiert hat die Zusammenkunft Marco Giacometti, 56. Er ist der Gründer der Fondazione Centro Giacometti. Sein 2016 publizierter Bildband «Ich verstehe weder das Leben noch den Tod» im Salm Verlag ist ein fotografisches Kleinod. «Wir alle sind stolz, Teil einer einzigartigen Geschichte zu sein, deren Strahlkraft man erst nach und nach versteht.» Die Feierlichkeiten zum 50. Todestag rückte die Gemeinde in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Ausstellung in der Ciäsa Granda lockte in einem Monat so viele Fans ins Museum wie früher in einem ganzen Jahr. Die älteren Bewohner erinnern sich noch lebhaft an den prominenten Künstler im ausgeleier- u Lebt heute im Elternhaus: Silvio Giacometti (M.) mit Bruder Marco (Fondazione Centro Giacometti) und Schwester Anna (Gemeindepräsidentin von Bregaglia) vor dem Ofen. Fotos Michel Sima / Keystone, Herbert Maeder © Pro Litteris, 2016 u ten Sakko. Er sass vor dem telier in der Wiese und zeichneA te, den Blick gegen Westen gerichtet. Täglich trank Giacometti im Gasthaus Piz Duan, dem Elternhaus, seinen Wein. Das Engadiner Bijou ist noch heute in Familienbesitz. Während seiner Besuche im Bündnerland unternahm Alberto Wanderungen und empfing Freunde wie die Fotografen Henri Cartier-Bresson, Loomis Dean, Ernst Scheidegger. Sie schufen berührende Momentaufnahmen des stillen Stars, der auf dem Zenit seiner Karriere stets beteuerte, erst am Anfang zu stehen. Alberto Giacometti ist ein Wunschkind. Er kommt 1901 in Borgonovo, einem Ortsteil von Stampa, zur Welt. Bruder Diego wird Designer, Bruno Architekt. Schwester Otilia stirbt bei der Geburt ihres ersten Kindes mit 34 Jahren. Albertos Talent wird früh gefördert. Cuno Amiet ist sein Patenonkel, Giovanni Segantini ein enger Freund der Familie. Mit zwölf malt der Knirps seine erste Zeichnung nach einem Kupferstich von Albrecht Dürer und ein Apfelstillleben in Öl. Mit dreizehn verewigt er die Köpfe seiner Brüder in Plastilin – die erste Giacometti-Plastik ist geboren! Nach dem Kunststudium in Genf und Paris fühlt sich Alberto den Surrealisten verbunden. Er knüpft Freundschaften mit Jean-Paul Sartre, Igor Strawinsky, Henri Matisse, Pablo Picasso. 1949 heiratet er die Sekretärin Annette Arm aus Genf – mit der Auflage, dass sie ihn in seinem Künstlerdasein nicht einschränke. In Stampa ist Giacometti ganz für seine hübsche Frau da. In Paris muss sie ihn mit anderen Frauen teilen. Er besucht Bars und Bordelle. Die Gangsterbraut und Prostituierte Caroline wird 1959 seine Muse. Der Künstler ist inzwischen weltberühmt, erhält grosse Summen für seine Arbei106 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE Szenen einer Ehe Giacometti liess sich in s einem Künstlerdasein von seiner Frau Annette nicht einschränken. Er lebte seine Affären aus. Trauerzug Hunderte Menschen begleiten den verstorbenen Bildhauer 1966 zum Friedhof. Bundesrat Tschudi hielt die Abschiedsrede. Der letzte Echte Die GiacomettiSkulptur «Eli Lotar» stand erst auf dem Grab (r.). Heute ist sie im Museo Ciäsa Granda in Stampa zu bewundern. ten. Die Lebensgewohnheiten ändert er nicht. Er isst wenig, trinkt viel, raucht noch mehr. 1962 erkrankt er an Magenkrebs. «Vor allem in den letzten Lebensjahren genoss er die Zurückgezogenheit hier im Dorf», erinnert sich Marco Giacometti. Der Trauerzug am 15. Januar 1966 zum Friedhof ist eindrücklich! Spätestens an diesem Tag dämmert auch dem hintersten Talbewohner, welch Visionär «ihr» Alberto gewesen ist. Bruder Diego lässt dessen letzte Arbeit, die im Pariser Atelier in einen feuchten Lappen gehüllt war, in Bronze giessen. «Eli Lotar» schmückt mit einer Taube kurze Zeit das Grab. Die Taube wird gestohlen. Die kniende Menschenfigur bringt man deshalb vorsorglich ins Talmuseum. Ein Glück: Denn so kommt Stampa doch noch zu einem echten, ihrem einzigen Giacometti! ---------- Alberto Giacometti «Material und Vision. Meisterwerke in Gips, Stein, Ton und Bronze»: bis 15. Januar 2017, Kunsthaus Zürich, www.kunsthaus.ch Schlicht Fast übersieht man die Ruhestätte des Kunstgenies. Noch heute legen seine Fans kleine Steine auf den Grabstein.
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