Untersuchung in silico - ECV Editio Cantor Verlag Aulendorf

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Aus Wissenschaft und Forschung
Dr. Manfred Reitz
.
Weimar
Untersuchung in silico
Jeder, der sich mit den Lebenswissenschaften beschäftigt, kennt sowohl
Untersuchungen in vivo als auch in
vitro. In vivo beschreibt Analysen am
lebenden Organismus, wobei meist
ausgewählte Tiere oder Pflanzen als
Modelle herangezogen werden. Diese
Modelle dienen als Grundlage für Verallgemeinerungen, die bei allen intakten Organismen gelten. In vitro dagegen beschäftigt sich mit Analysen von
Zellkulturen aus menschlichen, tierischen oder pflanzlichen Organismen
sowie aus malignen Zellen. Die Untersuchungen erfolgen im Reagenzglas,
so dass der vergleichsweise große
Aufwand von Analysen am kompletten lebenden Organismus nicht notwendig ist. Allerdings können Befunde aus Untersuchungen in vivo
auf der einen Seite und in vitro auf
der anderen Seite nicht ohne weiteres
gleichgesetzt und direkt miteinander
verglichen werden.
Beide Methoden haben inzwischen der Forschung so viele Daten
geliefert, dass Lebensfunktionen zusätzlich noch mathematisch erforscht und beurteilt werden können.
Damit finden auch hochkomplexe
Computerprogramme Eingang in
die Lebenswissenschaften, und biologische Prozesse lassen sich realitätsnah simulieren. Für Untersuchungen
in silico (mit Computerprogrammen)
wird der Computer zu einer Art von
„Organismus“, der nach den Erkennt-
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nissen aus den experimentellen Analysen sowohl in vivo als auch in vitro
funktioniert.
„Das Buch der Natur ist mit mathematischen Symbolen geschrieben“, formulierte mit genialer Weitsicht bereits vor fast 400 Jahren Galileo Galilei. Er bezog sich damals auf
die Astronomie. Für die Lebenswissenschaften gab es in dieser Zeit
noch keine so engen Beziehungen
zur Mathematik wie heute. Die Lebenswissenschaften wurden theologisch oder philosophisch erforscht
und ihre Positionierung war für lange
Zeit weit von den heutigen Naturwissenschaften entfernt; sie waren stets
von unergründbaren Geheimnissen
und Magie umgeben. Gedanken zur
Urzeugung waren am Beginn der Erforschung des Lebens allgemeines
Wissensgut. Leben entstand nach
diesen Vorstellungen unter bestimmten Voraussetzungen immer wieder
aus toter Materie. Bereits in der Antike formulierte Aristoteles die These, dass Entelechien, nicht-stoffliche
Lebensfaktoren, als ein permanenter
Prozess in tote Materie eindringen
mussten, um die Strukturen des Lebens zu erschaffen. Später waren
diese Vorstellungen allgemeine Lehrmeinung. Noch mitten im Zeitalter
der Aufklärung beschrieb Diderot in
seiner berühmten Enzyklopädie, dass
Tiere aus dem Erdboden „auskristallisieren“ könnten, sobald bestimm-
ten Voraussetzungen zutreffen würden. Sogar Goethe, der viel über die
Entwicklung des Lebens nachdachte,
teilte 1826 seinem Gönner Herzog
Karl August mit, dass Flöhe spontan
aus Sägemehl und Urin vergleichbar
mit einem Kochrezept „erzeugt“ werden könnten.
Die großen Fortschritte der Biophysik, Biochemie und insbesondere
der Molekularbiologie haben hauptsächlich im vergangenen Jahrhundert geklärt, dass Lebensprozesse
nach unerhört komplizierten Gesetzmäßigkeiten ablaufen. Die Urzeugung verlor ihre Gültigkeit. Leben
konnte nur aus Leben und nicht
aus toter Materie spontan entstehen.
Gestürzt wurden diese so lange gültigen Vorstellungen von der Urzeugung endgültig erst im 19. Jahrhundert von Louis Pasteur. Er hatte
nachgewiesen, dass Bakterien nicht
das Produkt der Gärung sind, sondern die Gärung ein Produkt von be-
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Dr. Manfred Reitz,
Walther-Victor-Str. 20,
99425 Weimar (Germany),
e-mail: [email protected]
Pharm. Ind. 74, Nr. 6, 882–884 (2012)
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Nur für den privaten oder firmeninternen Gebrauch / For private or internal corporate use only
In silico beschäftigt sich mit der Computeranalyse von Prozessen des
Lebens. Bei diesen Methoden werden Lebensvorgänge mathematisch
simuliert und ausgewertet. Da Lebensprozesse unerhört kompliziert
sind, werden für in silico-Untersuchungen Computer mit unglaublich
hohen Speicherkapazitäten benötigt. Zahlreiche Krankheitsprozesse
können bei in silico-Analysen auf molekularer Ebene besser und
schneller verstanden werden. Für die pharmazeutische Industrie
erleichtern in silico-Untersuchungen die Suche nach möglichen
pharmazeutischen Wirkstoffen und helfen bei der Kostenersparnis.
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Abbildung 1
Institutsgebäude von BioQuant in Heidelberg. (Quelle: http://
www.bioquant.uni-heidelberg.de/contact.html).
tativen Analyse lebender Systeme
eingesetzt. Vorteile sind Schnelligkeit
in der Datengewinnung, außerdem
sind Messungen im Mikrobereich
bis hin zur Einzelmolekülanalyse
möglich. Neben der Harvard Medical
School in Boston, Massachusetts
(USA) ist BioQuant in Heidelberg
das weltweit erst zweite Zentrum
mit vollständigen mikroskopischen
Systemen auf dem neuesten Stand
der Technik. Zukunftsweisende Methoden zur Nanoskopie stehen dort
neben umfassenden Techniken zur
Elektronenmikroskopie zur Verfügung. Mit dem Nanoskopiekonzept, auf das leider an dieser Stelle
nicht näher eingegangen werden
kann, können beispielsweise Grenzen der Lichtmikroskopie überwunden werden: Die Wellenlänge des eingesetzten Lichtes bildet bei diesem
Konzept zur Größenbeurteilung von
Objekten keine Begrenzung mehr.
Die Prozesse und Strukturen der
Lebensfunktionen sind allerdings bei
dem gegenwärtigen Wissensstand so
unerhört kompliziert, dass es unmöglich ist, sie auf molekularer und
sogar atomarer Ebene in Computerprogramme für Simulationsexperimente zu übertragen. Der Rechenaufwand wäre extrem und die Kapazitäten aller Computer der Erde würden nicht ausreichen, um in einem
vernünftigen Zeitraum solche Be-
rechnungen zu einem erfolgreichen
Ende zu führen. Das Prinzip „bottom-up“, also die in silico-Untersuchung von der Bewegung einzelner
Atome bis hinauf zu den Prozessen
der Lebens, würde alle Rechenprogramme überfordern.
Auch das Prinzip „top-down“, der
Weg von der gesamten Biosphäre bis
hinunter zu der Bewegung einzelner
Atome, ist nicht erfolgversprechend.
Auch hier fehlen Computerkapazitäten und sie können auch nicht beschafft werden. Je komplizierter sich
Lebensfunktionen darstellen, umso
umfangreicher sind Informationen
zur Bewertung dieser Fülle von Lebensfunktionen. Allein durch Verknüpfungen und ihre Erweiterungen
können Lebensfunktionen immer
wieder neue Quantitäten der Informationsfülle erreichen und in völlig
neue Dimensionen vordringen. Ein
Wald bietet zum Beispiel weitaus
mehr Informationen an, als eine
reine Summe von Bäumen. Eine dieser neuen Dimensionen können beispielsweise ästhetische Empfindungen darstellen. Ein Wald besitzt erweiterte Informationen und erscheint vielen Menschen als weitaus
schöner als eine reine Aufreihung
von Bäumen.
Um für eine in silico-Untersuchung ein realistisches Umfeld zu
schaffen, schlug der englische Nobel-
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reits vorher vorhandenen Bakterien
ist. Die stets spontane Urzeugung
wurde durch eine Evolution des Lebens ersetzt, so dass die Entstehung
des Lebens von nun an nur noch historisch gesehen werden konnte und
einst vor Jahrmilliarden begonnen
hatte.
Es ist interessant, dass bei Untersuchungen in silico die Ideen der „Entelechien“ von Aristoteles plötzlich
eine Wiedergeburt erfahren und erneut unabhängig von Materie an Bedeutung gewinnen. Nur Begriffe
mussten ersetzt werden. Es sind
nicht-stoffliche Rechenprogramme,
die in einen Datenspeicher wie „Entelechien“ eindringen und „Lebensvorgänge“ simulieren. Nach dem
Prinzip in silico findet im Computer
tatsächlich „nicht-stoffliches Leben“
statt. In der phantastischen Literatur
wird „nicht-stoffliches Leben“ schon
heute frei von Biophysik und Biochemie in Gedanken weiterentwickelt. In
der Phantasie von Autoren können
heute schon Computer unabhängig
vom Menschen eine eigenständige
Parallelkultur bilden und versuchen,
sogar die Menschheit an Effektivität
zu überholen.
Im Jahr 2007 wurde an der Universität Heidelberg das Institut BioQuant gegründet (Abb. 1). Es beschäftigt sich mit dem interdisziplinären Forschungsgebiet der Systembiologie. Dabei werden biologische
Prozesse unter einer besonderen Berücksichtigung von zeitlichen und
räumlichen Aspekten einzelner Komponenten so umfassend beschrieben,
dass sie auch in Rechenprogrammen
simuliert werden können. Da das
Forschungsgebiet streng interdisziplinär ist, arbeiten bei BioQuant inzwischen rund 300 Wissenschaftler aus
den Bereichen Mathematik, Informatik, Physik, Chemie, Biochemie, Molekularbiologie und Medizin. Ihre Zusammenarbeit sichert die Untersuchungen in silico.
Als Untersuchungstechniken werden, um Daten für die Computerauswertung und Simulation zu gewinnen, überwiegend berührungsfreie
optische Messverfahren zur quanti-
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durch RNA-Interferenz (RNAi) unterdrückt werden. BioQuant arbeitet an
automatisierten Methoden, um mit
Hilfe von unterschiedlichen mikroskopischen Techniken die Hemmung
von menschlichen Genen durch
RNA-Interferenz zu überprüfen. Ein
Fernziel der Untersuchungen ist, alle
30 000 Gene eines Menschen auf einem Chip unterzubringen und sie innerhalb eines Tages vollautomatisch
zu analysieren. Untersuchungen bei
Patienten können auf diese Weise
völlig individuell in einem vertretbaren Zeitraum ausgewertet werden.
Das menschliche Genom besteht
aus rund 3 Mrd. Basenpaaren DNA.
Im vergangenen Jahrhundert dauerte
es noch etwa zehn Jahre, bis die Sequenz des menschlichen Genoms entschlüsselt worden war. Durch den
Einsatz von neuen Generationen von
Sequenziergeräten und ausgefeilten
mikroskopischen Techniken strebt
BioQuant an, ein menschliches Genom in etwa einer Woche vollautomatisch zu sequenzieren. Damit wird die
Auswertung von Untersuchungen in
silico besonders interessant. Die Medizin wird personalisiert, und kleinste
individuelle Variationen, die besonders große Wirkungen entfalten, können frühzeitig erkannt werden. Sowohl für die Krebsforschung als auch
für die Krebstherapie finden in silicoUntersuchungen wachsendes Interesse. Einschließlich der Kontrolluntersuchungen benötigt ein menschliches
Genom eine Speicherkapazität von
etwa drei Terabyte pro Sequenz. Beobachtungen bei gesunden Kontrollpersonen sowie einzelnen Patienten
und Gruppen von Patienten können
leicht miteinander verglichen werden.
Schließlich kann auch auf molekularer Ebene in die Zelle hinein geschaut werden, um sie anschließend
in silico zu analysieren. Kenntnisse
der zellulären Rezeptoren, aber auch
Wissen über Signalstoffe und deren
Weg innerhalb der Zelle lassen sich
vertiefen und erweitern. Zahlreiche
große Volkskrankheiten wie etwa
Diabetes, Herzerkrankungen, Autoimmunerkrankungen aber auch Infektionen werden besser verständlich
und damit auch besser therapierbar,
wenn molekulare Grundlagen erweitert werden können.
Für die pharmazeutische Industrie ist die Suche nach therapeutischen und auch diagnostischen
Wirkstoffen mit einem großen Kostenaufwand verbunden. Hier können
in silico-Untersuchungen der Kostenersparnis dienen und beim Vorsortieren von möglichen Wirkstoffen helfen. Die Analyse am Computer kann
den experimentellen Aufwand an
Zellkulturen reduzieren und auf ein
notwendiges Maß beschränken.
Danksagung
Der Autor möchte sich bei Prof. (em.)
Dr. Jürgen Wolfrum, Gründungsdirektor von BioQuant, Heidelberg,
für seine Unterstützung und wertvollen Informationen bedanken.
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preisträge Sidney Brenner (Nobelpreis für Medizin 2002) das Prinzip
„middle-out“ vor. Die Untersuchungen beginnen in diesem Fall direkt
im Baustein des Lebens, in der Zelle,
wo alle lebenswichtigen Funktionen
ablaufen. BioQuant folgt diesem
Prinzip. Bereits heute bieten sich
zahlreiche Forschungsgebiete an;
etwa die Analyse der Viren, die sich
in der Biochemie der Zelle weitaus
besser auskennen als alle Wissenschaftsgebiete zusammen oder die
mathematische Modellierung der
Apoptose, des „Selbstmordprogramms“ der Zelle, dessen fehlerlose
Funktion für den Erhalt des Organismus notwendig ist.
Für die komplizierte mathematische Untersuchung von Lebensfunktionen und ihre variable Simulation
können die Datenspeicher der Computer nicht groß genug sein. BioQuant besitzt deshalb einen der europaweit größten Datenspeicher für
Lebenswissenschaften. Die Gesamtkapazität dieses Datenspeichers liegt
gegenwärtig bei 10 Petabyte, was
10 Mio. Gigabyte entspricht. Dabei
sind Erweiterungen möglich. Nur
mit solchen Kapazitäten kann in einem größeren Maßstab in silico gearbeitet werden.
Zu den gegenwärtigen Forschungsgebieten von BioQuant gehören hauptsächlich genetische Analysen und ihr möglicher Einsatz für
in silico-Untersuchungen. Die Expression einzelner Gene kann heute