Politik FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG F R E I TAG , 2 6 . F E B RUA R 2 0 1 6 · NR . 4 8 · S E I T E 5 Im Gespräch: Der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk Australien will Militärausgaben stark erhöhen „Ich habe den Oligarchen die Staatsbetriebe weggenommen“ Herr Ministerpräsident, Sie waren einer der Anführer der demokratischen Revolution auf dem Majdan, aber einen Misstrauensantrag im Parlament haben Sie jetzt nur überstanden, weil viele Oligarchen, gegen die Sie damals kämpften, Ihnen geholfen haben. Ihre Gegner sagen nun, Sie seien eine Marionette der Clans. Und zu diesen Gegnern, die gegen mich gestimmt haben, gehören auch meine früheren Koalitionspartner – „Selbsthilfe“ und „Vaterland“ unter der früheren Ministerpräsidentin Julija Timoschenko. Die haben unsere Reformen nie unterstützt. Nicht unsere Sparpolitik, nicht unsere Haushaltsgesetze. In der Tat bekämpft Timoschenko Ihre Reform des Gasmarkts, obwohl das aus Sicht Ihrer westlichen Kreditgeber Ihre wichtigste Leistung ist. Sie hat es zu ihrer Zeit nicht geschafft, den Oligarchen Dmitro Firtasch aus dem Gasgeschäft zu drängen. Ich ja. Trotzdem hat ausgerechnet Firtaschs Partner Sergej Ljowotschkin, ehemals Kanzleichef des nach Russland geflohenen Präsidenten Janukowitsch, Ihnen beim Misstrauensvotum geholfen. Wie reimt sich das? Darüber sprechen wir noch. In der Koalition jedenfalls hat immer nur meine „Volksfront“ die Reformen unterstützt. Die übrigen drei haben die Umstrukturierung, die wir mit der Hilfe unserer westlichen Partner vorantreiben, nur widerwillig mitgetragen. Zu diesen dreien gehört die Partei Präsident Petro Poroschenkos. Tatsächlich werden wir nicht so sehr von der Opposition angegriffen als von unseren Koalitionspartnern. Einmal hat ein Mitglied des Blocks Poroschenko sogar versucht, mich mit Gewalt von der Rednertribüne zu zerren. Ich aber habe alles getan, um das Szenario von 2005 zu vermeiden, als nach der „Revolution in Orange“ das demokratische Lager in persönlichen Konkurrenzkämpfen zerfiel. Ihre Beliebtheit ist trotzdem bis gegen null gesunken. Ich habe einen hohen Preis gezahlt. Ich habe die unpopulären Reformen am Gasmarkt vorangetrieben, den Haushalt gerettet und die Präsidentenpartei nie angegriffen. Für mich ist es wichtiger, unsere Einheit zu wahren, als ein paar Beliebtheitspunkte zu gewinnen. Hat die Präsidentenfraktion versucht, Sie durch permanente Kritik zu verschleißen? Seine Fraktion wollte diese Reformen nicht. Sie haben sich immer nur nach den Umfragen gerichtet. Wir brauchen aber noch ein, zwei Jahre, bis unsere Wirtschaft wieder Schwung gewinnt und die Wirkungen kommen. In so einer Lage nach Popularität zu schielen ist ein Desaster. Ich sagte also zum Präsidenten: Wenn Sie mich nicht mehr wollen, müssen Sie eine neue Regierung bilden. Das werden Sie aber nicht können, und deshalb führt das zu vorgezogenen Wahlen. In der Zwischenzeit gäbe es niemanden, der unsere lebenswichtigen Kreditabkommen mit dem Internationalen Währungsfonds schließen kann. Betrifft Ihre Kritik auch die Präsidentenpartei, die formal ja noch in der Koalition ist? Absolut. Die Mehrheit von denen hat das Misstrauensvotum unterstützt, und damit haben sie versucht, unsere Reformen zu blockieren. Zugleich hat ein Drittel nicht mitgezogen – einschließlich der Führer der verfolgten Krimtataren. Sind das etwa die Oligarchen, von denen Sie sprachen? Mustafa Dschemiljow ist ein angesehener Dissident aus Sowjetzeiten. Aber es hat Sie eben auch der „Oppositionsblock“ der Oligarchen unterstützt. Sie haben mich nur unterstützt, weil bei meinem Sturz vorgezogene Wahlen unvermeidlich wären. Das wollen sie aber noch nicht. Sie wissen, bei dem gegenwärtigen Streit in der Koalition werden sie in einem Jahr stärker sein als heute. Sie wollen noch warten. Wenn die Oligarchen so viel Zeit haben, geht es ihnen ja anscheinend gar nicht so schlecht. Sehr viel Druck scheinen die von Ihnen jedenfalls nicht zu spüren. Die Fakten sind: Wir haben Firtasch ausgeschaltet. Wir haben den Ölkonzern Ukrnafta von diesen Typen zurückerobert. Wir haben ihre Steuern erhöht, wir haben keinen einzigen Staatskonzern an sie verschleudert. Zeigen Sie mir, was die von uns bekommen haben sollen! Es gibt immer wieder Betrug mit Staatsunternehmen. Nennen Sie bitte Fakten. Bei Verkäufen des Elektrokonzerns Elektrotjaschmasch ist die Hälfte des Gewinns bei einem obskuren Zwischenhändler gelandet. Das Staatsunternehmen Ukrenergo hat bei einem befreundeten Oligarchen Transformatoren für das Dreifache des Marktpreises einkaufen wollen. Nennen Sie mir eine Tatsache, die beweist, dass es zwischen mir persönlich und ukrainischen Oligarchen einen Deal gegeben hat – mit Achmetow, Kolomojskij oder sonst jemandem. Ich kann ein Mitglied Ihres eigenen Teams nennen, Innenminister Arsen Awakow, einen Mann Ihrer Partei. Die „Ukrainska Prawda“ hat Dokumente publiziert, denen zufolge er offenbar aktiv ein Unternehmen führt, obwohl er das nicht darf. Über Awakow später. Also: Was haben die Oligarchen von mir bekommen? – Hohe Steuern, Schluss mit betrügerischen Privatisierungen. Ich habe ihnen die Staatsbetriebe weggenommen, die sie gekapert hatten. Geben Sie mir ein belastendes Faktum. Mykola Martynenko, ein führender Abgeordneter Ihrer Fraktion, hat nach Ansicht schweizerischer Staatsanwälte seine Kontakte zur Atomindustrie genutzt, um von Zulieferern Bestechungsgelder zu kassieren. Das war vor meiner Amtsübernahme. Und Martynenko hat sein Mandat zurückgeben müssen. Erst als er dem öffentlichen Druck nicht mehr widerstehen konnte. Und sehen Sie sich diesen Druck an. Das war der Sender Sergej Ljowotschkins, Beliebtheitswerte, die gegen null gehen: Arsenij Jazenjuk Foto Alexander Tetschinski des früheren Kanzleichefs von Janukowitsch. Eine endlose Schlammschlacht. ich dereguliere, Bürokratie abbaue und die Gehälter erhöhe. Ist es da nicht überraschend, dass ausgerechnet dieser Ljowotschkin Ihnen jetzt beim Misstrauensvotum so freundlich geholfen hat? Er hat mir nicht geholfen. Er hat nur nicht mit abgestimmt. In der Tat wird ja auch im Westen Ihre Strukturreform auf dem Gasmarkt gelobt. Trotzdem gibt es immer wieder Fälle wie den Innenminister Awakow, dem ungesetzliche Wirtschaftstätigkeit vorgeworfen wird. Soweit ich weiß, ist das nicht wahr. Ich habe ihn gefragt und ihm gesagt: Wenn das stimmt, wirst du bestraft. Wenn nicht, geh vor Gericht. Und er hat versprochen, zu klagen. Und damit Ihre Haut gerettet. Er hat das getan, damit Sie jetzt kommen und mir solche Fragen stellen. Ein unglaublich schlaues politisches Tier. Und eines, das sich anscheinend von Ihrem Kampf gegen Korruption nicht sehr bedroht fühlt. Es ist nicht meine Aufgabe, jemanden zu bedrohen. Kann denn bei Ihnen Frau Merkel einfach jemanden hinter Gitter bringen? Der Ministerpräsident ist nicht der Generalstaatsanwalt. Und der Generalstaatsanwalt hat völlig versagt. Kein einziger großer Korruptionsfall ist vor Gericht gekommen. Hat aber nicht etwa auch Ihre Fraktion die Ernennung der bisherigen Amtsträger unterstützt? Ja, denn die Ernennung des Generalstaatsanwalts ist das Recht des Präsidenten. Aber das Parlament hat nicht die Pflicht, jedem Apparatschik das Vertrauen auszusprechen. Das ist das Tätigkeitsfeld des Präsidenten. Ich bin der Regierungschef. Ich kann Korruption nur dadurch bekämpfen, dass Sie haben im Augenblick keine Mehrheit. Timoschenkos „Vaterland“ und die „Selbsthilfe“ sind unter Korruptionsvorwürfen gegangen. Jetzt heißt es, dass der Nationalpopulist Oleh Ljaschko einspringen könnte. Am wichtigsten ist jetzt, wo der Block Poroschenko steht. Eine große Mehrheit der Präsidentenpartei hat den Misstrauensantrag gegen mich unterstützt. Jetzt will ich wissen, ob sie unsere nächsten Reformen mittragen. Wenn ja, können wir zusammen nach neuen Koalitionsmitgliedern suchen. Zum Beispiel unter den 51 Unabhängigen. Ich wäre außerdem froh, Ljaschko in der Koalition zu sehen. Einen Mann, den Amnesty International wegen angeblicher Gewaltexzesse als Kämpfer im Kriegsgebiet kritisiert hat und der den Minsker Friedensplan ablehnt? Er unterstützt unsere Reformen. Werden Sie von ihm verlangen, auch Minsk zu unterstützen? Wir hatten in Minsk zwei Optionen: eine schlechte und eine sehr schlechte. Wir haben die schlechte gewählt, und dazu gibt es keine Alternative. Hat die Präsidentenpartei die Reformagenda verraten, als sie Ihre Entlassung forderte? Sie handeln unter dem Druck von Umfragewerten. Eine Grundlage für staatsmännisches Handeln ist das nicht. Schließen Sie Poroschenko in diese Kritik ein? Der Präsident ist immer noch mein Partner. Wir haben mehrmals zusammen unpopuläre Reformschritte beschlossen. Das respektiere ich. Trotzdem erscheint die Koalition zerstritten, alle werfen einander Korruption vor. Wie sollen Ihre Partner in der EU jetzt ihre Wähler überzeugen, dass die teuren Sanktionen gegen Russland noch Sinn haben? Sehen Sie sich doch Ihr eigenes Land an. Sie haben auch Konflikte, zum Beispiel in der Flüchtlingskrise. So funktioniert Demokratie. Wenn uns das nicht gefällt, können wir es ja gleich machen wie Putin. Der wird sich freuen, wenn Sie so weitermachen, mit all den Korruptionsvorwürfen. Wo soll dann im Juni in der EU die Einigkeit über die Verlängerung der Sanktionen herkommen? Das ist der Grund, warum ich mir dauernd auf die Lippen beiße. Die Fragen stellte Konrad Schuller. fäh. SINGAPUR, 25. Februar. Als Reaktion auf die veränderte Machtbalance in Asien und neue Herausforderungen durch den Terrorismus und die Cyberkriegführung will Australien seine Militärausgaben in den kommenden zehn Jahren stark erhöhen. Bis zum Jahr 2026 will das Land insgesamt 195 Milliarden australische Dollar (127 Milliarden Euro) für die Modernisierung seiner Streitkräfte aufwenden. Der jährliche Militärhaushalt wird bis dahin um etwa 26 Milliarden australische Dollar (17 Milliarden Euro) erhöht, heißt es in dem neuen Weißbuch zur Verteidigung, das Ministerpräsident Malcolm Turnball am Donnerstag in Canberra vorstellte. Das Ziel, die Militärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, soll nun bereits im Jahr 2021 erreicht werden, früher als bisher geplant. So sollen unter anderem 2500 neue Militärposten geschaffen werden, darunter alleine neunhundert Arbeitsplätze für den Kampf gegen Cyperattacken und zur Spionageabwehr. Die U-Bootflotte wird laut dem Weißbuch auf insgesamt 24 Boote verdoppelt, zudem sollen drei neue Zerstörer, neun weitere Fregatten sowie zwölf Küstenpatrouillenboote angeschafft werden. Geplant ist darüber hinaus die Anschaffung neuer Aufklärungsdrohnen und -Flugzeuge sowie eine Verstärkung der Luftverteidigung. Die Modernisierung der Seestreitkräfte sei ein Hauptfokus in den kommenden zwanzig bis dreißig Jahren, heißt es in dem Weißbuch. Etwa ein Viertel des Geldes soll dafür verwendet werden. Das mit Abstand größte Projekt dürfte die geplante Anschaffung von zwölf Unterseebooten sein. Die Kosten dafür werden auf mehr als fünfzig Milliarden australische Dollar geschätzt (33 Milliarden Euro). Um den U-Boot-Auftrag bemüht sich auch das deutsche Unternehmen ThyssenKrupp Marine Systems, das anbietet, die Boote in Australien zu bauen. Nach Einschätzung von Beobachtern könnte der Auftrag allerdings aus strategischen Gründen an die japanische oder französische Konkurrenz gehen. Der Bau der Unterseeboote soll 2018 beginnen. Das australische Strategiepapier weist stärker als in früheren Weißbüchern auf die Spannungen in der Region hin, insbesondere auf die Gebietskonflikte im Ostchinesischen und im Südchinesischen Meer. Die Region stehe vor gewaltigen Veränderungen, heißt es in dem Weißbuch: „In den nächsten zwanzig Jahren werden die Hälfte aller U-Boote weltweit und mindestens die Hälfte aller modernen Kampfflugzeuge in dieser Region stationiert sein.“ Chinas Rolle wird dabei meist implizit, aber in vielen Passagen auch deutlich offener kritisiert als in früheren Weißbüchern. In den vergangenen Tagen war bekannt geworden, dass China Raketen und Kampfflugzeuge auf Inseln in den umstrittenen Gebieten des Südchinesischen Meeres stationiert hat. In ihrem Weißbuch schreiben die Australier nun, dass die Aufschüttung von Land auf den umstrittenen Inseln in dem Gebiet die Spannungen erhöht habe. Eine Sprecherin des Außenministeriums in Peking sagte, China sei „unzufrieden“ mit der „negativen“ Darstellung der Volksrepublik in dem Weißbuch. Chronik eines angekündigten Todes Irland befindet sich wirtschaftlich deutlich im Aufwind. Trotzdem droht Ministerpräsident Kenny der Machtverlust. Denn viele Leute haben von der Erholung kaum profitiert. Von Jochen Buchsteiner DUBLIN, 25. Februar in blasser Premierminister blickt die Iren von den Laternenpfählen der Hauptstadt an. „Weiter auf dem Weg zur Erholung“, rät er auf den Wahlplakaten. Das klingt vernünftig, denn seit Enda Kenny regiert, geht es mit Irland wieder bergauf. Aber seine Botschaft scheint nicht zu verfangen. Wenn die Umfragen stimmen, werden Kennys Fine Gael und sein Koalitionpartner, die Labour Party, an diesem Freitag von den irischen Wählern bestraft. So schwach droht das Regierungsbündnis abzuschneiden, dass ein Machtverlust möglich ist. Das liegt vor allem an der Labour Party, die in Irland nie so stark war wie im benachbarten Großbritannien, aber in den Wahlen auf das Format einer Splitterpartei schrumpfen könnte; bei vier Prozent sehen sie einige Umfragen. Der Publizist Fintan O’Toole spricht von einer Implosion und erklärt den bevorstehenden Absturz als ein „Drama, das im ersten Akt entschieden wurde“: Nach dem Regierungseintritt der Labour Party vor fünf Jahren hätten deren Wähler erwartet, dass sich die Partei gegen die „Ungerechtigkeiten der Austeritätspolitik“ auflehne. Doch als nach wenigen Monaten klargeworden E sei, dass Labour „mit Frankfurts Kurs kuschelt“, habe die „Chronik eines angekündigten Todes“ begonnen. In abgeschwächter Form gilt dies auch für den Regierungschef. Kenny und seine konservative Fine Gael waren im Frühjahr 2011 ebenfalls angetreten, um die Härten des von der EU verfügten Sparkurses sozialverträglicher zu gestalten. Mit einem fulminanten Ergebnis jagte die Fine Gael den Erzrivalen, die ebenfalls konservative Fianna Fáil, aus der Regierung, ja mehr noch: Sie dezimierte deren Sitze (von 71 auf 21). Für die stolze Fianna Fáil, die sich als eine Art Staatspartei betrachtet, war dies eine Demütigung sondergleichen. In den achtzig Jahren seit ihrer Gründung saß sie nur ein Viertel der Zeit auf der Oppositionsbank. Die Wahl von 2011 galt als Rache der Wähler an den Erfindern des „Keltischen Tigers“. Unter Fianna Fáil, die zuletzt mit den Grünen regiert hatte, hatte Irland jenen sagenhaften Wirtschaftsaufschwung genommen, den euphorisierte Beobachter nur noch mit den Erfolgen der asiatischen „Tigerstaaten“ in den achtziger und frühen neunziger Jahren vergleichen wollten. Leider galt die Parallele auch für den folgenden Absturz. Nur wenige Länder wurden von der Finanzkrise 2008 derart brutal erfasst wie das durch Auslandsinvestitionen und Kredite boomende Irland. Das Bruttoinlandsprodukt raste nach unten, die Arbeitslosigkeit nach oben. Das Land stand vor der Zahlungsunfähigkeit. Daran gemessen, ist die Irische Republik heute geheilt. Schmerzhafte Sparmaßnahmen haben dabei geholfen. Seit zwei Jahren wächst die Volkswirtschaft mit derzeit sieben Prozent wieder schneller als in jedem anderen Euroland. Die Arbeitslosigkeit ging stark zurück, trifft mit weiterhin mehr als acht Prozent aber vor allem die unteren Schichten der Gesellschaft. Von einer „Zwei-Klassen-Erholung“ sprechen manche. Dennoch hat sich die Stimmung ins Positive gedreht. „Wenn Sie durch die Zweckehe im Winter: Kenny und die Labour-Vorsitzende Joan Burton in Dublin Innenstadtviertel Dublins laufen, können Sie sagen: Die Krise ist vorbei“, sagt Gael McElroy, Leiterin des Instituts für Politische Wissenschaften am Trinity College Dublin. „Freitagabend bekommen Sie hier in den Restaurants keinen Tisch mehr.“ Dass die Koalition für die Trendumkehr bestraft werden soll, nennt die Politikwissenschaftlerin „bizarr“ – umso mehr, als die Oppositionsparteien keine Alternativen anböten. „Die Parteien auf der Rechten und auf der Linken versprechen im Großen und Ganzen das Gleiche“, sagt McElroy. Dies, fügt sie an, sei allerdings nichts Neues. Der Mangel an ideologischer Konkurrenz gehöre zur „Natur iri- Foto AFP scher Politik“. Am ehesten, prophezeien die Meinungsforscher, würden wohl die parteiunabhängigen Kandidaten profitieren. Ihr Anteil im nächsten Parlament könnte auf bis zu zwanzig Prozent steigen. Ein Stimmenzuwachs wird auch der Sinn Féin zugetraut, wenngleich dieser geringer ausfallen dürfte, als noch vor einigen Wochen angenommen. Die sozialistische Partei ist die einzige gesamtirische Kraft und spielt auch wegen ihrer früheren Verbindung zur Irisch-Republikanischen Armee (IRA) eine Sonderrolle in der Republik. Ihr Anführer Gerry Adams bestreitet bis heute, in deren Kommandostrukturen eingebunden gewesen zu sein, aber kaum jemand in Irland zweifelt daran, dass er die IRA angeführt hat. Adams gehört – neben Kenny und den Vorsitzenden der Fianna Fáil und der Labour Party, Michael Martin und Joan Burton – zu den „großen vier“, die zu den Wahldebatten ins Fernsehen eingeladen werden. Die Distanz, die die anderen zu ihm halten, überträgt sich auch über die Mattscheibe. Adams Forderung nach einer Justizreform zählte zu den wenigen Streitpunkten in diesem „ereignislosen und öden Wahlkampf“ (McElroy). Sinn Féin will die sogenannten Sonderstrafgerichte abschaffen, vor denen „Staatsverbrechen“ verhandelt werden, und stattdessen wieder Geschworenenverfahren einführen. Auch Menschenrechtsorganisationen haben die Sonderstrafgerichte kritisiert, und doch befürchten viele Iren, eine Laien-Jury könnte allzu leicht von gewaltbereiten Gruppierungen unter Druck gesetzt werden. Wie schwer es ist, klare Linien zwischen der Sinn Fein und kriminellen Banden zu ziehen, wurde den Iren Anfang des Monats drastisch in Erinnerung gerufen: Sechs als Polizisten verkleidete Männer stürmten ein Hotel in Dublin und ermordeten einen Mann – vermutlich als Racheakt. Einer Selbstbezichtigung der „Continuity Irish Republican Army“, einer der Splittergruppen der offiziell aufgelösten IRA, folgte am Tag darauf ein Dementi. Eingeordnet wird der Mord wohl im Graubereich zwischen Politik und organisierter Kriminalität. Keine Rolle spielten im Wahlkampf die beiden Themen, die fast alle anderen Länder in Europa beschäftigen: die EU und die Migrationskrise. Die euroskeptischste Kraft unter den größeren Parteien ist die Sinn Féin, und nicht einmal die will der Union den Rücken kehren. Dass die Stimmung in Irland so viel Brüssel-freundlicher ist als in den „Rettungsschirmländern“ Südeuropas, erklärt McElroy mit dem anderen Selbstverständnis der Iren: einer Mischung aus Verantwortungsbewusstsein und Dankbarkeit. „Wir glauben, dass wir uns im Prinzip selbst in die Misere geritten haben – und von der EU wieder rausgehauen wurden.“ Auch die Migrationskrise ist den Iren fern. Geschützt vom Meer, entscheiden sie in aller Ruhe, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen wollen. Die Zusage der Regierung zur Aufnahme von 4000 Syrern in den kommenden vier Jahren werde von der überwältigenden Mehrheit der Iren als maßvoll angesehen, sagt McElroy. Mit dem massiven Zuzug aus Polen und dem Baltikum habe Irland wegen deren „kultureller Nähe“ keine Schwierigkeiten. Unruhe habe nur der Zuzug aus Westafrika erregt, weshalb die Einwanderungsregelungen verschärft wurden. Die deutsche Willkommenskultur hielten ihre Landsleute für „naiv“, sagt die Politikwissenschaftlerin. Fast alle Parteien versprechen den Wählern das Gleiche: mehr staatliche Investitionen, vor allem in den Gesundheitssektor, sowie die Senkung unterschiedlicher Steuern und Abgaben. Das sollte eine Regierungsbildung eigentlich einfach machen, doch viele sind besorgt um die Stabilität der irischen Politik. Sollte es Kenny nicht gelingen, mit Hilfe unabhängiger Kandidaten und kleinerer Parteien an der Macht zu bleiben, könnte der einzige Ausweg in Neuwahlen liegen – oder in einem historischen Novum: einer „Großen Koalition“ zwischen Fine Gael und Fianna Fáil, von manchen schon „Fianna Gael“ genannt. Programmatisch, glaubt McElroy, würden die beiden Mitte-rechts-Parteien ideal zusammenpassen, aber es gelte, tief in die Vergangenheit zurückreichende Animositäten zu überwinden. In der Zeit des Unabhängigkeitskampfes in den zwanziger Jahren spalteten sich die Parteien über die Frage, wie weit den britischen „Besatzern“ entgegenzukommen sei. Dieser Streit ragt nicht mehr in die Gegenwart, aber geblieben ist das Misstrauen. Leo Varadkar, der populäre Gesundheitsminister der Fine Gael, schrieb am Donnerstag in der Zeitung „Irish Independent“, eine große Koalition wäre ein „Albtraum“.
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