Es gibt keinen Sinn an den Sinnen vorbei Vortrag bei dem Symposium Hochaltrigkeit als Lebensmodell PRO SENECTUTE THURGAU Mittwoch, 11. Nov. 2015, Weinfelden Wenn du zur Einsicht gelangen willst, hege keine Abneigung gegen die Welt der Sinne. (Zen-Meister Hui Neng) Es braucht kein Wörterbuch und keine Suchmaschine um die vielfältigen Schattierungen des Wortes Sinn zu erfassen. Die Sprache des Alltags bringt es an den Tag. Etwas gibt Sinn oder macht Sinn, wenn es uns einsichtig ist und realisierbar erscheint. Durch den Tag hetzen bezeichnen wir als sinnlos, ruhig arbeiten erscheint dagegen als sinnvoll: Eile mit Weile. Wir sprechen von tieferem und höherem Sinn und vom Sinn hinter den Dingen. Doch diesem verborgenen Sinn, dem Sinn des Lebens, kommen wir nicht auf die Spur, wenn wir ihn krankhaften suchen. Was ist Sinn? Sinn und Sinne Um es gleich zu sagen: Sinn erfahre ich nicht an den Sinnen vorbei. Wie aber lerne ich durch die Sinne Sinn erfahren? Es lohnt sich, bei der Suche einer Antwort auf diese Frage schrittweise und achtsam 1 vorzugehen. Sehen lernen heisst staunen lernen Wie lerne ich sehen? Eine einfache, fast banale Übung vorweg. Formen Sie mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand eine Art Guckloch. Schließen Sie das linke Auge, und schauen Sie durch das Guckloch. Ein ungewohnter Ausschnitt der Umgebung kommt in Ihr Blickfeld. Zum Beispiel ein paar Stämme junger Birken vor dem Fenster, eine Teetasse und ein paar Büroklammern auf Ihrem Pult. Alltägliche Dinge erscheinen in ihrer Einmaligkeit und wie neu. Im Einzelnen, in einer unauffälligen Blume zum Beispiel, erblicke ich das Ganze, das Umfassende, das Sinngebende – und lerne staunen. Gottfried Keller, dieser große Realist unter den Schweizer Dichtern, hat es wie kaum einer verstanden, die Welt in ihrer Vielfalt wie durch ein Fenster in sich eintreten zu lassen. Trinkt, ihr Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluss der Welt. Sehen lernen heißt staunen lernen! Hören lernen heisst stille werden Es ist eine bekannte Tatsache: Ohrenbetäubender Lärm, aber auch Stress und fehlende innere Ruhe verschließen meine Sinne und den Gehörsinn zumal für den verborgenen Sinn des Lebens. Nicht zufällig nennen wir eine ausweglose, unmögliche Situation „absurd“. Im Wort 2 „ab-surd“ ist das lateinische Wort „surdus“ enthalten, zu deutsch „taub“. Wenn mein Ohr taub wird für das pulsierende Schweigen der Natur und damit für den verborgenen Sinn, erfahre ich Absurdität. Damit schließt sich ein heilloser Kreis: In den Sorgen und Zwängen des Alltags geht für viele der leise „Klang des Lebens“ und mit ihm der tiefere Sinn verloren. Sinnlosigkeit führt aber zu neuen Sorgen und Ängsten und macht uns taub und stumpf. Was ist zu tun? Ein Minimum an Stille tut not. Gefragt ist eine Stille, die mehr ist als die Abwesenheit von Lärm; eine Stille, die es zu suchen und auszuhalten gilt; eine Stille schliesslich, die durch „abschalten“, etwa durch die Praxis der Meditation, möglich wird. Tasten lernen heisst Fingerspitzengefühl entwickeln Es gab einmal einen Philosophen, der sagte allen Ernstes: „Ich denke, also bin ich“ oder auch “Ich zweifle, also bin ich“ (Descartes). Dieser Beweis meiner Existenz und eines sinnvollen Lebens macht wenig Sinn. Heute sagen wir eher: „Ich spüre den Wind in meinen Haaren, die Sonne auf meinem Rücken, den Partner, die Partnerin an meiner Seite, also bin ich.“ Im Tasten und Erspüren erfahre ich Sinn. Auch dies will eingeübt sein. Wir können Menschen zu nahe kommen, sie verletzen. Fingerspitzengefühl, Taktgefühl sind angezeigt. Wie heilsam kann eine liebevolle, achtsame Berührung, eine Be-Handlung im ursprünglichen Sinne des Wortes, sein! Wer wohltuende oder gar heilende Berührung erfährt, wird fähig, anderen bergende Nähe zu schenken. Der Tastsinn ist übrigens der erste Sinn – und der letzte. Der erste, der sich im Mutterleib entwickelt, und der letzte, der vor dem Tod erlischt. Riechen lernen heisst sich etwas 3 unter die Haut gehen lassen Das Riechen bringt uns die Welt noch näher als das Tasten. Gerüche holen auch längst Vergangenes in die Gegenwart zurück und in unser Inneres herein. Sie gehen in besonderer Weise unter die Haut, dringen ein. Gerüche und Düfte wurden von jeher in den Dienst der Kultur und der mystischen Erfahrung gestellt. Alle Hochreligionen wissen, wie nachhaltig Weihrauch und Räucherstäbchen auf Herz und Gemüt wirken. Bestimmte Gerüche haben eine gemütsaufhellende, herzerhebende Wirkung und begünstigen zum Beispiel die Meditation. Seit mehr als vierzig Jahren entzünde ich beim Meditieren, auch wenn ich allein bin, ein leicht herbes Räucherstäbchen. Sein Duft verbindet mich auf nüchterne, unaufdringliche Weise mit dem Raum, der mich umgibt, und weitet Herz und Geist… Neuerdings hat auch die Wirtschaft die Bedeutung der Düfte entdeckt. Zu einem Marketing-Konzept gehört nicht selten der richtige Duft am richtigen Ort. Es gibt ein Duft-Angebot für bestimmte Räume: ein Duft zur Stimulierung des Einkaufsverhaltens im Verkaufsraum; ein Duft zur Steigerung der Konzentration im Büro; ein Duft zum Abbau von Angst im Wartezimmer des Arztes. Schmecken lernen heisst weise werden Das Schmecken ist der Innerste der Sinne. Es geht nicht nur unter die Haut, sondern reicht buchstäblich bis in die Eingeweide. Die Sprache verrät uns auch hier, wie sehr Schmecken für uns der Weg ist, mit der Welt eins zu werden. Die lateinische Sprache hat für „Schmecken“ und „Weise-Werden“ dasselbe Wort: sapere. Was wir schmecken, innerlich verkosten, ja geradezu wiederkäuen, das macht uns weise. Weniger ist oft mehr. Dies gilt für die leibliche wie für die geistige Nahrung. Ignatius von Loyola sagt es so: Nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern 4 das Schmecken und Verkosten der Dinge von innen her. Diese kurze Betrachtung der fünf Sinne hat gezeigt: Wer die Dinge draußen von innen her schmeckt und verkostet, ihren Duft aufnimmt, sie achtsam berührt, sie erlauscht und sehend wahrnimmt, bringt die Welt über die Sinne ins Innere. Diesen Prozess der Verinnerlichung hat Angelus Silesius treffend so verdichtet: Wer seine Sinne hat ins Innere gebracht, der hört, was man nicht red´t, und siehet in der Nacht. Die Sinne, die wir ins Innere wenden, verlieren nichts an Schärfe und Klarheit. Im Gegenteil: Das Sehen wird zum Schauen, das Hören zum Horchen, das Tasten zum Ergreifen und Ergriffensein, das Riechen und Schmecken zum Kosten und Verkosten. Auf diese Weise bringen uns die Sinne mit der ganzen Wirklichkeit – der inneren und der äußeren – in Verbindung und befreien uns von einer heillosen Zweiteilung. Also nicht draußen oder drinnen, sondern draußen und drinnen. Nicht ich oder die Welt, sondern die Welt und ich. Nicht Erde oder Himmel, sondern Erde und Himmel. Wer lernen möchte, solche Gegensätze zu überwinden, möge bei Jesus von Nazareth in die Schule gehen. Er liebte die Erde; seine wunderbaren Gleichnisse zeugen davon. Er verachtete nicht die Gaben der Natur. Mahlgemeinschaften waren ihm heilig, und er genoss es, eingeladen zu werden. Gelegentlich wurde er sogar als Fresser und Trinker verschrien. Zugleich aber richtete er sich nicht gemütlich in dieser Welt ein, sondern war ein Wanderprediger und hatte keine bleibende Stätte. Er neigte sich der Erde zu und erhob sein Herz zum Himmel. Der Mensch, der die Begegnung mit ihm sucht, wird befähigt, die Verbindung von Sinnlichem 5 und Übersinnlichem existentiell zu vollziehen – und Sinn zu erfahren. Sinn und Widersinn Es war bei einem Wochenende im Haus Maria Trost bei Graz. Ich legte in einem Vortrag dar, wie wir lernen könnten, glücklich zu sein, auch ohne Glück zu haben. Unter anderem zitierte ich das bekannte Wort aus der Zen-Tradition: Jeder Tag ein guter Tag. Dann erzählte ich folgende Geschichte: Einem Bauer lief das Pferd weg, das einzige, das er besaß. Die Nachbarn kamen, um ihn zu trösten: „Welch ein Unglück!“ Der Bauer sagte: „Vielleicht“. Drei Tage später kam sein Pferd mit einem anderen, halbwilden, zurück. Die Nachbarn gratulierten: „Welch ein Glück!“ Der Bauer sagte: „Vielleicht“. Der Sohn des Bauern, der einzige, den er hatte, wollte das fremde Pferd zureiten. Dieses scheute. Der Sohn fiel herunter und brach sich ein Bein. Die Nachbarn nahmen Anteil: „Welch ein Unglück!“ Der Bauer sagte: „Vielleicht“. Es gab Krieg. Alle Jungen wurden eingezogen außer dem Sohn des Bauern. Die Nachbarn kamen wieder und sagten zum Bauern: „Welch ein Glück!“ Der Bauer sagte: „Vielleicht“. In einem weiteren Vortrag sagte ich, ähnlich wie in dieser Geschichte könnten auch wir vielleicht nach Jahren in einem großen Verlust einen tieferen Sinn entdecken. Aber offenbar gelang es mir nicht, alle Hörerinnen und Hörer von der Möglichkeit zu überzeugen, im Widersinnigen Sinn zu erahnen. Im Grunde geht es auch nicht um ein Überzeugen sondern um ein Be-Zeugen. Wie auch immer, eine Frau schrieb mir nach dem Wochenende, wie ich dazu käme, jeden Tag einen guten Tag zu nennen bei so viel Not und Tod in der Welt. Ich versuchte ihr in einem Telefongespräch klar zu machen, dass es sich bei dem Satz 6 um ein Koan handle, das man nicht durch Überlegen und Raisonnieren lösen könne. Ohne eine tiefere Sicht der Dinge, ohne einen Blick für das Ganze, das Tod und Leben, Leben und Tod umfängt, sei ein solcher Satz in der Tat eine Zumutung, wenn nicht gar eine Beleidigung. Damit komme ich zurück zu den Ausführungen über die Sinne und den Sinn. Es gilt, den Satz „Es führt kein Weg zum Sinn, es sei denn über die Sinne“ weiterzudenken und zu fragen: Wie ist es mit den Sinnen und dem Sinn im Alter Sinn und Alter Wie wird es sein, wenn wir alt und müde werden, wenn die Sinne die Schärfe verlieren und wenn wir trotz Brille und Hörgerät nur schwer mit anderen kommunizieren können? Ein Mitbruder sagte mir kürzlich: „Im Alter nehmen alle Sinne ab, nur der Eigensinn nimmt zu.“ In der Tat, wir treffen gelegentlich alte Menschen, die sehr eigenwillig oder eben eigensinnig sind. Ich kenne aber auch solche, die in dieser Phase des Lebens sich dankbar des Vergangenen er-innern. Zu ihnen gehört Alfred Tomatis. In seiner Autobiographie hält er fest: „Für einen Menschen, der sich dem Ende seines irdischen Lebens nähert, ist es eine wesentliche Aufgabe, dass er die verschiedenen Pforten zu seinen innerlichen Bollwerken durchschreitet, die sich paradoxerweise um so stärker zum Unendlichen hin öffnen, je tiefer sie im eigenen Innersten begründet sind. Hier kristallisieren sich die Zeit in ihrer Ewigkeit und der Raum in seiner Unendlichkeit aus. Alles ist nur mehr Leben und Licht. Alles Sterben verblasst, die Schatten lösen sich auf.“ (Das Ohr und das Leben, Erfahrungen der seelischen Klangwelt, 2014). 7 Das ist sinnstiftende Verinnerlichung der Welt. Die letzte Stunde wird mich, so hoffe ich, mit verwandelten und radikal verinnerlichten Sinnen das schauen, hören, ertasten, riechen und schmecken lassen, was nach einem Wort der Schrift kein Aug’ gesehen, kein Ohr vernommen und was in keines Menschen Herz gedrungen ist. Bis es soweit ist, will ich gerne weiter meditieren und lernen, außen und innen zu verbinden und die Welt mitzugestalten. Niklaus Brantschen 8
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