Chronik eines angekündigten Todes

Politik
FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG
F R E I TAG , 2 6 . F E B RUA R 2 0 1 6 · NR . 4 8 · S E I T E 5
Im Gespräch: Der ukrainische Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk
Australien will
Militärausgaben
stark erhöhen
„Ich habe den Oligarchen die Staatsbetriebe weggenommen“
Herr Ministerpräsident, Sie waren einer
der Anführer der demokratischen Revolution auf dem Majdan, aber einen Misstrauensantrag im Parlament haben Sie
jetzt nur überstanden, weil viele Oligarchen, gegen die Sie damals kämpften, Ihnen geholfen haben. Ihre Gegner sagen
nun, Sie seien eine Marionette der
Clans.
Und zu diesen Gegnern, die gegen
mich gestimmt haben, gehören auch meine früheren Koalitionspartner – „Selbsthilfe“ und „Vaterland“ unter der früheren
Ministerpräsidentin Julija Timoschenko.
Die haben unsere Reformen nie unterstützt. Nicht unsere Sparpolitik, nicht unsere Haushaltsgesetze.
In der Tat bekämpft Timoschenko Ihre
Reform des Gasmarkts, obwohl das aus
Sicht Ihrer westlichen Kreditgeber Ihre
wichtigste Leistung ist.
Sie hat es zu ihrer Zeit nicht geschafft,
den Oligarchen Dmitro Firtasch aus dem
Gasgeschäft zu drängen. Ich ja.
Trotzdem hat ausgerechnet Firtaschs
Partner Sergej Ljowotschkin, ehemals
Kanzleichef des nach Russland geflohenen Präsidenten Janukowitsch, Ihnen
beim Misstrauensvotum geholfen. Wie
reimt sich das?
Darüber sprechen wir noch. In der Koalition jedenfalls hat immer nur meine
„Volksfront“ die Reformen unterstützt.
Die übrigen drei haben die Umstrukturierung, die wir mit der Hilfe unserer westlichen Partner vorantreiben, nur widerwillig mitgetragen.
Zu diesen dreien gehört die Partei Präsident Petro Poroschenkos.
Tatsächlich werden wir nicht so sehr
von der Opposition angegriffen als von
unseren Koalitionspartnern. Einmal hat
ein Mitglied des Blocks Poroschenko sogar versucht, mich mit Gewalt von der
Rednertribüne zu zerren. Ich aber habe alles getan, um das Szenario von 2005 zu
vermeiden, als nach der „Revolution in
Orange“ das demokratische Lager in persönlichen Konkurrenzkämpfen zerfiel.
Ihre Beliebtheit ist trotzdem bis gegen
null gesunken.
Ich habe einen hohen Preis gezahlt. Ich
habe die unpopulären Reformen am Gasmarkt vorangetrieben, den Haushalt gerettet und die Präsidentenpartei nie angegriffen. Für mich ist es wichtiger, unsere Einheit zu wahren, als ein paar Beliebtheitspunkte zu gewinnen.
Hat die Präsidentenfraktion versucht,
Sie durch permanente Kritik zu verschleißen?
Seine Fraktion wollte diese Reformen
nicht. Sie haben sich immer nur nach den
Umfragen gerichtet. Wir brauchen aber
noch ein, zwei Jahre, bis unsere Wirtschaft wieder Schwung gewinnt und die
Wirkungen kommen. In so einer Lage
nach Popularität zu schielen ist ein Desaster. Ich sagte also zum Präsidenten: Wenn
Sie mich nicht mehr wollen, müssen Sie
eine neue Regierung bilden. Das werden
Sie aber nicht können, und deshalb führt
das zu vorgezogenen Wahlen. In der Zwischenzeit gäbe es niemanden, der unsere
lebenswichtigen Kreditabkommen mit
dem Internationalen Währungsfonds
schließen kann.
Betrifft Ihre Kritik auch die Präsidentenpartei, die formal ja noch in der Koalition ist?
Absolut. Die Mehrheit von denen hat das
Misstrauensvotum unterstützt, und damit
haben sie versucht, unsere Reformen zu blockieren. Zugleich hat ein Drittel nicht mitgezogen – einschließlich der Führer der verfolgten Krimtataren. Sind das etwa die Oligarchen, von denen Sie sprachen?
Mustafa Dschemiljow ist ein angesehener Dissident aus Sowjetzeiten. Aber es
hat Sie eben auch der „Oppositionsblock“ der Oligarchen unterstützt.
Sie haben mich nur unterstützt, weil
bei meinem Sturz vorgezogene Wahlen
unvermeidlich wären. Das wollen sie aber
noch nicht. Sie wissen, bei dem gegenwärtigen Streit in der Koalition werden sie in
einem Jahr stärker sein als heute. Sie wollen noch warten.
Wenn die Oligarchen so viel Zeit haben,
geht es ihnen ja anscheinend gar nicht so
schlecht. Sehr viel Druck scheinen die
von Ihnen jedenfalls nicht zu spüren.
Die Fakten sind: Wir haben Firtasch
ausgeschaltet. Wir haben den Ölkonzern
Ukrnafta von diesen Typen zurückerobert. Wir haben ihre Steuern erhöht, wir
haben keinen einzigen Staatskonzern an
sie verschleudert. Zeigen Sie mir, was die
von uns bekommen haben sollen!
Es gibt immer wieder Betrug mit Staatsunternehmen.
Nennen Sie bitte Fakten.
Bei Verkäufen des Elektrokonzerns Elektrotjaschmasch ist die Hälfte des Gewinns bei einem obskuren Zwischenhändler gelandet. Das Staatsunternehmen Ukrenergo hat bei einem befreundeten Oligarchen Transformatoren für das
Dreifache des Marktpreises einkaufen
wollen.
Nennen Sie mir eine Tatsache, die beweist, dass es zwischen mir persönlich
und ukrainischen Oligarchen einen Deal
gegeben hat – mit Achmetow, Kolomojskij oder sonst jemandem.
Ich kann ein Mitglied Ihres eigenen
Teams nennen, Innenminister Arsen
Awakow, einen Mann Ihrer Partei. Die
„Ukrainska Prawda“ hat Dokumente publiziert, denen zufolge er offenbar aktiv
ein Unternehmen führt, obwohl er das
nicht darf.
Über Awakow später. Also: Was haben
die Oligarchen von mir bekommen? –
Hohe Steuern, Schluss mit betrügerischen
Privatisierungen. Ich habe ihnen die
Staatsbetriebe weggenommen, die sie gekapert hatten. Geben Sie mir ein belastendes Faktum.
Mykola Martynenko, ein führender Abgeordneter Ihrer Fraktion, hat nach Ansicht schweizerischer Staatsanwälte seine Kontakte zur Atomindustrie genutzt,
um von Zulieferern Bestechungsgelder
zu kassieren.
Das war vor meiner Amtsübernahme.
Und Martynenko hat sein Mandat zurückgeben müssen.
Erst als er dem öffentlichen Druck nicht
mehr widerstehen konnte.
Und sehen Sie sich diesen Druck an.
Das war der Sender Sergej Ljowotschkins,
Beliebtheitswerte, die gegen null gehen: Arsenij Jazenjuk
Foto Alexander Tetschinski
des früheren Kanzleichefs von Janukowitsch. Eine endlose Schlammschlacht.
ich dereguliere, Bürokratie abbaue und
die Gehälter erhöhe.
Ist es da nicht überraschend, dass ausgerechnet dieser Ljowotschkin Ihnen jetzt
beim Misstrauensvotum so freundlich
geholfen hat?
Er hat mir nicht geholfen. Er hat nur
nicht mit abgestimmt.
In der Tat wird ja auch im Westen Ihre
Strukturreform auf dem Gasmarkt gelobt. Trotzdem gibt es immer wieder Fälle wie den Innenminister Awakow, dem
ungesetzliche Wirtschaftstätigkeit vorgeworfen wird.
Soweit ich weiß, ist das nicht wahr. Ich
habe ihn gefragt und ihm gesagt: Wenn
das stimmt, wirst du bestraft. Wenn nicht,
geh vor Gericht. Und er hat versprochen,
zu klagen.
Und damit Ihre Haut gerettet.
Er hat das getan, damit Sie jetzt kommen und mir solche Fragen stellen. Ein
unglaublich schlaues politisches Tier.
Und eines, das sich anscheinend von Ihrem Kampf gegen Korruption nicht sehr
bedroht fühlt.
Es ist nicht meine Aufgabe, jemanden
zu bedrohen. Kann denn bei Ihnen Frau
Merkel einfach jemanden hinter Gitter
bringen? Der Ministerpräsident ist nicht
der Generalstaatsanwalt.
Und der Generalstaatsanwalt hat völlig
versagt. Kein einziger großer Korruptionsfall ist vor Gericht gekommen. Hat
aber nicht etwa auch Ihre Fraktion die
Ernennung der bisherigen Amtsträger
unterstützt?
Ja, denn die Ernennung des Generalstaatsanwalts ist das Recht des Präsidenten.
Aber das Parlament hat nicht die
Pflicht, jedem Apparatschik das Vertrauen auszusprechen.
Das ist das Tätigkeitsfeld des Präsidenten. Ich bin der Regierungschef. Ich kann
Korruption nur dadurch bekämpfen, dass
Sie haben im Augenblick keine Mehrheit. Timoschenkos „Vaterland“ und die
„Selbsthilfe“ sind unter Korruptionsvorwürfen gegangen. Jetzt heißt es, dass der
Nationalpopulist Oleh Ljaschko einspringen könnte.
Am wichtigsten ist jetzt, wo der Block
Poroschenko steht. Eine große Mehrheit
der Präsidentenpartei hat den Misstrauensantrag gegen mich unterstützt. Jetzt
will ich wissen, ob sie unsere nächsten Reformen mittragen. Wenn ja, können wir
zusammen nach neuen Koalitionsmitgliedern suchen. Zum Beispiel unter den 51
Unabhängigen. Ich wäre außerdem froh,
Ljaschko in der Koalition zu sehen.
Einen Mann, den Amnesty International
wegen angeblicher Gewaltexzesse als
Kämpfer im Kriegsgebiet kritisiert hat
und der den Minsker Friedensplan ablehnt?
Er unterstützt unsere Reformen.
Werden Sie von ihm verlangen, auch
Minsk zu unterstützen?
Wir hatten in Minsk zwei Optionen:
eine schlechte und eine sehr schlechte.
Wir haben die schlechte gewählt, und
dazu gibt es keine Alternative.
Hat die Präsidentenpartei die Reformagenda verraten, als sie Ihre Entlassung
forderte?
Sie handeln unter dem Druck von Umfragewerten. Eine Grundlage für staatsmännisches Handeln ist das nicht.
Schließen Sie Poroschenko in diese Kritik ein?
Der Präsident ist immer noch mein
Partner. Wir haben mehrmals zusammen
unpopuläre Reformschritte beschlossen.
Das respektiere ich.
Trotzdem erscheint die Koalition zerstritten, alle werfen einander Korruption
vor. Wie sollen Ihre Partner in der EU
jetzt ihre Wähler überzeugen, dass die
teuren Sanktionen gegen Russland noch
Sinn haben?
Sehen Sie sich doch Ihr eigenes Land
an. Sie haben auch Konflikte, zum Beispiel in der Flüchtlingskrise. So funktioniert Demokratie. Wenn uns das nicht gefällt, können wir es ja gleich machen wie
Putin.
Der wird sich freuen, wenn Sie so weitermachen, mit all den Korruptionsvorwürfen. Wo soll dann im Juni in der EU die
Einigkeit über die Verlängerung der
Sanktionen herkommen?
Das ist der Grund, warum ich mir dauernd auf die Lippen beiße.
Die Fragen stellte Konrad Schuller.
fäh. SINGAPUR, 25. Februar. Als Reaktion auf die veränderte Machtbalance in Asien und neue Herausforderungen durch den Terrorismus und die Cyberkriegführung will Australien seine
Militärausgaben in den kommenden
zehn Jahren stark erhöhen. Bis zum
Jahr 2026 will das Land insgesamt 195
Milliarden australische Dollar (127 Milliarden Euro) für die Modernisierung
seiner Streitkräfte aufwenden. Der jährliche Militärhaushalt wird bis dahin um
etwa 26 Milliarden australische Dollar
(17 Milliarden Euro) erhöht, heißt es in
dem neuen Weißbuch zur Verteidigung, das Ministerpräsident Malcolm
Turnball am Donnerstag in Canberra
vorstellte. Das Ziel, die Militärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, soll nun bereits
im Jahr 2021 erreicht werden, früher
als bisher geplant.
So sollen unter anderem 2500 neue
Militärposten geschaffen werden, darunter alleine neunhundert Arbeitsplätze für den Kampf gegen Cyperattacken
und zur Spionageabwehr. Die U-Bootflotte wird laut dem Weißbuch auf insgesamt 24 Boote verdoppelt, zudem sollen drei neue Zerstörer, neun weitere
Fregatten sowie zwölf Küstenpatrouillenboote angeschafft werden. Geplant
ist darüber hinaus die Anschaffung neuer Aufklärungsdrohnen und -Flugzeuge
sowie eine Verstärkung der Luftverteidigung. Die Modernisierung der Seestreitkräfte sei ein Hauptfokus in den
kommenden zwanzig bis dreißig Jahren, heißt es in dem Weißbuch. Etwa
ein Viertel des Geldes soll dafür verwendet werden. Das mit Abstand größte Projekt dürfte die geplante Anschaffung von zwölf Unterseebooten sein.
Die Kosten dafür werden auf mehr als
fünfzig Milliarden australische Dollar
geschätzt (33 Milliarden Euro). Um den
U-Boot-Auftrag bemüht sich auch das
deutsche Unternehmen ThyssenKrupp Marine Systems, das anbietet,
die Boote in Australien zu bauen. Nach
Einschätzung von Beobachtern könnte
der Auftrag allerdings aus strategischen
Gründen an die japanische oder französische Konkurrenz gehen. Der Bau der
Unterseeboote soll 2018 beginnen.
Das australische Strategiepapier
weist stärker als in früheren Weißbüchern auf die Spannungen in der Region
hin, insbesondere auf die Gebietskonflikte im Ostchinesischen und im Südchinesischen Meer. Die Region stehe
vor gewaltigen Veränderungen, heißt es
in dem Weißbuch: „In den nächsten
zwanzig Jahren werden die Hälfte aller
U-Boote weltweit und mindestens die
Hälfte aller modernen Kampfflugzeuge
in dieser Region stationiert sein.“ Chinas Rolle wird dabei meist implizit, aber
in vielen Passagen auch deutlich offener
kritisiert als in früheren Weißbüchern.
In den vergangenen Tagen war bekannt geworden, dass China Raketen
und Kampfflugzeuge auf Inseln in den
umstrittenen Gebieten des Südchinesischen Meeres stationiert hat. In ihrem
Weißbuch schreiben die Australier nun,
dass die Aufschüttung von Land auf den
umstrittenen Inseln in dem Gebiet die
Spannungen erhöht habe. Eine Sprecherin des Außenministeriums in Peking
sagte, China sei „unzufrieden“ mit der
„negativen“ Darstellung der Volksrepublik in dem Weißbuch.
Chronik eines angekündigten Todes
Irland befindet sich
wirtschaftlich deutlich
im Aufwind. Trotzdem
droht Ministerpräsident
Kenny der Machtverlust.
Denn viele Leute haben
von der Erholung kaum
profitiert.
Von Jochen Buchsteiner
DUBLIN, 25. Februar
in blasser Premierminister blickt
die Iren von den Laternenpfählen
der Hauptstadt an. „Weiter auf dem
Weg zur Erholung“, rät er auf den Wahlplakaten. Das klingt vernünftig, denn seit
Enda Kenny regiert, geht es mit Irland
wieder bergauf. Aber seine Botschaft
scheint nicht zu verfangen. Wenn die Umfragen stimmen, werden Kennys Fine
Gael und sein Koalitionpartner, die Labour Party, an diesem Freitag von den irischen Wählern bestraft.
So schwach droht das Regierungsbündnis abzuschneiden, dass ein Machtverlust
möglich ist. Das liegt vor allem an der Labour Party, die in Irland nie so stark war
wie im benachbarten Großbritannien,
aber in den Wahlen auf das Format einer
Splitterpartei schrumpfen könnte; bei vier
Prozent sehen sie einige Umfragen. Der Publizist Fintan O’Toole spricht von einer Implosion und erklärt den bevorstehenden
Absturz als ein „Drama, das im ersten Akt
entschieden wurde“: Nach dem Regierungseintritt der Labour Party vor fünf Jahren hätten deren Wähler erwartet, dass
sich die Partei gegen die „Ungerechtigkeiten der Austeritätspolitik“ auflehne. Doch
als nach wenigen Monaten klargeworden
E
sei, dass Labour „mit Frankfurts Kurs kuschelt“, habe die „Chronik eines angekündigten Todes“ begonnen.
In abgeschwächter Form gilt dies auch
für den Regierungschef. Kenny und seine
konservative Fine Gael waren im Frühjahr 2011 ebenfalls angetreten, um die
Härten des von der EU verfügten Sparkurses sozialverträglicher zu gestalten. Mit einem fulminanten Ergebnis jagte die Fine
Gael den Erzrivalen, die ebenfalls konservative Fianna Fáil, aus der Regierung, ja
mehr noch: Sie dezimierte deren Sitze
(von 71 auf 21). Für die stolze Fianna Fáil,
die sich als eine Art Staatspartei betrachtet, war dies eine Demütigung sondergleichen. In den achtzig Jahren seit ihrer
Gründung saß sie nur ein Viertel der Zeit
auf der Oppositionsbank.
Die Wahl von 2011 galt als Rache der
Wähler an den Erfindern des „Keltischen
Tigers“. Unter Fianna Fáil, die zuletzt mit
den Grünen regiert hatte, hatte Irland jenen sagenhaften Wirtschaftsaufschwung
genommen, den euphorisierte Beobachter
nur noch mit den Erfolgen der asiatischen
„Tigerstaaten“ in den achtziger und frühen neunziger Jahren vergleichen wollten.
Leider galt die Parallele auch für den folgenden Absturz. Nur wenige Länder wurden von der Finanzkrise 2008 derart brutal erfasst wie das durch Auslandsinvestitionen und Kredite boomende Irland. Das
Bruttoinlandsprodukt raste nach unten,
die Arbeitslosigkeit nach oben. Das Land
stand vor der Zahlungsunfähigkeit.
Daran gemessen, ist die Irische Republik heute geheilt. Schmerzhafte Sparmaßnahmen haben dabei geholfen. Seit zwei
Jahren wächst die Volkswirtschaft mit derzeit sieben Prozent wieder schneller als in
jedem anderen Euroland. Die Arbeitslosigkeit ging stark zurück, trifft mit weiterhin
mehr als acht Prozent aber vor allem die
unteren Schichten der Gesellschaft. Von
einer „Zwei-Klassen-Erholung“ sprechen
manche. Dennoch hat sich die Stimmung
ins Positive gedreht. „Wenn Sie durch die
Zweckehe im Winter: Kenny und die Labour-Vorsitzende Joan Burton in Dublin
Innenstadtviertel Dublins laufen, können
Sie sagen: Die Krise ist vorbei“, sagt Gael
McElroy, Leiterin des Instituts für Politische Wissenschaften am Trinity College
Dublin. „Freitagabend bekommen Sie hier
in den Restaurants keinen Tisch mehr.“
Dass die Koalition für die Trendumkehr
bestraft werden soll, nennt die Politikwissenschaftlerin „bizarr“ – umso mehr, als
die Oppositionsparteien keine Alternativen anböten. „Die Parteien auf der Rechten und auf der Linken versprechen im
Großen und Ganzen das Gleiche“, sagt
McElroy. Dies, fügt sie an, sei allerdings
nichts Neues. Der Mangel an ideologischer Konkurrenz gehöre zur „Natur iri-
Foto AFP
scher Politik“. Am ehesten, prophezeien
die Meinungsforscher, würden wohl die
parteiunabhängigen Kandidaten profitieren. Ihr Anteil im nächsten Parlament
könnte auf bis zu zwanzig Prozent steigen.
Ein Stimmenzuwachs wird auch der
Sinn Féin zugetraut, wenngleich dieser geringer ausfallen dürfte, als noch vor einigen Wochen angenommen. Die sozialistische Partei ist die einzige gesamtirische
Kraft und spielt auch wegen ihrer früheren Verbindung zur Irisch-Republikanischen Armee (IRA) eine Sonderrolle in
der Republik. Ihr Anführer Gerry Adams
bestreitet bis heute, in deren Kommandostrukturen eingebunden gewesen zu sein,
aber kaum jemand in Irland zweifelt daran, dass er die IRA angeführt hat. Adams
gehört – neben Kenny und den Vorsitzenden der Fianna Fáil und der Labour Party,
Michael Martin und Joan Burton – zu den
„großen vier“, die zu den Wahldebatten
ins Fernsehen eingeladen werden. Die Distanz, die die anderen zu ihm halten, überträgt sich auch über die Mattscheibe.
Adams Forderung nach einer Justizreform zählte zu den wenigen Streitpunkten
in diesem „ereignislosen und öden Wahlkampf“ (McElroy). Sinn Féin will die sogenannten Sonderstrafgerichte abschaffen,
vor denen „Staatsverbrechen“ verhandelt
werden, und stattdessen wieder Geschworenenverfahren einführen. Auch Menschenrechtsorganisationen haben die Sonderstrafgerichte kritisiert, und doch befürchten viele Iren, eine Laien-Jury könnte
allzu leicht von gewaltbereiten Gruppierungen unter Druck gesetzt werden. Wie
schwer es ist, klare Linien zwischen der
Sinn Fein und kriminellen Banden zu ziehen, wurde den Iren Anfang des Monats
drastisch in Erinnerung gerufen: Sechs als
Polizisten verkleidete Männer stürmten ein
Hotel in Dublin und ermordeten einen
Mann – vermutlich als Racheakt. Einer
Selbstbezichtigung der „Continuity Irish
Republican Army“, einer der Splittergruppen der offiziell aufgelösten IRA, folgte am
Tag darauf ein Dementi. Eingeordnet wird
der Mord wohl im Graubereich zwischen
Politik und organisierter Kriminalität.
Keine Rolle spielten im Wahlkampf die
beiden Themen, die fast alle anderen Länder in Europa beschäftigen: die EU und
die Migrationskrise. Die euroskeptischste
Kraft unter den größeren Parteien ist die
Sinn Féin, und nicht einmal die will der
Union den Rücken kehren. Dass die Stimmung in Irland so viel Brüssel-freundlicher ist als in den „Rettungsschirmländern“ Südeuropas, erklärt McElroy mit
dem anderen Selbstverständnis der Iren:
einer Mischung aus Verantwortungsbewusstsein und Dankbarkeit. „Wir glauben,
dass wir uns im Prinzip selbst in die Misere geritten haben – und von der EU wieder
rausgehauen wurden.“
Auch die Migrationskrise ist den Iren
fern. Geschützt vom Meer, entscheiden sie
in aller Ruhe, wie viele Flüchtlinge sie aufnehmen wollen. Die Zusage der Regierung
zur Aufnahme von 4000 Syrern in den kommenden vier Jahren werde von der überwältigenden Mehrheit der Iren als maßvoll
angesehen, sagt McElroy. Mit dem massiven Zuzug aus Polen und dem Baltikum
habe Irland wegen deren „kultureller
Nähe“ keine Schwierigkeiten. Unruhe
habe nur der Zuzug aus Westafrika erregt,
weshalb die Einwanderungsregelungen
verschärft wurden. Die deutsche Willkommenskultur hielten ihre Landsleute für
„naiv“, sagt die Politikwissenschaftlerin.
Fast alle Parteien versprechen den Wählern das Gleiche: mehr staatliche Investitionen, vor allem in den Gesundheitssektor,
sowie die Senkung unterschiedlicher Steuern und Abgaben. Das sollte eine Regierungsbildung eigentlich einfach machen,
doch viele sind besorgt um die Stabilität
der irischen Politik. Sollte es Kenny nicht
gelingen, mit Hilfe unabhängiger Kandidaten und kleinerer Parteien an der Macht zu
bleiben, könnte der einzige Ausweg in Neuwahlen liegen – oder in einem historischen Novum: einer „Großen Koalition“
zwischen Fine Gael und Fianna Fáil, von
manchen schon „Fianna Gael“ genannt.
Programmatisch, glaubt McElroy, würden die beiden Mitte-rechts-Parteien ideal
zusammenpassen, aber es gelte, tief in die
Vergangenheit zurückreichende Animositäten zu überwinden. In der Zeit des Unabhängigkeitskampfes in den zwanziger Jahren spalteten sich die Parteien über die
Frage, wie weit den britischen „Besatzern“ entgegenzukommen sei. Dieser
Streit ragt nicht mehr in die Gegenwart,
aber geblieben ist das Misstrauen. Leo Varadkar, der populäre Gesundheitsminister
der Fine Gael, schrieb am Donnerstag in
der Zeitung „Irish Independent“, eine große Koalition wäre ein „Albtraum“.