INTEGRIERT DIE SUCHTKRANKEN IN DIE NORMALE MEDIZIN!

INTEGRIERT DIE SUCHTKRANKEN IN DIE NORMALE MEDIZIN!
„Psycho-soziale und ärztlich-medizinische Versorgung“
aus Sicht der Praxis
Vortrag von Dr. med. Albrecht Ulmer am 10.6.2015
An den Vortrag aus Basel knüpfe ich gerne an. Vor etwa 15 Jahren sind wir
Stuttgarter Substitutionsärzte nach Basel gefahren, um uns mit den dortigen
Kollegen zu treffen. Wir haben schon damals nicht schlecht gestaunt. Während
es in Stuttgart etwa 10 Substitutionspraxen gab, gab es damals in Ba sel, das
etwa halb so viele Einwohner hat, etwa 250! Dort war die Substitution in der
normalen Hausarztmedizin verankert. Daneben gab es Spezialambulanzen für
die Ersteinstellung und die schwierigen Fälle. Aber die Basisversorgung , das
Gros der Substitution wurde von allen Hausärzten geleist et.
Deutschland hat das immer anders gesteuert. Der Vergleich war uns nicht so nderlich wichtig. Aber das ist eine zentrale Frage: Wollen wir Menschen mit einer
Suchtkrankheit helfen, im gleichen Behandlungssystem wie alle anderen int egriert behandelt zu werden, oder wollen wir sie diskriminiert in speziellen Stru kturen von der Gesellschaft separiert halten? Eine Frage, mit der wir uns viel zu
wenig auseinandersetzen.
Vor kurzem haben wir des Holocaust-Endes vor 70 Jahren gedacht. Dabei stand
im Focus, dass es bald keine lebenden Zeitzeugen mehr gibt.
Ich weiß, den unvorstellbaren Wahnsinn des Holocausts zum Vergleich zu ne hmen, ist immer höchst sensibel. Parallel zu dieser Betrachtung ist aber: Es gi bt
hier bald keinen Arzt mehr, der noch die Erfahrung bezeugen kann, dass Substitution bei ganz normalen Hausärzten ohne besondere Spezialisierung hervo rragend aufgehoben ist. Es war die Region Stuttgart, die das bewiesen hat.
Intention war genau: Menschen mit einer Suchtkrankheit genauso ins allgemeine Gesundheitssystem integrieren wie Menschen mit allen anderen Krankheiten.
Heute klingt das rückwärtsgewandt. Ich spreche von längst vergangenen Ze iten.
Tatsächlich ist das aber eine immerwährende Frage, an der sich Lebensqualität
und Teilhabe oder Diskriminierung dieser Menschen entscheidet.
Politik, Kammern und Verbände haben Normalität verhindert. Mit fragwürdigen
Qualitätsanforderungen, Verboten und Regeln wurde es den Hausärzten ve rwehrt, die Suchtmedizin in ihr Repertoire zu Integrieren.
Wir haben ähnlich gute Ergebnisse bezüglich HIV, Hepatitis und Entkriminalisi erung, wie sie eben aus der Schweiz gezeigt wurden. Das ist alles wirklich vo rzeigbar und beeindruckend. Aber schauen wir uns die Menschen an , wie es
ihnen mit dieser Behandlung geht, so müssen wir feststellen: Die Ergebnisse
vielfach - abscheulich.
Substitution ist schon heute fortgeschritten ein Angebot von Zentren und Ei nrichtungen, die genauso aus der normalen Versorgung ausgesondert sind wie
die von der Gesellschaft weit ausgesonderten Fach kliniken.
Diese Struktur bedeutet eine Konzentration der Patienten, die ihnen nicht gut
tut – sie erzeugt diskriminierendes Misstrauen, die Struktur mehr als das immer
wieder angeprangerte Verhalten der Abhängigen.
Die Struktur bedeutet w eite Wege für die Betroffenen, die ihnen nicht gut tun.
Ich kenne einen Methadonpatienten in Leutkirch, der sich mit der einzigen Är ztin in Leutkirch nicht versteht. Als Alternative hat er nur, eineinhalb Stunden pro
Richtung nach Ravensburg oder nach Kempten zu fahren! W as ist das für eine
Struktur? Da kann die psychosoziale Betreuung in Kempten, wo er jetzt hinfährt,
noch so gut sein. Die Tatsache, dass täglich einen halben Tag nur fürs Meth adon-vor-Augen-Schlucken aufzuwenden einfach Mist ist, kann das bei weitem
nicht aufwiegen. Oder wir hören von Patienten, die von Tuttlingen nach Straßburg pilgern, nur um an ein Substitut zu kommen.
Viele Patienten müssen in solcher Struktur ihr Substitut einmal täglich schlucken, was ihnen nicht gut tut. Pharmakologisch ist das viel schlechter als
mehrmals täglich. Wo in der Medizin leisten wir uns so „schlechte“ Behandlu ngen?
Noch einmal: Mir ist voll bewusst , wie höchst sensibel es ist, irgendetwas mit
dem Holocaust zu vergleichen. Trotzdem: Ich bin eng befreundet mit dem jüd ischen, jahrzehntelangen Papst der Methadontherapie, Dr. Newman, dessen
Großvater ein Holocaust-Opfer war. Er befürwortet sehr, dass wir mit Vergleichen Anfängen wehren:
Konzentration – allein bei diesem Wort müssen bei uns alle roten Warnlampen
glühen! - bedeutet immer Diskriminierung! Verbunden mit einer Reihe von
Rechtseinschränkungen und Verboten eine gefährliche Mischung – weit weg
von optimal menschenwürdiger Behandlung!
Vielleicht denken Sie: Psychosoziale Betreuung können wir viel besser an gr ößeren Einrichtungen gewährleisten.
Natürlich brauchen viele Patienten viele psychosoziale Hilfen. Und keine Frage:
Auch für uns Ärzte ist es viel schöner, interdisziplinär zusammenzuarbeiten.
Das gilt aber für die ganze Medizin. Auch in der Geriatrie und vielen and eren
Feldern braucht es erhebliche psychosoziale Hilfen. Doch nirgends wird es so
gebetsmühlenartig betont wie hier, und damit wird hier das Bild von einer unnatürlich komplizierten Behandlung ge malt, auch als Argument, immer mehr Einrichtungen zu schaffen, weil nur die so etwas stemmen können.
Je mehr Einrichtungen aber geschaffen sind, desto mehr müssen die alle dann
auch immer für sich selbst argumentieren, und umso wichtiger ist es, dass wir
immer eine starke gesellschaftliche Wachheit dagegenhalten: Re alisieren wir so
wirklich am meisten, was wir alle eigentlich wollen?
Unsere Abhängigen haben jedenfalls ein eigentliches Recht auf viel mehr normale Behandlung als wir ihnen zubilligen.
Wir versündigen uns ihnen gegenüber, was das anbetrifft, seit Jahr zehnten.
Deshalb plädiere ich für eine umkehrende Besinnung: Was wollen wir wirklich?
Wollen wir wirklich diskriminieren?
Eine Integration einer stark interdisziplinär aufgestellten Suchtmedizin ins no rmale medizinische System wäre bei gutem Willen leicht möglich.
Wir klagen über den Mangel an suchtmedizinisch engagierten Ärzten. Warum
verlässt in Baden-Württemberg nicht jeder Medizinstudent die Universität mit
voller Qualifikation, Suchtkranke zu behandeln? Gehört das denn nicht in die
Ausbildung zum Mediziner? Wollen wir eine der wichtigsten Krankheiten au sklammern oder nicht?