Beitrag 14 Innovation – jenseits des Qualitätsmanagements? Jede Menge Risiken und noch mehr Chancen: ISO 9001:2015 Auf den ersten Blick hat das all überall propagierte, geradezu omnipräsente und nirgendwo geringgeschätzte Thema „Innovation“ mit ISO 9001 eine recht überschaubare Schnittmenge. Auf den zweiten Blick verschwindet dann diese vielleicht sogar auch noch. Und dafür gibt es viele Gründe. Der wesentlichste Grund dürfte sein, wollen, müssen genau das zulassen. dass die ISO 9001-Vorgänger-Ausgaben Das ist ein klassischer Spagat, den viele sehr viel Wert auf Kundenzufriedenheit Unternehmen nicht machen wollen – sich und damit auf die Erfüllung von Kunden- vielleicht einfach auch nicht zu machen anforderungen und -erwartungen gelegt trauen. haben. Das hat sich auch bewährt: Die Organisation eruiert den artikulierten ISO 9001 als Innovations-Vehikel? und auch den impliziten Kundenwunsch Nun ist die ISO 9001:2015 erschienen und setzt dann mit ihren Ressourcen in und wir dürfen uns berechtigt fragen, ob beherrschten Prozessen das um, was der sie Unternehmen helfen kann, InnovatioKunde eben will. nen zu fördern. Die Antwort lautet: Ja, sie Wird dieses Ziel nicht erreicht, wird kann. Und die ernüchternde ergänzende das durch geeignete prozessimmanente Antwort lautet: Auch die Vorgänger-VerÜberwachungsinstrumente vor der Aus- sion konnte das schon. lieferung an den Kunden, aber allerspäEin Praxis-Beispiel: Wenn Kunden ihre testens dann durch systematische Kun- gekauften Produkte benutzen, dann darf denrückmeldungen überprüft: Wurden die man eigentlich davon ausgehen, dass sie Erwartungen erfüllt? Wenn ja, dann weiter sie so verwenden, wie das vorgesehen so. Wenn nicht, dann wird verändert, ver- ist. Doch Menschen neigen recht häubessert oder entschädigt. fig dazu, dass sie Dinge zweckentfremIn diesem grob umrissenen Rahmen den. Und wenn diese Dinge dann kaputt von Qualitätsmanagementsystemen fin- gehen, werden sie reklamiert – ohne det „Innovation“ nur schwerlich Eingang. dass die Kunden den Grund im eigenen Qualitätsmanagementsysteme sind vor Verhalten erkennen wollen. Der Werkallem darauf auszeughersteller Wera gelegt, Experimente hatte genau dieses Kann die ISO 9001:2015 zu verhindern. Für Problem mit seinen Unternehmen helfen, Innovationen ist es Knarren/Ratschen, Innovationen zu fördern? notwendig, dass die nun mal einExperimente nicht fach zum Schrauben Die Antwort lautet: nur zugelassen, sonvorgesehen sind. Ja, sie kann. dern vielmehr Alltag Aber Handwerker sind. Das hat nichts mit Willkür zu tun, nutzten sie eben nicht nur zum Schrauaber es ist ein anderes Selbstverständ- ben, sondern auch gerne mal als Hamnis innerhalb der Organisation. Quali- mer zum Schlagen. Und dadurch kam tätsmanagementsysteme wollen Fehler es als Erstes zur Beschädigung, wenn und Unvorhergesehenes vermeiden, aber nicht gar zur Zerstörung der KnarrenmeUnternehmen, die Innovation forcieren chanik, und zweitens zur Reklamation. © DQS GmbH, Frankfurt am Main, Dezember 2015 www.dqs.de Beitrag 14 Sehr schnell erkannte Wera nach eingehenden Analysen die Zweckentfremdung der Knarre als Hammer. Was also tun? Einen Aufkleber anbringen, auf dem geschrieben steht: „Nicht als Hammer verwenden!“? Dem Qualitätsgedanken wäre damit Rechnung getragen worden. Wera machte das Gegenteil und nutzte die Hammer-Erkenntnis: Die Zweckentfremdung der „Schrauben-Knarre“ als „Hammer-Knarre“ wurde nicht mehr als Problem, sondern als Impuls gesehen. War es nicht machbar, diese beiden Möglichkeiten miteinander zu verknüpfen? Das Unternehmen erkannte, sah und siegte. Seit einiger Zeit gibt es nun die Wera-Knarre „Koloss“, mit der man schrauben, aber mit der man eben nun auch hämmern kann. Das ist Innovation! Dazu der passende Werbeslogan: „Diese Knarre ist der Hammer!“ ISO 9001:2015 als „Kulturgeber“ Dieses Vorgehen ist natürlich nicht im Geringsten konträr zu ISO 9001 – weder 2008 noch 2015. Es geht immer nur um das Selbstverständnis des Unternehmens – und damit auch um die etablierte Unternehmenskultur: Sieht das Unternehmen eher die Probleme oder mehr die Chancen? Und gerade hier bietet die ISO 9001:2015 nun noch viel mehr Handlungsspielraum, aber fordert auch – im eigenen gebotenen Rahmen – mehr Selbstverpflichtung. Dies wird besonders deutlich am geforderten Umgang mit Chancen, also sozusagen den Nebenwirkungen von Risiken. Eine Innovation, sei es eine Produktoder Dienstleistungsinnovation oder auch eine Prozess- oder gar eine Geschäftsmodellinnovation, ist niemals einfach und plötzlich da und sie kann auch niemals im Vorhinein stringent geplant und umgesetzt werden. Dies klappt vielleicht bei Verbesserungen, nicht jedoch bei völlig Neuartigem – und dies ist das wesentliche Merkmal einer Innovation. Es handelt sich um Dinge, bei denen man auf keine endgültigen Erfahrungswerte zurückgreifen kann. Aber es besteht immer die Chance, © dass das Neue erfolgreich wird: Und dann ist von einer Innovation zu sprechen. Das Meiste wird jedoch nicht klappen; auch darüber muss man sich bewusst sein. Das ist die Eigenart von Experimenten: Es gibt zwar eine konkrete Absicht und es gibt eine geplante Vorgehensweise – aber Das, was Ihre Kunden heute noch BEGEISTERN wird, wird sie morgen ZUFRIEDENstellen und übermorgen LANGWEILEN. Und das macht Innovation so notwendig! es gibt auch immer einen unbestimmten Ausgang. Dieser kann, aber muss nicht zwingend erfolgreich sein. Dies kann und soll durch den Umgang mit Chancen und Risiken nun auch Eingang in Qualitätsmanagementsysteme von Organisationen finden. Hintergründig ist dies aber vor allem eine neue Art zu denken und damit vielleicht die Chance für die Etablierung einer neuen Unternehmenskultur. ISO 9001:2015 als Herausforderung Zu behaupten, dass das nun eine ganz konkrete Forderung von ISO 9001:2015 sei, ist nicht haltbar. Um die Forderung nach der Bestimmung der Chancen zu erfüllen, ist es auch möglich, dem auf anderen Ebenen nachzukommen. Doch warum nicht diese Chance der Chancen nach ISO 9001:2015 nutzen? Und damit sind wieder das Selbstverständnis der Organisation und die Selbstverpflichtung der Führung gefordert. Ist das Thema „Innovation“ erst einmal im Qualitätsmanagementsystem mit verankert, dann wird es sich in irgendeiner Form auch in der Qualitätspolitik, den Qualitätszielen, DQS GmbH, Frankfurt am Main, Dezember 2015 Ressourcen, Wissen, Bewusstsein, Kommunikation, Entwicklung, Bewertung oder eben auch als Thema in internen Audits wiederfinden müssen. Das bedeutet, dass die Innovationsabsicht, die sich sehr viele Organisationen auf die Fahnen – und oft ausschließlich dorthin – schreiben, zu einer messbar zu machenden Innovationsverpflichtung wird. Warum also nicht interne Audits als Innovationsaudits planen und durchführen? Es gilt dann, die Fragen anders zu fokussieren: „Wie werden Regelungen zur Ideengenerierung umgesetzt?“, „Welchen konkreten Beitrag leistet die Führung für das Vorantreiben neuer Ideen?“ oder „Wie lange dauern Entscheidungen bei der Umsetzung neuer Ideen?“ Das alles ist keine geringe Herausforderung, die sich aber nicht nur lohnen wird, sondern sehr oft überlebensnotwendig ist. Provokativ sei angesprochen: Was hat es einem Schreibmaschinenhersteller geholfen, qualitativ höchstwertige Schreibmaschinen herzustellen? Oder: Was hat es einem Videothekenbetreiber geholfen, dass er in einer hervorragenden Weise seine Kunden zufriedengestellt hat? Innovationen sind eben sehr oft keine Kür. ISO 9001:2015 bietet jetzt die Möglichkeit, den „Kür-Gedanken“ zu Innovationen zu überwinden. Diese Chance sollte sich kein Unternehmen entgehen lassen. Dr. Markus Reimer DQS-Auditor [email protected] Tipp zum Thema Wenn Sie tiefer in ein differenziertes Innovationsmanagementsystem einsteigen und ein solches etablieren möchten: DIN CEN/TS-Reihe 16555 www.dqs.de
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