GA 2015-1 Grundlegendes Anforderungsniveau

Grundlegendes Anforderungsniveau Deutsch. Abiturprüfung 2015
Aufgabe I – Textinterpretation
Aufgabenstellung
1. Interpretieren Sie den Auszug aus Friedrich Hebbels bürgerlichem Trauerspiel
Maria Magdalena.
2. Vergleichen Sie – ausgehend von Ihren Interpretationsergebnissen – den Auszug
aus Hebbels bürgerlichem Trauerspiel mit Goethes Faust. Der Tragödie erster
Teil im Hinblick auf die äußere Situation und innere Befindlichkeit der Figuren
Klara und Margarete.
Material
Friedrich Hebbel: Maria Magdalena. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei
Akten (1844); Auszug aus dem III. Akt, 8. Szene
Klara, die Tochter des Tischlermeisters Anton, erwartet ein uneheliches Kind von
ihrem Verlobten Leonhard, was sie aber ihrem Vater verheimlicht. Dieser hat geschworen, sich umzubringen, wenn seine Tochter ihm ebenfalls Schande bereite, ist
doch sein Sohn Karl – wie sich später herausstellt zu Unrecht – eines Diebstahls verdächtigt und festgenommen worden, woraufhin die Mutter einen tödlichen Schlaganfall erleidet und Leonhard sich von Klara lossagt, um eine gesellschaftlich angesehenere und lukrativere Ehe einzugehen. Klaras verzweifelte Versuche, ihr Kind durch
eine Ehe mit dem ungeliebten Leonhard doch noch zu legitimieren, schlagen fehl.
Der aus der Untersuchungshaft entlassene Bruder Karl eröffnet Klara, dass er die
Familie verlassen und zur See fahren werde.
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[…] KLARA. Und du willst den Vater allein lassen? Er ist sechzig Jahr!
KARL. Allein? Bleibst du ihm nicht?
KLARA. Ich?
KARL. Du! Sein Schoßkind! Was wächst dir für Unkraut im Kopf, dass du fragst!
Seine Freude lass ich ihm, und von seinem ewigen Verdruss wird er befreit, wenn
ich gehe, warum sollt’ ich’s denn nicht tun? Wir passen ein für allemal nicht zusammen, er kann’s nicht eng genug um sich haben, er möchte seine Faust zumachen und hineinkriechen, ich möchte meine Haut abstreifen, wie den Kleinkinderrock, wenn’s nur ginge! (Singt.)
Der Anker wird gelichtet,
Das Steuer flugs gerichtet,
Nun fliegt’s hinaus geschwind!
Sag selbst, hat er auch nur einen Augenblick an meiner Schuld gezweifelt? Und
hat er in seinem überklugen: Das hab ich erwartet! Das hab ich immer gedacht!
Das konnte nicht anders enden! nicht den gewöhnlichen Trost gefunden? Wärst
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du’s gewesen, er hätte sich umgebracht! Ich möcht ihn sehen, wenn du ein Weiberschicksal hättest! Es würde ihm sein, als ob er selbst in die Wochen kommen
sollte! Und mit dem Teufel dazu!
KLARA. O, wie das an mein Herz greift! Ja, ich muss fort, fort!
KARL. Was soll das heißen?
KLARA. Ich muss in die Küche – was wohl sonst? (Fasst sich an die Stirn.) Ja! Das
noch! Darum allein ging ich ja noch wieder zu Hause! (Ab.)
KARL. Die kommt mir ganz sonderbar vor! (Singt.)
Ein kühner Wasservogel
Kreist grüßend um den Mast!
KLARA (tritt wieder ein). Das Letzte ist getan, des Vaters Abendtrank steht am Feuer.
Als ich die Küchentür hinter mir anzog, und ich dachte: Du trittst nun nie wieder
hinein! ging mir ein Schauer durch die Seele. So werd ich auch aus dieser Stube
gehen, so aus dem Hause, so aus der Welt!
KARL (singt, er geht immer auf und ab, Klara hält sich im Hintergrund).
Die Sonne brennt herunter,
Manch Fischlein, blank und munter,
Umgaukelt keck den Gast!
KLARA. Warum tu ich’s denn nicht? Werd ich’s nimmer tun? Werd ich’s von Tag zu
Tag aufschieben, wie jetzt von Minute zu Minute, bis – Gewiss! Darum fort! –
Fort! Und doch bleib ich stehen! Ist’s mir nicht, als ob’s in meinem Schoß bittend
Hände aufhöbe, als ob Augen – (Sie setzt sich auf einen Stuhl.) Was soll das? Bist
du zu schwach dazu? So frag dich, ob du stark genug bist, deinen Vater mit abgeschnittener Kehle – (Sie steht auf) Nein! Nein! – Vater unser, der du bist im Himmel – Geheiliget werde dein Reich – Gott, Gott, mein armer Kopf – ich kann nicht
einmal beten – Bruder! Bruder! – Hilf mir –
KARL. Was hast du?
KLARA. Das Vaterunser! (Sie besinnt sich.) Mir war, als ob ich schon im Wasser
läge, und untersänke, und hätte noch nicht gebetet! Ich – (Plötzlich.) Vergib uns
unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern! Da ist’s! Ja! Ja! ich vergeb
ihm gewiss, ich denke ja nicht mehr an ihn! Gute Nacht, Karl!
KARL. Willst du schon so früh schlafen gehen? Gute Nacht!
KLARA (wie ein Kind, das sich das Vaterunser überhört). Vergib uns –
KARL. Ein Glas Wasser könntest du mir noch bringen, aber es muss recht frisch sein!
KLARA (schnell). Ich will es dir vom Brunnen holen!
KARL. Nun, wenn du willst, es ist ja nicht weit!
KLARA. Dank! Dank! Das war das Letzte, was mich noch drückte! Die Tat selbst
musste mich verraten! Nun werden sie doch sagen: sie hat ein Unglück gehabt!
Sie ist hineingestürzt!
KARL. Nimm dich aber in Acht, das Brett ist wohl noch immer nicht wieder vorgenagelt!
KLARA. Es ist ja Mondschein! – O Gott, ich komme nur, weil sonst mein Vater
käme! Vergib mir, wie ich – Sei mir gnädig – gnädig – (Ab.) […]
Aus: Friedrich Hebbel: Maria Magdalena. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten. Stuttgart
2002, S. 90 – 92.
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Anmerkungen:
Titel:
Anspielung auf Maria Magdalena: Frauenfigur aus dem Neuen Testament; Ehebrecherin,
die gesteinigt werden soll, der Jesus aber verzeiht; der Titel setzt Hebbels Klara mit der
biblischen Figur gleich
Zeile 4:
Schoßkind: Lieblingskind
Zeile 16 f.: Weiberschicksal: eine uneheliche Schwangerschaft
Zeile 33: umgaukeln: sich schaukelnd, spielerisch bewegen
Zeile 40: Geheiliget werde dein Reich: irrtümliche Verschmelzung der ersten und zweiten Bitte des
Vaterunser; richtig: Geheiliget werde dein Name, dein Reich komme […]
Zeile 43: Vaterunser: Grundgebet des Christentums
Zeile 48: überhören: etwas auswendig Gelerntes vor sich hersagen, heute im Sinne von „sich selbst
etwas abhören“
Hinweise und Tipps
r Voraussetzungen
r Die Aufgabe verbindet die beiden Rahmenthemen 1 und 2. Der Szenenausschnitt aus
r Friedrich Hebbels bürgerlichem Trauerspiel „Maria Magdalena“, der die Textr grundlage für die erste Teilaufgabe darstellt, bezieht sich auf Rahmenthema 2
r (Drama und Kommunikation) mit dem Pflichtmodul „Gestaltungsmittel des Dramas“.
r Die in der zweiten Teilaufgabe geforderte intertextuelle Verknüpfung mit Johann
r Wolfgang von Goethes Drama „Faust. Der Tragödie erster Teil“ schlägt einen
r Bogen sowohl zum Wahlpflichtmodul dieses Rahmenthemas als auch zum Rahmenr thema 1 (Literatur und Sprache um 1800).
r Der übergeordnete Operator „interpretieren“ der ersten Teilaufgabe hat seinen
r Schwerpunkt im Anforderungsbereich II, berührt aber in seiner Komplexität auch die
r anderen Anforderungsbereiche. Vorausgesetzt werden die Kenntnis der Grundstrukr turen des traditionellen Dramas (Bauformen und Handlungsverläufe, Prinzip des Anr tagonismus, der dialogisch-argumentativen Auseinandersetzung) sowie Techniken
r der Szenenanalyse (Thema, Ziele, Gesprächsverhalten, Sprache der Figuren u. a.).
r Der Operator „vergleichen“ in Teilaufgabe 2 spricht die Anforderungsbereiche II
r und III an, erfordert also sowohl Kompetenzen aus dem Bereich der Reorganisation
r wie auch des Transfers und der Reflexion.
r Die vorgeschlagene Gewichtung der Teilaufgaben entspricht dem zu erwartenden
r Arbeitsaufwand: Die Interpretationsaufgabe geht mit 60 %, der Figurenvergleich mit
r 40 % in die Gesamtbenotung ein.
r Erläuterung der Aufgabenstellung
r Die Bearbeitung von Teilaufgabe 1 erfordert eine gründliche Textlektüre. Dann
r kommt es darauf an, aus der Vielzahl von Einsichten das Wesentliche herauszukrisr tallisieren und überzeugende Schwerpunkte zu setzen. Dabei sollten Sie immer auch
r die zweite Teilaufgabe im Blick haben. Dies bietet nicht nur den Vorteil, dass die
r beiden Aufgaben besser aufeinander abgestimmt sind, es dient auch der Arbeitsökor nomie, da Sie die Folgeaufgabe indirekt schon „mitbearbeiten“. Stellen Sie insber sondere heraus, wie die Figuren aneinander vorbeireden, z. B. anhand der Begriffe,
r die je nach Figurenperspektive ganz unterschiedliche Bedeutung haben.
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r Für den Figurenvergleich in Teilaufgabe 2 ist es notwendig, die kursiv gedruckten
r Vorbemerkungen mit zu berücksichtigen, da sie wichtige Informationen über die
r Protagonistin des Ihnen vermutlich unbekannten Dramas von Hebbel liefern. Sie
r geben zugleich Auskunft über die vorangegangene Handlung, wodurch Sie Ihre Ger genüberstellung von Klaras und Margaretes äußerer und innerer Situation aspektr reicher gestalten können.
Lösungsvorschlag
Teilaufgabe 1
Die vorliegende Szene leitet zum tragischen Schluss von Friedrich
Hebbels bürgerlichem Trauerspiel Maria Magdalena von 1844
über. Die Protagonistin Klara ist von ihrem Verlobten geschwängert, dann aber von ihm verlassen worden. Noch kann sie ihren Zustand verheimlichen, doch nach bürgerlichen Maßstäben ihrer Zeit
ist sie entehrt. Vor allem könnte sie den moralischen Ansprüchen
ihres Vaters nicht genügen, dessen Lieblingskind sie ist (vgl. Z. 4)
und der die Schande nicht überleben würde. Ein Gegenbild dazu
bildet ihr Bruder Karl, der ein gespanntes Verhältnis zu seinem
Vater hat. Nachdem ein falscher Tatverdacht gegen ihn fallen
gelassen wurde, beschließt er, aus der spießbürgerlichen Enge seines Elternhauses auszubrechen. Diese Möglichkeit steht Klara als
Frau nicht offen. In ihrer prekären Situation sieht sie nur einen
Ausweg: Selbstmord. Den Entschluss, sich selbst zu töten, hat sie
schon vor Beginn der vorliegenden Szene gefasst, doch das Mittel
zur Tarnung als Unfall ergibt sich nun für sie unverhofft im Gespräch mit dem Bruder. Damit steht der Ausführung ihres Entschlusses nichts mehr im Wege.
Der Szenenausschnitt lässt sich in drei Abschnitte gliedern: Der
erste Abschnitt (Z. 1–18), in dem Karl seinen Plan verkündet, zur
See zu fahren, hat argumentativen Charakter. Es geht um die Frage
der Loyalität dem Vater gegenüber, denn Klara erinnert ihren
Bruder an seine Verantwortung für den alternden Vater – eine
Forderung, die dieser erstaunt an seine Schwester zurückgibt. In
einem längeren Abschnitt (Z. 4 –18) begründet Karl seine Position:
Klara sei das Lieblingskind des Vaters, er dagegen nur Ursache
„ewigen Verdruss[es]“ (Z. 5) – somit erweise er seinem Vater
sogar einen Dienst, wenn er das Elternhaus verlasse. Als Ursache
für die ständigen Differenzen führt er die grundlegende Wesensverschiedenheit zum Vater an. Dieser gefalle sich in der Enge,
ihn dagegen ziehe es in die Weite (vgl. Z. 7 ff.). Die selbstgerechte
Schadenfreude des Vaters angesichts der Verdächtigungen, denen
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Einleitung
Verortung der
Szene in Hebbels
Trauerspiel Maria
Magdalena
inhaltliche
Gliederung
1. Abschnitt:
Erklärungen des
Bruders
Karl sich ausgesetzt sah (vgl. Z. 14 f.), ist für ihn nur der Tropfen,
der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wäre Klara Ähnliches
widerfahren, der Vater „hätte sich umgebracht“ (Z. 16). Mit dem
Beispiel, das Karl dabei wählt – eine außereheliche Schwangerschaft („Weiberschicksal“, Z. 16 f.) –, trifft er unbewusst ins
Schwarze und versetzt Klara in eine innere Erregung, die den
nächsten Abschnitt beherrscht.
Dieser zweite Abschnitt ist am umfangreichsten (Z. 19 – 48). Das
Aufeinanderprallen zweier ganz verschiedener Erlebenshorizonte,
das sich im ersten Abschnitt bereits angedeutet hatte, prägt den
Mittelteil nachhaltig. Die Kommunikationsbasis zwischen den Geschwistern ist so brüchig, dass die Gesprächsäußerungen meist
unverbunden nebeneinander herlaufen. Von einem Dialog kann
kaum noch die Rede sein. Den größten Teil (20 Zeilen) nimmt das
Beiseitesprechen Klaras ein. In höchster Gewissensnot reflektiert
sie ihre Lage (vgl. Z. 21 f., 26 – 29, 43 – 46), prüft ihre Handlungsmöglichkeiten (vgl. Z. 34 – 39) und flüchtet sich verzweifelt ins
Gebet (vgl. Z. 39 – 41, 43 ff., 48). Aber auch Karl ist überwiegend
mit sich selbst beschäftigt. Er verleiht seiner Vorfreude auf ein
neues, freies Leben Ausdruck im Liedgesang (vgl. Z. 24 f., 31 ff.,
zuvor bereits Z. 10 ff.) und nimmt von Klara nur flüchtig Notiz
(vgl. Z. 20, 23, 42, 47). Zu einem Dialog zwischen den Geschwistern kommt es in lediglich acht Zeilen (vgl. Z. 19 – 21, 41– 43, 46 f.),
ohne dass dieser jedoch zu gegenseitigem Verständnis führt.
2. Abschnitt:
Klara steckt in einem Dilemma: Entweder sie entscheidet sich
weiterzuleben, bringt das uneheliche Kind zur Welt und treibt
dadurch den Vater in den Verzweiflungstod; oder sie begeht Selbstmord und wird so auch zur Mörderin an ihrem ungeborenen Kind,
aber der Vater wird geschont. Unter Gewissensqualen ringt sie sich
zur zweiten Option durch (vgl. Z. 38 f.), doch diese ist in doppelter
Hinsicht problematisch: Als Kindsmörderin hätte sie eine schwere Sünde begangen und müsste sich vor Gott rechtfertigen (vgl.
Z. 43 f.). Außerdem müsste die Zusatzbedingung erfüllt sein, dass
die Tat nicht nach Selbstmord aussieht und einem Schuldeingeständnis gleichkäme (vgl. Z. 52 ff.). Sie versucht sich mit einem
Analogieschluss zu behelfen, den sie aus der fünften Bitte des
Vaterunsers ableitet: So wie sie ihrem untreuen Verlobten vergeben
hat (vgl. Z. 45 f.), hofft sie, dass Gott ihr gleichfalls vergeben wird;
und indem sie sich seinem Richterspruch stellt, vollbringt sie ein
Opfer anstelle ihres Vaters, der zum Selbstmörder geworden wäre, falls man ihre Schwangerschaft aufgedeckt hätte (vgl. Z. 56 f.).
äußeres und
inneres Dilemma:
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Klaras verzweifelte Rede
Klaras Handlungsoptionen