Das China-Paradox: mehr Wachstum, weniger Zufriedenheit Von Sebastian Heilmann (Dieser Artikel erschien in leicht veränderter Fassung am 20. März 2016 in der Rubrik „Sonntagsökonom“ der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.) Führt Wohlstand zu größerer Zufriedenheit? Angus Deaton und Daniel Kahneman, Wirtschaftsnobelpreisträger von 2015 und 2002, bejahen die Frage in differenzierter Weise. In einer gemeinsamen Studie stellen sie fest, dass ein steigendes Einkommen das emotionale Wohlbefinden im Alltag tatsächlich nur bis zu einem bestimmten Einkommensniveau erhöht. Die grundsätzliche Beurteilung des eigenen Lebenserfolgs (life satisfaction) erhöht sich, so Deaton und Kahneman, hingegen mit wachsendem Einkommen ohne Obergrenze. China ist ein wichtiger Testfall für die empirische Glücksforschung: Nach Jahrzehnten rascher und hoher Einkommenszuwächse sollten dort die Wirkungen auf emotionales Wohlbefinden und statusbezogene Lebenszufriedenheit besonders plastisch hervortreten. Fast alle Untersuchungen dieser Zusammenhänge in der chinesischen Gesellschaft aber kommen zu ernüchternden Ergebnissen: Im „World Happiness Report“ der Ökonomen Helliwell, Layard und Sachs liegt China im hinteren Mittelfeld gemeinsam mit politisch instabilen oder wirtschaftlich schwachen Ländern wie Pakistan oder Sambia. In der aktuellen Forschung wird vor diesem Hintergrund heftig über die Auswirkungen des chinesischen Wirtschaftswachstums gestritten. Zu optimistischen Schlussfolgerungen kommen die chinesische Psychologin Zhou Jie und der amerikanische Soziologe Xie Yu. Sie untermauern mit ihren Studien im Kern die Position der chinesischen Regierung: Je schneller das Wirtschaftswachstum steige, desto höher sei das durchschnittliche Niveau der Lebenszufriedenheit in der Bevölkerung. Ausschlaggebend dafür sei, dass individuelle oder haushaltsbezogene Einkommenssteigerungen höher ausfielen als individuell erwartet. Den Ergebnissen ihrer über sechs Jahre durchgeführten Umfragen in drei Provinzen zufolge profitieren von diesem Zusammenhang allerdings vor allem ältere und besser ausgebildete Chinesen. Die Aussagekraft dieser Forschungsergebnisse hat Grenzen. Denn Zhou und Xie berücksichtigen zwar den Einfluss von Bildungsstand, Alter und Beschäftigung. Andere zentrale Einflussfaktoren wie Gesundheit aber lassen sie außen vor. Hier setzt ein Autorenteam um Carol Graham, Professorin für Public Policy an der Universität Maryland, an. Ihre Studien untersuchen die Auswirkung der gesundheitlichen Verfassung auf die individuell empfundene Zufriedenheit. Dabei weisen die Autoren nach, dass insbesondere Chinesen mit höherer Bildung weniger zufrieden sind. Gut ausgebildete Chinesen stehen in den Wirtschaftszentren des Landes unter massivem Erfolgsdruck. Der rasante Wandel des Arbeits- und Lebensumfeldes, lange Arbeitszeiten und nur kurze Erholungsphasen lassen die physischen und psychischen Belastungen rapide wachsen. Einkommenssteigerungen können den Verlust an Lebensqualität offenbar immer weniger wettmachen. Graham und ihre Kollegen errechnen, dass das Einkommen von Städtern um mehr als 600 Prozent steigen müsste, um den negativen Effekt psychischer Probleme auf die Lebenszufriedenheit potenziell auszugleichen. Die Absurdität einer solchen Kalkulation liegt auf der Hand. Die Autoren wollen damit zeigen, wie drastisch die zunehmenden psychischen Belastungen die Lebensqualität mindern. Abnehmende oder stagnierende Lebenszufriedenheit bei hohen Einkommenszuwächsen? Damit wäre China ein Beleg für das bereits 1974 vom amerikanischen Ökonomen Richard Easterlin formulierte Paradox: Sobald grundlegende Bedürfnisse befriedigt sind, führt mehr Wohlstand nicht zu mehr Glück. 2012 kam eine Forschergruppe um Richard Easterlin zu dem Befund, dass die Lebenszufriedenheit in China seit 1990 trotz rapiden Wirtschafts- und Einkommenswachstums gesunken sei. Erst seit etwa 2003 nahm die Zufriedenheit wieder langsam zu, ohne jedoch wieder das Niveau der Zeit vor 1990 zu erreichen, als Chinas städtische Gesellschaft noch überwiegend in ein sozialistisches, staatswirtschaftliches System eingebunden war. Als Gründe für diesen Rückgang des Glücksniveaus benennen die Forscher ein gewachsenes Risiko von Arbeitslosigkeit, die Schwächung sozialer Absicherungen im staatsnahen Wirtschaftssektor und zunehmende Einkommensungleichheiten. Easterlin leitet daraus ab, dass der Ausbau eines leistungsfähigen Systems sozialer Sicherung unabdingbar sei, um individuelle Lebensrisiken zu verringern und die gesellschaftliche Stabilität dauerhaft zu sichern. Chinas wirtschaftliche Transformation hat aber nicht nur soziale Unsicherheiten, sondern auch gravierende Umweltprobleme mit sich gebracht. Die Qualität von Luft, Wasser und Lebensmitteln wird von vielen Chinesen als bedrohliches Gesundheitsrisiko im Lebensalltag eingeschätzt, dem niemand entgehen kann, der in chinesischen Ballungsräumen lebt. Und in Umfragen wurde jahrelang behördliche Korruption als eine der wichtigsten Ursachen für politische Unzufriedenheit benannt. Ob reich oder arm: Smog, Lebensmittelskandale und Korruption senken Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit für die allermeisten Menschen – unabhängig vom Kontostand. Die empirische Forschung zur Lebenszufriedenheit in China behandelt diese Faktoren bisher als Marginalie. Die meisten Studien bleiben auf die Folgen von Einkommenszuwächsen fixiert und erscheinen deshalb frappierend eindimensional oder gar lebensfern. Die Langzeitbefunde aus China belegen, dass selbst sehr hohe Einkommenszuwächse im Verhältnis zu anderen Faktoren, die Einfluss auf die menschliche Lebensqualität haben, das durchschnittliche Zufriedenheitsniveau nicht auf Dauer bestimmen. Die chinesische Regierung steht damit vor großen Herausforderungen. Denn ihre Legitimation und Akzeptanz stützt sich maßgeblich auf materielle Erfolgsversprechen. Mit den gegenwärtigen Anzeichen für deutlich nachlassendes Wachstum, eine Beschäftigungskrise in großen Industriebranchen und hohe Umwelt- und Gesundheitsbelastungen für die Bevölkerung wird der seit den 1980er Jahren bestehende Gesellschaftsvertrag immer brüchiger: Der Tausch von wirtschaftlichem Wohlstand gegen gesellschaftliche Stabilität und politische Folgsamkeit erscheint immer weniger attraktiv und verlässlich. Sebastian Heilmann Der Autor ist Direktor des Mercator Instituts für China-Studien (MERICS) in Berlin und Professor für Politik und Wirtschaft Chinas an der Universität Trier. Literatur Kahneman, Daniel und Angus Deaton, „High income improves evaluation of life but not emotional well-being”, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 2010, Bd. 107, Nr. 38, S. 16489-16493. Zhou Jie und Xie Yu, „Does economic development affect life satisfaction? A spatial–temporal contextual analysis in China”, in: Journal of Happiness Studies, 2015 (online first). Graham, Carol; Zhou Shaojie; Zhang Junyi: „Happiness and health in China. The paradox of progress”, in: Global Economy & Development at Brookings, 2015, Working Paper 89. Easterlin, Richard A.; Morgan, Robson; Switek, Malgorzata; Wang Fei, „China’s life satisfaction, 1990-2010”, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 2012, Bd. 109, Nr. 25, S. 9775-9780.
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