Ausbildung ohne Wert? | Manuskript Ausbildung ohne Wert? Bericht: Oliver Matthes Hausbesuch mit Barbara Leonhardt. Die 59-jährige Leipzigerin ist auf den Weg zu einem Klienten. Seit zwölf Jahren arbeitet sie als gesetzliche Betreuerin, eine Art Vormund. Barbara Leonhardt: Schönen guten Tag. Gehen Sie rein, Herr Wiedemann. Machen Sie den Fernseher mal kurz aus, sonst können wir uns ja gar nicht richtig unterhalten. Der alkoholkranke Frührentner braucht die Hilfe von Barbara Leonhardt bei Behördenangelegenheiten und bei den Finanzen. Ohne sie würde er wohl wieder auf der Straße landen. Einmal hat er seine Wohnung schon verloren. Barbara Leonhardt, seit zwölf Jahren Betreuerin Wir organisieren das Leben unserer Betreuten. Von allen möglichen Anträgen, die wir stellen. Arbeitslosengeld II, Wohngeld, Grundsicherung, Hilfe zur Pflege. Es ist ein breites Spektrum, was wir im Prinzip mit unserer Arbeit abdecken. Leonhardt: So ich habe ihnen noch 20 Euro noch mitgebracht, Herr Wiedemann. Da brauche ich eine Unterschrift. Wiedemann: Ja, das ist gut. Leonhardt: Was? Wiedemann: Ja. Leonhardt: Das Geld? Wiedemann: Ja, sehr gut. Da kann ich gleich Zigaretten holen. Für rund 50 Betreute ist Barbara Leonhardt derzeit verantwortlich und begleitet sie auch auf Behörden. Ihr Verdienst: theoretisch 44 Euro die Stunde. Davon gehen jedoch die Kosten für Büro, Auto und Versicherungen ab, und nicht alle Stunden werden bezahlt. Trotzdem ein ordentlicher Verdienst. Vor zwei Jahren jedoch kürzt ihr das Leipziger Amtsgericht den Stundenlohn um rund 40 Prozent. Barbara Leonhardt Die Rechtspfleger, die unsere Vergütungsanträge prüfen, haben mich runtergestuft von 44 Euro auf 27 Euro. Das ist nicht einmal der Ausbildungsgrad eines Facharbeiters. Also eigentlich ohne Abschluss, ohne Ausbildung. Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig. 1 Ausbildung ohne Wert? | Manuskript Dabei ist Barbara Leonhardt hoch qualifiziert. Nach ihrer Berufsausbildung zur Wirtschaftskauffrau 1974 studierte sie Ingenieurökonomie an einer Fachhochschule – in der DDR. Zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde im Einigungsvertrag festgelegt, dass die Mehrzahl der DDR-Berufs- und Hochschulabschlüsse den westdeutschen Abschlüssen gleichgestellt werden. DFF 1991 Im Oktober dann fasste die Konferenz der Kultusminister der deutschen Länder auf Drängen der sächsischen Staatsregierung den Beschluss, alle bis zum Tag der Deutschen Einheit erworbenen Bildungsabschlüsse an Fach- und Ingenieurschulen denen der westdeutschen Fachhochschulen gleichzustellen. Das sächsische Kultusministerium stellte auch den Abschluss von Barbara Leonhardt als Ingenieurökonomin einer westdeutschen Diplombetriebswirtin gleich. Zehn Jahre lang erhält sie daraufhin den höchsten Vergütungssatz, bis sie vom Leipziger Landgericht zurückgestuft wird. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil geprüft und letzte Woche bestätigt. Begründung: die DDR-Studieninhalte seien nicht für den Betreuerberuf geeignet. Barbara Leonhardt Also mich macht das schon sehr wütend, dass 25 Jahre nach der Wende, kann man ja sagen, dieser Abschluss jetzt auf einmal nichts mehr wert ist. Dass ich zehn Jahre hier gearbeitet habe und jetzt wird mir das hier im Prinzip gekürzt, obwohl ich in dieser Zeit immer mehr Erfahrungen dazugelernt hab. So wurden Hunderte ostdeutscher Betreuer mit DDR-Abschluss von den Gerichten zurückgestuft. Allein in Sachsen sind laut Justizministerium 78 Betreuer betroffen. Doch es wird noch drastischer. Barbara Leonhardt musste sogar Teile ihres Gehaltes zurückzahlen. Fred Fiedler, Sächsischer Landesgruppenchef des Berufsbetreuerverbandes kritisiert, dass ihre DDR-Biographien den Kollegen nun zum Verhängnis werden. Fred Fiedler, Landesgruppenchef des BdB Manche Gerichte gehen von 18 Monaten aus. Es gibt aber auch Rückforderungen von vier Jahren. Und das ist für die Kollegen die sichere Insolvenz. Das ist eine riesengroße Katastrophe. Das müsste man sich einfach mal vorstellen in der Wirtschaft, das müsste man sich in der öffentlichen Verwaltung vorstellen, was es da für einen Aufschrei geben würde. Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig. 2 Ausbildung ohne Wert? | Manuskript Nicht einmal Übergangsregelungen für DDR-Diplome und Berufsabschlüsse gibt es. Der sächsische Justizminister fühlt sich an den Beschluss des Bundesgerichtshofs gebunden. Ihm zufolge gibt es nur eine Lösung: Noch einmal studieren. Sebastian Gemkow, Staatsminister der Justiz Sachsen Bis zum heutigen Tag haben Berufsbetreuer die Möglichkeit, nebenberuflich eine Qualifikation an einer Fachhochschule zum Beispiel zu erwerben und damit letztlich in die höchste Vergütungsstufe eingeordnet zu werden. Wie das die Mitte 50-Jährigen neben ihrer Vollzeit-Beschäftigung bewerkstelligen sollen – das lässt der Justizminister offen. Der Gewinner bei den Rückstufungen sind die Landesjustizkassen. Der Staat spart. Und obwohl Barbara Leonhardt nun juristisch als ungelernt gilt, betreut sie weiterhin dieselben komplizierten Fälle wie vorher. Bei Gericht weiß man ihr Knowhow zu schätzen, nur will man es eben nicht bezahlen. Für Peter Winterstein, ehemaliger Oberlandesrichter und Betreuungsexperte, ist das problematisch. Eigentlich sollte nur die Leistung für den Betreuten zählen. Peter Winterstein, ehem. Oberlandesrichter und Präsident des Betreuungsgerichtstages Da wird ja auch deutlich, was für ein widersprüchliches Vergütungssystem das ist. Im Grunde wird doch Betreuter zu Betreuer ausgewählt. Die müssen zueinander passen. Und wenn das ein Betreuer ist, der mit komplizierten, schwierigen Menschen gut zurecht kommt, dann kommt es nur sekundär darauf an, was für einen formalen Abschluss er hat, sondern ich als Gericht gucke, ob der geeignet ist für diesen Menschen. Neben Barbara Leonhardt wurden im Leipziger Betreuungsverein zwei weitere Kolleginnen mit DDR-Abschluss heruntergestuft. Für alle gibt es nun nur zwei Optionen. Entweder sie übernehmen viel mehr Fälle oder sie geben ihren jetzigen Beruf auf. Denn mit dem geringen Netto-Verdienst trotz unzähliger Weiterbildungen sind die Frauen nicht zufrieden. Christine Koch, seit 12 Jahren Betreuerin Ich kann es nicht nachvollziehen, dass wirklich nach mehreren Jahren arbeiten, so eine Einschätzung gemacht wird. Wenn man von Anfang an wüsste, gut, deine Ausbildung zählt nicht. Du kannst hier nur mit diesem Schlüssel eingestellt werden, dann kann man damit leben. Aber wenn man nach Jahren diese Degradierung bekommt. Das tut schon weh, finde ich. Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig. 3
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