Jan Knopf Bertolt Brecht: Erinnerung an die Marie A. Reclam Bertolt Brecht: Erinnerung an die Marie A. »Sehr weiß und ungeheuer oben« Von Jan Knopf Bertolt Brecht: »Erinnerung an die Marie A.« 1 An jenem Tag im blauen Mond September Still unter einem jungen Pflaumenbaum Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe In meinem Arm wie einen holden Traum. Und über uns im schönen Sommerhimmel War eine Wolke, die ich lange sah Sie war sehr weiß und ungeheuer oben Und als ich aufsah, war sie nimmer da. 5 2 Seit jenem Tag sind viele, viele Monde Geschwommen still hinunter und vorbei Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen Und fragst du mich, was mit der Liebe sei? 1 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. 10 Reclam Jan Knopf Bertolt Brecht: Erinnerung an die Marie A. So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern. Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer Ich weiß nur mehr: Ich küßte es dereinst. 15 3 Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen Wenn nicht die Wolke da gewesen wär Die weiß ich noch und werd ich immer wissen Sie war sehr weiß und kam von oben her. Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind Doch jene Wolke blühte nur Minuten Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind. 20 Abdruck nach: Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe in 30 Bänden. Bd. 11: S. 92 f. – © 1988 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 2 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Jan Knopf Bertolt Brecht: Erinnerung an die Marie A. Reclam »Sehr weiß und ungeheuer oben« Das Gedicht sei am »21. II. 20 abends 7h im Zug nach Berlin« entstanden, so Brechts Anmerkung zur ersten Niederschrift im Notizbuch von 1920. Der Duktus der Handschrift zeigt, dass die Verse schnell und spontan niedergeschrieben sind. Es gibt nur eine geringfügige Korrektur, das Metrum ist bis auf zwei kleinere Unregelmäßigkeiten genau eingehalten, und das Gedicht weist bereits die weitgehend endgültige Form auf, hat da aber noch die Überschrift »Sentimentales Lied No. 1004«. Später wird es für Publikationen in Zeitungen sowie für die Gedichtsammlung Bertolt Brechts Hauspostille geringfügig bearbeitet und mit einem neuen Titel versehen. Es scheint ein ausgesprochener Geniestreich eines jungen Lyrikers vorzuliegen, der aus einer sentimental-romantischen Stimmung heraus lyrisch sein Herz ausgießt und seine Ergüsse hemmungslos aufs Papier wirft. Erlebnisdichtung pflegen wir dazu zu sagen, auch wenn das Erlebnis länger zurückliegt. Der Anlass ist bekannt: Die Marie A. des Titels soll sich auf Brechts Jugendliebe Marie Rose Aman beziehen. Brecht lernte die Schülerin im Frühsommer 1916 kennen. An den Freund Caspar Neher schrieb er über sie am 18. Dezember 1917: »Ich kann also die Rosemarie nicht mehr küssen (sie hat weiche, feuchte, volle Lippen in dem blassen, durstigen Gesichtchen). Ich kann aber andere küssen, natürlich. Ich sehe 100 Münder vor mir, sie verschmachten ohne meinen Kuß. [. . .] Was sind 100 Möglichkeiten gegen eine Unmöglichkeit.« Marie Aman hat später in Interviews behauptet, Brecht habe ihr die sieben Kinder versprochen, von denen die dritte Strophe des Gedichts spricht. Diese (möglichen) biografischen Bezüge ergeben für die Deutung jedoch kaum Aufschlüsse, zumal sie dem Inhalt widersprechen: Nicht eine bestimmte Person wird erinnert, noch nicht einmal der erfüllte Augenblick der Liebe, sondern lediglich die Wolke, »sehr weiß und ungeheuer oben«, und erst über sie das Liebeserlebnis, dessen 3 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Jan Knopf Bertolt Brecht: Erinnerung an die Marie A. Reclam sprachliche Wiedergabe klischeehaft bis kitschig ist (2 f.). So spricht niemand, der sich lyrisch eine vergangene Liebe vergegenwärtigen möchte. Ein Blick auf den Entstehungszusammenhang hilft jedoch weiter. Da ist zunächst die Vorlage. Wie üblich liegt keine Originalschöpfung Brechts vor, das Gedicht ist vielmehr eine Parodie, und zwar auf einen Schlager der Zeit, Tu ne m’aimais pas von Léon Laroche, vertont von Charles Malo. Das Lied wurde in unzähligen Arrangements bekannt. Die deutsche Fassung läuft unter dem Titel Du hast mich nie geliebt oder unter Verlor’nes Glück. Karl Valentin übernahm den Schlager 1915 in seine Szene Tingeltangel und setzte ihn dort komisch ein: Eine Sängerin versucht vergeblich, durch Valentins aberwitzige Eingriffe behindert, das Lied angemessen, das heißt sentimental und schnulzig, vorzutragen. Mit Valentin war Brecht seit spätestens 1919 bekannt; vermutlich war sein Sketch für Brecht die Quelle (vgl. Hennenberg, S. 26). Die erste Strophe der deutschen Fassung zeigt, wie sehr Brecht dem Schlager verpflichtet ist. Sie lautet: So oft der Frühling durch das offne Fenster Am Sonntagmorgen uns hat angelacht, Da zogen wir durch Hain und grüne Felder Sag, Liebchen, hat dein Herz daran gedacht? Wenn abends wir die Schritte heimwärts lenkten, Dein Händchen ruht in meinem Arm, So oft der Weiden Rauschen dich erschreckte, Da hielt ich dich so fest, so innig warm. Zu jener Zeit, wie liebt ich dich, mein Leben, Ich hätt geküßt die Spur von deinem Tritt, 4 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Jan Knopf Bertolt Brecht: Erinnerung an die Marie A. Reclam Hätt gerne alles für dich hingegeben Und dennoch du – du hast mich nie geliebt! Brecht übernimmt aus dem Refrain den Beginn (»Zu jener Zeit«; 1), der sich im ersten Vers der zweiten Strophe variiert wiederholt (9). Die Formulierungen »Da hielt ich sie« (»Da hielt ich dich«) und »in meinem Arm« sind ebenfalls vorgegeben (3 f.). Auch die Ansprache, der Dialog, in Strophe 2 (12–16) wird dem Schlagertext entnommen. Der Liebesort in der Natur ist ebenso vorhanden, und das Thema ist ohnehin das gleiche, nur eben gewendet. Hinzu kommt, dass Brecht inhaltlich manches umkehrt: Aus dem für die Liebe üblichen Frühling wird September (Herbst; 1), aus dem Sonntagmorgen wird irgendein Tag (1, 9), aus den Weiden der Pflaumenbaum (2), aus dem Spaziergang ein »ruhender« Ort. Formal sind beide Gedichte, Quelle und Brechts Parodie, sieht man vom Refrain ab, den Brecht nicht übernimmt, gleich gebaut. Metrum ist der fünfhebige Jambus, gereimt sind lediglich die Verse 2 und 4 sowie 6 und 8 jeder Strophe. Formal gesehen, liegt mit Brechts Gedicht ein reines Zitat vor. Von hier aus erhält der frühe Titel, »Sentimentales Lied No. 1004«, eine erste Erklärung: nämlich Anspielung auf die Quelle zu sein und sie parodierend zu übernehmen. Ein als sentimental angekündigtes Gedicht setzt den gesamten Text in ironische Anführungszeichen. Die Klischees und das Kitschig-Sentimentale sind folglich einkalkuliert und nicht ganz ernst gemeint. Wenn man weiß, dass es sich um eine Parodie handelt, rückt es weit weg von jeder ›Erlebnisdichtung‹, ganz im Gegenteil: Alles ist bewusst arrangiert und von allem ›persönlichen Ausdruck‹ weit entfernt; es fehlt gerade das, was angeblich Lyrik vor allem auszeichnet: das Subjektive, sein ›Ausdruck‹. 5 © 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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