Schütze-Brief

© Schütze-Brief • Gesundheitspolitischer Info-Dienst
4. Januar 2016
Nr. 1/2016/ Seite 1 von 4
Rückblick 2015 – Ausblick 2016
Der Schütze-Brief setzt zum Jahreswechsel 2015/2016 seine Tradition fort, Stellungnahmen führender Vertreter in der Gesundheitspolitik zu veröffentlichen, die aus ihrem Verantwortungsbereich heraus die Vergangenheit und die Zukunft bewerten.
Dieser „Rückblick und Ausblick“ findet zur „Halbzeit“ dieser Legislaturperiode statt.
Die Gesetzgebungs-Kaskade im Gesundheitsbereich strebte zwar im ausklingenden
Jahr 2015 ihrem Höhepunkt entgegen – doch auch im nahenden Jahr 2016 nimmt
die Große Koalition weitere bedeutende Weichenstellungen für das Gesundheitswesen vor. Beispielhafte Stichworte sind hier das Anti-Korruptionsgesetz, das Pflegeberufereformgesetz oder auch der Pharma-Dialog.
Zugleich sind mit Beginn des Jahres 2016 nicht nur die Selbstverwaltungspartner,
sondern auch die Institutionen und Verbände im Gesundheitswesen gefordert, ihren
Beitrag in der Umsetzung der aktuellen gesundheitspolitischen Gesetzgebung zu leisten. Der gewaltige Anspruch an die Beteiligten und Betroffenen ist unmittelbar gegenwärtig, nennt man nur einige Herausforderungen wie das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz, die Pflegestärkungsgesetze I und II, das Präventionsgesetz, das
Hospiz- und Palliativgesetz, das E-Health-Gesetz oder auch das Krankenhausstrukturgesetz.
Gleichzeitig werden viele grundlegende und finanziell „basiswirksame“ Änderungen
ab 2016 nach und nach in den verschiedenen Bereichen Realität. Darüber hinaus
haben die Selbstverwaltungspartner ihre ganz eigenen Baustellen, die im kommenden Jahr wieder auf der gesundheitspolitischen Tagesordnung stehen, oder – von
der einen oder anderen Seite – auf diese gesetzt werden.
Überlagert werden jedwede gesundheitspolitischen Belange von den Anforderungen
an die Bewältigung der Flüchtlingskrise, die zugleich, neben neuen Regelungs- und
Umsetzungserfordernissen, auch ein Mitwirken von Kompetenzen aus dem Gesundheitswesen notwendig macht.
Vor diesem Hintergrund gilt es, grundlegende Fragestellungen zu reflektieren: Wo
hat es Fortschritte gegeben? Wo gibt es weiterhin Defizite? Wo geht eine Entwick-
Verlag: Leo Schütze GmbH. Geschäftsführerin: Gisela Broll, geb. Schütze
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Redaktion: Gisela Broll, geb. Schütze (verantwortlich), Leo Schütze, Margrit Baumgardt, Gabriela Broll, Norbert Fischer, Corinna
Grosser, André Haserück. Freier Mitarbeiter: Dr. Franz-Josef Bohle
Alle Rechte liegen beim Verlag. Insbesondere sind die weitere Nutzung, die Vervielfältigung, die Speicherung und die Verbreitung
des Schütze-Briefes (sb) nur mit seiner Zustimmung erlaubt. Dies gilt auch für einzelne Teile des Schütze-Briefes falls nicht vertragliche Abmachungen davon abweichen. Der Schütze-Brief ist nur im Abonnement erhältlich.
Der nächste Schütze-Brief erscheint am 7. Januar 2016.
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lung in die falsche Richtung? Oder gibt es spezifische Aspekte, auf die besonderes
Augenmerk gelegt werden sollte?
Jürgen Hohnl, Geschäftsführer des IKK e.V.
Die Große Koalition der teuren Geschenke
Wer sich in einigen Jahren an die heutige Große Koalition zurück erinnern wird, dem
werden die zahlreichen teuren Geschenke einfallen: für Ärzte, für Krankenhäuser und
- nicht zu vergessen - für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).
Die schwarz-rote Regierung hat sich bei ihren gesundheitspolitischen Reformen sehr
spendabel gezeigt – auf Kosten der Versicherten der GKV, die dafür zukünftig höhere
Zusatzbeiträge entrichten müssen, und zwar alleine, weil ja der Arbeitgeberbeitrag
seit 2011 bei 7,3 Prozent fixiert ist. Die Großzügigkeit der Regierung wird spätestens
ihren Nachfolgern vor die Füße fallen. Die Finanzierungsdebatte hat schon Fahrt aufgenommen und wird sich angesichts der steigenden Zusatzbeiträge weiter verschärfen.
Haben vor einem Jahr lediglich 50 Krankenkassen einen Zusatzbeitrag von durchschnittlich 0,9 Prozent erhoben – betroffen waren 61 Prozent der GKV-Mitglieder –,
sind es jetzt 122 der 123 Krankenkassen. Um vier bis sechs Euro monatlich wird die
Krankenversicherung im Durchschnitt für die Arbeitnehmer teurer: Und ein Ende der
Kostendynamik ist nicht absehbar. Die Steigerungen der Leistungsausgaben haben
maßgeblich mit der Großen Koalition zu tun. Rund 1,4 Milliarden Euro veranschlagen
die Kassen 2016 für Leistungsausweitungen. Ein Plus von 5,6 Prozent im Vergleich zu
2015. Die Einnahmen, die 2016 bei knapp 1,3 Milliarden Euro liegen werden, wachsen zum Vorjahr lediglich um 4,3 Prozent. Die Innungskrankenkassen fordern deshalb eine nachhaltige, solidarische und belastungsgerechte Finanzierung, zu der auch
eine verantwortungs- und verursachergerechte Anpassung der Steuerfinanzierung für
versicherungsfremde Leistungen gehört.
Und die Beschlüsse sind nicht immer nur „gute und richtige Investitionsentscheidungen“, wie der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Karl-Heinz Lauterbach, meint. Nicht alle Entscheidungen halten einem kritischen Blick stand. Stichwort: GKV-Versorgungsstärkungsgesetz. Die GKV rechnet 2016 mit rund 405 Millionen Euro Mehrausgaben. Richtig sind Ziele, wie Abbau von Unter- und Überversorgung, Verbesserung von Prozessen bei der Behandlung von Patienten. Wenn jedoch
langfristig bis zu 500 Millionen Euro nur dafür aufgebracht werden, um die Angleichung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung der Ärzte zu gewährleisten, und
300 Millionen Euro jährlich in einen Innovationsfonds fließen, auf den die Kranken-
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kassen nur noch „in der Regel“ Zugriff haben sollen, dann ist das in höchstem Maße
bedenklich.
Auch das jetzt beschlossene Krankenhausstrukturgesetz ist für die GKV-Versicherten
kostspielig und wenig effizient. Strukturelle Marktbereinigung? Fehlanzeige. Für die
rückläufige Investitionsfinanzierung seitens der Länder gibt es – wieder einmal – keine Lösung. Stattdessen soll es ein Strukturfonds richten. Eine Farce ist allein, dass
die Kontrolle der Mittelverwendung bei den Ländern liegt. Allein fünf Milliarden Euro
wird die Krankenhausreform die Kassen bis 2020 kosten.
Lobenswert, aber nicht zu Ende gedacht – so ist das Anfang Dezember beschlossene
Präventionsgesetz zu bewerten. Trotz Betonung der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe bleibt die GKV der Hauptfinanzierer. Völlig unverständlich ist, dass eine Bundesbehörde – die BZgA – aus Beitragsmitteln der Sozialversicherung finanziert werden
soll. Auch wenn der Gesetzgeber hier ein Auftragsverhältnis zwischen GKVSpitzenverband und BZgA vorsieht, bleiben verfassungsrechtliche Zweifel, deren
Überprüfung jetzt auf Drängen des Verwaltungsrates des GKV-Spitzenverbandes über
den Umweg eines Sperrvermerkes erreicht werden soll.
Was muss die Politik 2016 noch anpacken?
Die Innungskrankenkassen erwarten eine grundlegende Reform der Finanzierungssystematik der GKV, auch über die Frage der Beitragsgestaltung hinaus. Denn der
morbiditätsorientierte Finanzausgleich zeigt deutliche Defizite. Die einseitige Ausgestaltung des Morbi-RSA unterminiert den Leistungswettbewerb zwischen den Kassen
und untergräbt die Akzeptanz für das Ausgleichssystem. Dies zeigen die schärfer
werdenden Debattenbeiträge der letzten Zeit. Wenn Kassen, die noch im vergangenen Jahr fehlende Mittel für die Versorgung Schwerkranker angeprangert haben,
jetzt die Mittel zum Verdrängungswettbewerb nutzen können, ist etwas im Ungleichgewicht. Der Morbi-RSA muss endlich versorgungsneutral, sicher und fair gestaltet
werden. Hierzu ist es auch notwendig, die Präventionsanreize näher zu betrachten.
Bereits der alte wissenschaftliche Beirat des Bundesversicherungsamtes hat die Befürchtung geäußert, dass durch die Art und Weise der Auswahl der ausgleichsfähigen
Krankheiten Präventionsanreize untergraben werden. Im Klartext: Das derzeitige Berechnungsverfahren wirkt einseitig zugunsten der morbiditätsstarken Kassen und
motiviert zu wenig zum Engagement in der Prävention. Die Frage ist, lohnt sich die
Prävention zur Vermeidung von Krankheiten überhaupt für eine Krankenkasse, wenn
sie dafür systematisch im Morbi-RSA benachteiligt wird? Das muss die Politik endlich
beantworten.
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Ein Beispiel ist der Bluthochdruck, der im Morbi-RSA Zuweisungen auslöst: Hypertonie lässt sich durch Prävention verhindern bzw. zumindest lassen sich schwerwiegende Folgen abschwächen. Dafür gibt es jedoch kein Geld aus dem Morbi-RSA. Geld
fließt für die Kassen, sobald der Patient den Stempel „chronisch“ erhält. Und auch die
Leistungserbringer profitieren: Mehr Diagnosen erhöhen die Gesamtvergütung. Und
so dreht sich die „Morbiditätsspirale“ weiter. Und an der Belastbarkeit der Kodierungen sind Zweifel angebracht. Die Innungskrankenkassen weisen schon lange auf fehlende Kodierrichtlinien hin, die Manipulationen ausschließen könnten. Gespannt sind
die Innungskrankenkassen auch auf das Ergebnis des Pharmadialogs. Seitens der
Politik wird für das Frühjahr bereits eine Anpassung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) angekündigt. Seit seinem Inkrafttreten 2011 ist viel vom
„lernenden System“ die Rede. Die Innungskrankenkassen setzen also bei der Weiterentwicklung des AMNOG darauf, dass die Selbstbedienungsmentalität der Industrie
bei der Preisfindung ein Ende hat. Die freie Preisbildung im ersten Jahr der Zulassung
muss beschränkt werden. Unser Vorschlag: Der verhandelte Erstattungsbetrag sollte
rückwirkend ab dem Tag der Zulassung gelten. Die Preise von Medikamenten müssen von der Qualität und Wirksamkeit abhängig gemacht werden.
Ob der Elan der Bundesregierung, für die Leistungserbringer spendable Reformen auf
den Weg zu bringen – es waren 15 in 15 Monaten – weiter anhält, bleibt abzuwarten. Angesichts der Bundestagswahl im Herbst 2017 und Wahlen in drei Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Saarland) ist zu vermuten, dass
die Politik gravierende Veränderungen nicht mehr anschiebt. Exorbitante Ausgabensteigerungen auf dem Rücken der GKV-Versicherten, die auch Wähler sind: Lange
mag dies nicht mehr funktionieren.