Essay: Warum hat die Pflegeselbstverwaltung versagt? Für die

Essay: Warum hat die Pflegeselbstverwaltung versagt?
Für die personelle Ausstattung der Pflegeheime ist nicht die Bundesregierung zuständig und
auch nicht die Landesregierung. Vielmehr besagt der §75 des Sozialgesetzbuches XII
(=Pflegeversicherung), dass folgende Gruppen dafür eine Regelung finden sollen:
1. Die Träger der Heime, das sind die Wohlfahrtsverbände (Caritas, Diakonie, DRK, AWO,
Parität. Wohlfahrtsverband, …) und die privaten Pflegeanbieter, vertreten durch den bpa.
2. Die Sozialhilfeträger
3. Die Pflegekassen
Auf Länderebene haben die Wohlfahrtsverbände, der bpa, die Sozialhilfevertreter und die
Pflegekassen dabei - fast etwas obrigkeitshörig - stets nach OBEN, darauf geschaut, was an
Geld vom Gesetzgeber einfließt, und dann darunter in den Verhandlungen mit den
Kostenträgern ihre partiellen Interessen vertreten.
Und eines gleich vorweg: Sie haben dabei die Realität und die am Pflegeprozeß Beteiligten,
nämlich Pflegebedürftige und Pflegemitarbeiter, vollends aus den Augen verloren.
Speziell die konfessionellen Träger haben ihre eigenen Mitarbeiter nicht ernst genommen,
ihnen Desorganisation, fehlende Kompetenz und fehlende Leistungsbereitschaft
vorgeworfen. Und wo sie die Gründe für zunehmend roten Zahlen und Missmanagement
nicht klar einzuordnen wussten, haben sie an die „Berufung“ oder an ihre „Nächstenliebe“
appelliert. Ganz zum Schluss, als sich die Berufsflucht in Form von erhöhter Abbruch- und
Krankheitsquote oder Abwanderung zeigte und auch kaum noch Nachwuchs zu gewinnen
war, wurde den Verbliebenen, die es wagten zu jammern und zu klagen oder gar eine
Überlastungsanzeige aufzugeben, aus den mittleren, vom neoliberalen Geist infizierten
Leitungsetagen heraus, gern mal zugerufen, dass sie ja wohl vorher schon wussten, was der
Beruf bedeute. Zynismus pur.
Geglaubt haben alle an der Pflegeselbstverwaltung Beteiligten eher und vor allem der - oft
geschönten - Dokumentation, für die sie alles auffuhren, und den Noten des Pflege-TÜVs.
Weggeschaut haben sie, wenn es um die wirklichen Prozesse ging. Weggehört haben sie,
wenn die Pflegekräfte stöhnten oder sich krank meldeten, legten Ihnen sogar DAS noch zur
Last. Und sie vergaßen am Ende auch noch, einmal genau nachzurechnen und die Zahlen der
Verhandlungspartner (bzw. -gegner) zu belasten und ihnen in den Verhandlungen fachlich
und rechnungstechnisch entschieden entgegen zu treten.
Sie verloren sämtliche kritische Draufsicht. Die Zahlen dominierten. Die betroffenen
Menschen verblassten dahinter. Einem demenzkranken Menschen mit Schluckstörungen
mehrfach am Tag das Essen reichen: Ob das innerhalb der Zeitvorgaben ÜBERHAUPT
MÖGLICH (billig) war, dazu ließ sich niemand herab, es zu denken, geschweige denn
nachzufühlen, nachzuerleben. Den Verantwortlichen der Trägerverbände gefielen ExcelTabellen, aber sie verstanden sie schlechter zu nutzen als die Kassenvertreter.
Überaus sachlich blieb das Bild des Essenreichens ausgeblendet. („Bloß jetzt nicht emotional
werden!“) Die Rahmen (Personalschlüssel, Pflegekassenbeiträge) galten uneingeschränkt,
wurden nicht in Frage gestellt. Kaum einer Branche kann man hier derart viel Borniertheit
und Unreflektiert gepaart mit Sprachlosigkeit attestieren wie der Pflegebranche.
Sie fragten sich - vielleicht, aber eher nicht: Gibt es in der Pflege einen Pflegesatz, zu dem
man zwar anbieten könnte, aber zu dem man nicht mehr anbieten will, weil das ansonsten
Arbeitsbedingungen bedeuten würde, die man mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren
kann? Dabei konnten die Pflegemitarbeiter das im Rahmenvertrag Geforderte schon längst
nicht mehr einhalten! Diese Billigkeitserwägung kamen ihnen aber nicht in den Sinn.
Immer hielt man sich an die Regeln und kämpfte um Kompromisse, sah darin seine Aufgabe,
mehr nicht. Mehr konnte man nicht tun! Konnte man nicht? Doch man musste sogar! Aber
was hielt sie davon ab? Diese Ohnmacht ist fast nicht zu erklären. Vielleicht, weil jeder dem
anderen (Verband) da die Vorreiterrolle, den möglichen faux pas, überlassen wollte?
Vielleicht diese Erklärung: Wird die Uneinigkeit der Wohlfahrtsverbände genährt von
Glaubensfragen und Eitelkeiten, wer nun der Beste und Gerechteste unter Ihnen sei?
Die Rahmenvorgabe von oben, die sozusagen in die Rahmenverträge der Länder einfloss, ist
zunächst einmal der Beitrag der Pflegekassen für stationäre Pflege (§ 43 SGB XII) je nach
Pflegestufe. Diese war fix (=gedeckelt). Daher konnte das Interesse der Pflegekassen nur
sein, dass möglichst wenig Menschen in Heime kommen und/oder hochgestuft werden. Und
genau so verhielten sie sich.
Die Rahmenverträge wurden Anfang der 90-er Jahre geschmiedet, zu einer Zeit, da es
deutlich weniger demenzerkrankte und multimorbid erkrankte Menschen gab als heute; zu
einer Zeit, da die Auswirkungen der Krankenhausreformen noch nicht spürbar waren.
Diese Rahmenverträge wurden später nie nachkorrigiert oder grundsätzlich in Frage gestellt.
Und hier beginnt die Verantwortung für die Beteiligten, allen voran der Wohlfahrtsverbände.
Wohl wissend um die Arbeitsverdichtung und die sich verschlechternden Bedingungen und
die steigenden Preise für die Betreibung ihrer Einrichtungen beugten sie sich in den
Verhandlungen stets dem Diktat der gedeckelten Zahlen (=Personalschlüssel, Beitragsgrößen
der Pflegekassen), ließen sich schließlich auch noch blenden von den Ergebnissen des
Pflegeneuausrichtungsgesetzes.
Dabei übersahen sie auch - häufig gar nicht selbst aus den Pflegeberufen stammend (Die
Geschäftsführer von Einrichtungen und die Verbandsvertreter sind oft keine Pflegekräfte!) fachlich fatale (Fehl)Entwicklungen wie die Taylorisierung (Zersplitterung entgegen dem
Ganzheitsdenken in der Pflege) der Arbeitsprozesse sowie der weiteren Versuche, mit
möglichst wenig Ausgaben Leistungen anzubieten. Die Einführung der sogenannten 87bKräfte ist hierfür ein Beleg. Schafft sie zwar vordergründig gewisse Entlastungen, produziert
sie aber – nur für den Fachmann erkennbar! – neue Probleme. Pflegefachlich unsinnig, aber
nunmehr nicht mehr umkehrbar.
Am Ende haben sie dann auch noch die Interessen der Bewohner und deren Angehöriger in
deren Rolle als Kostenträger nicht wirklich gewürdigt! Sie hätten der Bevölkerung sagen
können, dass und welchen Preis Pflege hat! Transparenz halt. Auch das haben sie
unterlassen, wollten sich nicht in die Karten gucken lassen.
Aber m.E. noch schlimmer: Sie schoben die Rote Karte nicht in Richtung Regierung und
Politik, die ja gefordert waren, mehr Geld über die Pflegekassen ins System zu spülen. Im
vorauseilendem Gehorsam antizipierten sie die Antwort, ohne sie zu erwarten. Es sei nicht
genügend Geld (Pflegeversicherungsbeitrag) da und im Übrigen könne man sich ja privat
versichern. Aber damit wird nicht der gestiegene Pflegebedarf ausgeglichen. Die
Personalstellen bleiben gleich, die Leistungen aber sollen steigen. Wer soll diese der
Bevölkerung versprochenen Mehr-Leistungen denn erbringen, wenn es nicht als bezahlte
Mehr-Arbeit (=mehr Stellen) bei den Pflegenden ankommt?
Von Caritas und Diakonie zumindest hätte man erwarten dürfen – ja müssen, dass sie sich im
Sinne von christlicher Nächstenliebe, von Gerechtigkeit und Billigkeit, als Anwalt von
Gepflegten und Pflegenden verstehen, ihre Interessen als Sprachrohr nach OBEN vertreten.
„Der Begriff der Gerechtigkeit … bezeichnet einen idealen Zustand des sozialen
Miteinanders, in dem es einen angemessenen, unparteilichen und einforderbaren Ausgleich
der Interessen und der Verteilung von Gütern und Chancen zwischen den beteiligten
Personen oder Gruppen gibt.“ (Wikipedia, Hervorhebung von mir!) Billigkeit steht seit alters
her ergänzend neben der Gerechtigkeit und sie ist der zielgenauere Part der Gerechtigkeit.
Gottes Gerechtigkeit hat im Alten Testament nicht nur eine rein ethische, sondern eine
stabilisierende und fürsprecherische Funktion. Haben die konfessionellen Träger sogar ihre
Herkunft vergessen?
Die Rahmenverträge hätten MEHRFACH gekündigt werden müssen. Das wären ernsthafte
Signale gewesen. Nichts dergleichen. Die Bundes- und Länderregierungen konnten sich
freuen, dass nichts (wirklich Druckvolles) geschah. Die Pflegeselbstverwaltung blockierte sich
auf allen Ebenen gegenseitig und der Gesundheitsminister kam nicht in die Verlegenheit,
Korrekturen bei den Pflegekassenbeiträgen vorzunehmen, die er dann der Bevölkerung und noch schlimmer! - den Lobbyisten hätte erklären müssen.
Und nun setzt das PSG II noch dem Ganzen die Krone auf. Die Einrichtungen werden in den
Pflegegraden 1-3 Verluste haben, die dazu führen werden (ja sie sollen es!), dass nur noch
Schwerstpflegebedürftige in die Heime kommen, so dass die Pflegekräfte unter noch
härteren Bedingungenwerden arbeiten müssen.
Wenn für die Zuordnung der Personalschlüssel zu den neuen Pflegegraden (1-5) nicht
speziell für die Grade 4-5 DEUTLICHE Korrekturen im Zuge der Rahmenverträge verhandelt
werden, dann ist der Kollaps vorprogrammiert.
Regierungsverantwortlichen (wie Frau Rundt und teilweise Herrn Laumann) ist mittlerweile
klar, dass hier Handlungsbedarf, besser Einschreitungs-Bedarf, von Seiten der politisch
Verantwortlichen, besteht. Wenn sich aber die Wohlfahrtsverbände und der bpa hier nicht
einig werden und deutlich verbesserte Personalschlüssel erstreiten, auch wenn das eine
erhebliche Steigerung der Pflegesätze zur Folge hat, dann dürfte das - hoffentlich - das Ende
der Pflegeselbstverwaltung bedeuten.
Das Interesse der Sozialhilfeträger war es, ihre Ausgaben für Pflege in den Heimen
angesichts steigender Zahlen, derjenigen, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Pflege(sätze)
selbst zu bezahlen, möglichst gering zu halten. In Pflegesatzverhandlungen versuchten sie
also so zu steuern, dass Pflegesätze möglichst niedrig (=bezahlbar) blieben. Hier tragen die
Heimaufsichten als indirekte Repräsentanten der Sozialhilfeträger an der fatalen Entwicklung
eine gewisse Mitschuld. Und wieso sind Mitarbeiter der Heimaufsicht nicht vom Fach – aus
der Pflege nämlich?
Aber paradoxerweise hatten auch die Träger ein Interesse, dass die Pflegesätze nicht zu hoch
ausfielen, damit einerseits genügend Nachfrage für ihre Heimplätze blieb und andererseits
sie mit Preisvorteilen eine Nachfragevorteil gegenüber –illegalen und lokalen - Konkurrenten
erzielen konnten. In diesem Rennen waren die Wohlfahrtsverbände mit ihren
tarifgebundenen Löhnen und einer Mitarbeiterschaft mit eher hohen Beschäftigungsjahren
deutlich im Nachteil. Speziell die konfessionellen Träger von Pflegeeinrichtungen waren also
bisher Getriebene in einer Entwicklung, die primär auf Kostensenkung bzw.
Kostenstabilisierung ausgerichtet ist. Diesen von außen kommenden Druck der Kostenträger
mussten sie nach innen in ihren Einrichtungen weiterreichen. Immer mehr Träger gerieten in
den Abwärtssog innerhalb der Pflegebranche, betriebswirtschaftlich einerseits verständlich,
für die Branche insgesamt hingegen eine Katastrophe.
"Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte.“ (Lk 17,10)