Erhöhtes Anforderungsniveau Deutsch. Abiturprüfung 2015 Aufgabe I – Textinterpretation Aufgabenstellung 1. Interpretieren Sie den Auszug aus Hugo von Hofmannsthals lyrischem Drama Der Tor und der Tod unter Berücksichtigung der Frage, welche Funktion dem Auftritt des Todes zukommt. 2. Vergleichen Sie – ausgehend von Ihren Interpretationsergebnissen – Hofmannsthals Dramenauszug mit der ‚Gretchen‘-Tragödie aus Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil. Material Auszug aus: Hugo von Hofmannsthal: Der Tor und der Tod (1894) Claudio, ein Adeliger, sitzt in seinem Studierzimmer am Fenster und betrachtet die Landschaft in der untergehenden Abendsonne. Sein Blick schweift sehnsuchtsvoll über die fernen Ortschaften, deren Bewohner er um ihre Naturverbundenheit und ihre Einfachheit beneidet. Sein Studierzimmer ist ausgestattet mit erlesenen Kunstgegenständen und Altertümern, die er gesammelt hat, weil er sie einmal schön fand. Er denkt über sein Leben nach und beklagt seine Lebensleere, fühlt sich ausgeschlossen von allem Lebendigen. In der Tür erscheint der personifizierte Tod mit einer Geige am Gürtel, um ihn zu holen. Nacheinander lässt er drei Verstorbene auftreten: die Mutter, die Geliebte und den Jugendfreund, die nach einem Monolog die Bühne wieder verlassen. Die erste Verstorbene ist im unmittelbar vorausgegangenen Abschnitt die Mutter, die Claudios Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Sorge um ihn und seine Teilnahmslosigkeit an ihrer Einsamkeit beklagt. 5 10 […] Sie geht durch die Mitteltüre ab. CLAUDIO Mutter! DER TOD Schweig! Du bringst sie nicht zurück. CLAUDIO Ah! Mutter, komm! Laß mich dir einmal mit den Lippen hier, Den zuckenden, die immer schmalgepreßt, Hochmütig schwiegen, laß mich doch vor dir So auf den Knien … Ruf sie! Halt sie fest! Sie wollte nicht! Hast du denn nicht gesehn?! Was zwingst du sie, Entsetzlicher, zu gehn? DER TOD Laß mir, was mein. Dein w a r es. CLAUDIO Ah! und nie EA 2015-1 15 20 Gefühlt! Dürr, alles dürr! Wann hab ich je Gespürt, daß alle Wurzeln meines Seins Nach ihr sich zuckend drängten, ihre Näh’ Wie einer Gottheit Nähe wundervoll Durchschauert mich und quellend füllen soll Mit Menschensehnsucht, Menschenlust – und -weh?! Der Tod, um seine Klagen unbekümmert, spielt die Melodie eines alten Volksliedes. Langsam tritt ein junges Mädchen ein; sie trägt ein einfaches, großgeblümtes Kleid, Kreuzbandschuhe, um den Hals ein Stückchen Schleier, bloßer Kopf. 25 30 35 40 45 DAS JUNGE MÄDCHEN Es war doch schön … Denkst du nie mehr daran? Freilich, du hast mir weh getan, so weh … Allein was hört denn nicht in Schmerzen auf? Ich hab so wenig frohe Tag’ gesehn, Und die, die waren schön als wie ein Traum! Die Blumen vor dem Fenster, meine Blumen, Das kleine, wacklige Spinett, der Schrank, In den ich deine Briefe legte und Was du mir etwa schenktest … alles das – Lach mich nicht aus – das wurde alles schön Und redete mit wachen, lieben Lippen! Wenn nach dem schwülen Abend Regen kam Und wir am Fenster standen – ah der Duft Der nassen Bäume! – Alles das ist hin, Gestorben, was daran lebendig war! Und liegt in unsrer Liebe kleinem Grab. Allein es war so schön, und du bist schuld, Daß es so schön war. Und daß du mich dann Fortwarfest, achtlos grausam, wie ein Kind, Des Spielens müd, die Blumen fallen läßt … Mein Gott, ich hatte nichts, dich festzubinden. Kleine Pause. 50 55 Wie dann dein Brief, der letzte, schlimme, kam, Da wollt’ ich sterben. Nicht um dich zu quälen, Sag ich dir das. Ich wollte einen Brief Zum Abschied an dich schreiben, ohne Klag’, Nicht heftig, ohne wilde Traurigkeit; Nur so, daß du nach meiner Lieb’ und mir Noch einmal solltest Heimweh haben und Ein wenig weinen, weil’s dazu zu spät. Ich hab dir nicht geschrieben. Nein. Wozu? Was weiß denn ich, wieviel von deinem Herzen EA 2015-2 60 65 70 In all dem war, was meinen armen Sinn Mit Glanz und Fieber so erfüllte, daß Ich wie im Traum am lichten Tage ging. Aus Untreuʼ macht kein guter Wille Treu’, Und Tränen machen kein Erstorbnes wach. Man stirbt auch nicht daran. Viel später erst, Nach langem, ödem Elend durft’ ich mich Hinlegen, um zu sterben. Und ich bat, In deiner Todesstund’ bei dir zu sein. Nicht grauenvoll, um dich zu quälen nicht, Nur wie wenn einer einen Becher Wein Austrinkt und flüchtig ihn der Duft gemahnt An irgendwo vergeßne leise Lust. Sie geht ab; Claudio birgt sein Gesicht in den Händen. […] Aus: Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Hrsg. von Götz Eberhard Hübner, Klaus-Gerhard Pott, Christoph Michel. Band III, Dramen 1. Frankfurt am Main 1982, S. 74 –76. Druckbild und Interpunktion entsprechen dem Willen des Autors. Anmerkungen: Zeile 23: Kreuzbandschuhe: Frauenschuhe mit über Kreuz gelegten Bändern Zeile 23: bloßer Kopf: gemeint: ohne Kopfbedeckung Zeile 31: Spinett: altes Tasteninstrument Zeile 61: Erstorbnes: Vergangenes Hinweise und Tipps r Voraussetzungen r Es wurde als Bearbeitungsgrundlage ein Textauszug aus Hugo von Hofmannsthals r lyrischem Drama „Der Tor und der Tod“ gewählt, in dem Lebensfragen und Sinnr entwürfe im Angesicht des Todes reflektiert werden. Die Teilaufgabe 1 – eine Interr pretation des Textauszuges – setzt Kenntnisse aus den Rahmenthemen 2 (Drama und r Kommunikation – Pflichtmodul: Gestaltungsmittel des Dramas) und 4 (Vielfalt lyrir schen Sprechens – Pflichtmodul: Lebensfragen und Sinnentwürfe) voraus. In der r Teilaufgabe 2 ist ein Vergleich von Hofmannsthals Dramenauszug mit der Gretchenr Tragödie aus Goethes „Faust. Der Tragödie erster Teil“ zu leisten. Dadurch findet r zugleich das für den Abiturjahrgang 2015 verbindlich vorgeschriebene Wahlpflichtr modul „Goethes ,Faust‘“ sowie durch die multiplen Epochenbezüge des „Faust“ r auch das Rahmenthema „Literatur und Sprache um 1800“ Berücksichtigung. r Die Ergebnisse der ersten Teilaufgabe fließen zu 60 %, die der zweiten zu 40 % in die r Gesamtnote ein. Beide Aufgaben setzen voraus, dass Sie über ausgebildete Komper tenzen im Bereich der Textinterpretation verfügen. Für die gelungene Bearbeitung r der zweiten Teilaufgabe müssen Sie die im Unterricht erarbeiteten Interpretationserr gebnisse zu Goethes „Faust“ abrufen können, da nur so ein kriteriengestützter Verr gleich sinnvoll durchgeführt werden kann. EA 2015-3 r Erläuterung der Aufgabenstellung r Teilaufgabe 1: Der Operator „interpretieren“ verlangt eine Gesamtdeutung des vorr liegenden Textauszugs. Voraussetzung dafür ist eine gründliche Erschließung der r Textvorlage u. a. in Bezug auf Inhalt, Textstruktur und sprachliche Mittel. In den r Vorbemerkungen werden wichtige Informationen zu Figuren und Rahmenhandlung r gegeben, die zu berücksichtigen sind. Nach der Formulierung einer Interpretationsr hypothese müssen Sie die Erschließungsergebnisse in ihrer funktionalen Bezogenheit r aufeinander darstellen und deuten. Sie sollen ein aus den Ausführungen abgeleitetes r begründetes Urteil entwickeln. Da die Aufgabenstellung den dezidierten Hinweis r gibt, dass die Funktion des Auftritts des Todes zu berücksichtigen sei, sollten Sie r diesem Aspekt ausreichend Raum widmen. Auf eine sinnvolle Gliederung, einen anr gemessenen Ausdruck, die Verwendung von Fachsprache sowie korrektes Zitieren ist r zu achten. r Teilaufgabe 2: Die zweite Teilaufgabe fordert – ausgehend von den Interpretationsr ergebnissen der vorherigen Aufgabe – einen Vergleich von Hofmannsthals Dramenr auszug mit der Gretchen-Tragödie aus Goethes „Faust. Der Tragödie erster Teil“. r Bei einem Vergleich sind Unterschiede, Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zu err mitteln und sprachlich angemessen darzustellen. Die Aufgabe gibt keinen Hinweis r auf vorrangig zu betrachtende Vergleichsaspekte. Sie müssen sich daher zunächst r klar darüber werden, welche Aspekte sich für einen Vergleich eignen. Eine durchr gängige Aspektorientierung trägt in hohem Maße zu einer gelungenen Strukturierung r des Textes bei. Vermeiden Sie pauschalisierende Gemeinplätze und arbeiten Sie Ger meinsamkeiten und Unterschiede differenziert heraus. Lösungsvorschlag Teilaufgabe 1 Der vorliegende Auszug aus dem von Hugo von Hofmannsthal im Jahre 1894 verfassten lyrischen Drama Der Tor und der Tod thematisiert das zu späte, erst im Angesicht des Todes erreichte Erkennen von verfehlten Möglichkeiten, ein intensives, durch tiefe zwischenmenschliche Beziehungen bereichertes Leben zu führen. Der personifizierte Tod lässt den Adeligen Claudio in seiner letzten Stunde Monologen seiner verstorbenen Mutter und seiner ebenfalls verschiedenen ehemaligen Geliebten lauschen. Da beide sein kritikwürdiges Verhalten ihnen gegenüber darstellen, empfindet Claudio kurz vor seinem Ableben Scham und Reue angesichts seiner Verfehlungen und das Bedürfnis nach tiefer gehendem menschlichem Kontakt. Es steht zu jenem Zeitpunkt aber nicht mehr in seiner Macht, sich zu rehabilitieren und einen anderen Weg einzuschlagen. EA 2015-4 Einleitung: Figurenkonstellation und Rahmenhandlung Der Auszug, der sprachlich durch metrisches Sprechen in fünfhebigen Jamben mit überwiegend stumpfen Kadenzen gekennzeichnet ist, lässt sich inhaltlich in fünf Abschnitte gliedern. Im ersten Abschnitt (Z. 1– 20) werden Claudios verzweifelte emotionale Reaktion auf das Entschwinden seiner Mutter und sein neu entfachter Wunsch nach ihrer Nähe vermittelt. Das Ignorieren dieser Bitten durch den Tod sowie die Ankündigung und der Auftritt eines jungen Mädchens stehen im Zentrum des zweiten Abschnitts (Z. 21– 23). Es folgt ein Monolog der jungen Frau, in welchem sie die vergangene Liebesbeziehung zu Claudio reflektiert und Positives, aber auch die von ihr nicht gewollte abrupte Trennung darstellt (Z. 24 – 45). Ein weiterer Monolog des Mädchens schließt sich an. In diesem verbalisiert es seine Erinnerungen an das Ende der Beziehung, skizziert sein freudloses weiteres Leben und berichtet von seinem letzten Wunsch, Claudio bei dessen Ableben noch einmal nahe zu sein, um ihn an vergangene Freuden zu gemahnen (Z. 46 – 69). Dem Abtreten des Mädchens folgt Claudios Geste der Scham (Z. 70). Gliederung der Szene in fünf Abschnitte Konfrontiert mit den Ausführungen seiner Mutter, die Claudio seine Gleichgültigkeit gegenüber ihren Sorgen und ihrer Einsamkeit vorhält (vgl. Vorbemerkung), zeigt sich Claudio sehr aufgewühlt. Er ruft nach dem Entschwinden der Mutter nach ihr (vgl. Z. 2 und 5) und formuliert imperativisch: „Ruf sie! Halt sie fest!“ (Z. 9) Grund des emotionalen Aufruhrs, der sich auch durch Ausrufe ausdrückt (vgl. Z. 5 und 14), ist, dass er in dieser Situation auf sich selbst zurückgeworfen ist und zu erkennen vermag, dass er negative charakterliche Eigenschaften ausgebildet hat. So bezeichnet er sich selbst als „[h]ochmütig“ (Z. 8) und schweigsam (vgl. Z. 8) seiner Mutter gegenüber. Fanden ihre Sorgen um ihn zu ihren Lebzeiten nie Gehör bei ihm, will er sie nun auf Knien um Vergebung bitten: „[L]aß mich doch vor dir / So auf den Knien …“ (Z. 8 f.) Die Emotionalität der Situation spiegelt sich sprachlich auch in dem Satzabbruch wider. Zwar gelangt Claudio durch den Monolog der Mutter zu einer gewissen Selbsterkenntnis, will aber nicht final realisieren, dass auch seine Lebenszeit abgelaufen ist. In der Hoffnung auf einen qualitativen Neubeginn der Mutter-SohnBeziehung kritisiert er den personifizierten Tod dafür, ihm die Mutter wieder geraubt zu haben: „Was zwingst du sie, Entsetzlicher, zu gehn?“ (Z. 11). Der Tod erweist sich als überlegen und demonstriert – auch durch sein kurzes, apodiktisches Sprechen (vgl. Z. 3 f.) – seine Machtposition. Er lässt keinen Zweifel daran, dass Claudios Leben, das diesem in der Vergangenheit positive Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf zwischenmenschliche Beziehungen geboten hat, nun unwiderruflich vorbei ist: „Laß mir, 1. Abschnitt: Claudios Reaktion auf das Verschwinden der Mutter EA 2015-5
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