MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc MERICS Web Spezial (Juli 2015) Mesut Özil. Merkel. Made in Germany – Deutschlandbilder in Chinas Sozialen Medien Von Karsten Luc So einflussreich sind Chinas Soziale Medien: Sie machten eine deutsche Automarke über Nacht bekannt im ganzen Land. Während einer Dating-Show legte ein junger Mann einer Teilnehmerin seine Vorstellung eines romantischen Treffens dar. Er endete mit der Frage „Möchtest Du auf meinem Fahrradgepäckträger Platz nehmen und fröhlich mit mir losfahren?“ Daraufhin antwortete sie: „Da sitze ich lieber weinend auf dem Rücksitz eines BMWs.“ Netizens entfachten mit der Redewendung „Lieber auf dem Rücksitz eines BMWs weinen, als auf dem Fahrrad lachen" eine hitzige Diskussion über Materialismus und Werteverfall. Interessant hierbei ist, dass sich (ausgerechnet) eine deutsche Automarke in das Gedächtnis der Teilnehmerin eingebrannt hatte – stellvertretend für ein schönes Wohlstandsleben. Dieses Web Spezial untersucht (die) Deutschlandbilder in Chinas Sozialen Netzwerken. Welche Themen erhalten die meisten Klicks und Kommentare? Welche Deutschen sind in Sozialen Medien vertreten, und wer hat die meisten Fans? Was bewundern Chinas Netizens an Deutschland und was befremdet sie? 1 MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc Gegenstand dieses Web-Spezials ist eine (quantitative und qualitative) Analyse von deutschlandbezogenen Inhalten auf Sina Weibo, WeChat und Youku im Zeitraum vom Mai 2014 bis Mai 2015. Weibo (微博) ist ein Twitter-ähnlicher Mikroblogdienst mit derzeit 198 Millionen aktiven Nutzern monatlich. WeChat ( 微信 ) ist exklusiv für Smartphones entwickelt worden. Es gleicht der im Westen bekannten Anwendung WhatsApp und ist durch seine Multifunktionalität mit vielen Webdiensten in China verknüpft. WeChat hat momentan 549 Millionen aktive Nutzer monatlich Der kostenfreie Videostreaming-Dienst Youku ( 优 酷 ) gilt als das chinesische Pendant zu YouTube. Viele Landschaftsbilder, Reisefotos, Produktinfos und „Foodies“ (Fotos von Speisen) in Länder-Hashtags Anzahl der Hashtag-Erwähnungen von Deutschland und anderen Ländern auf Weibo Ein Klick vorweg: Erstellt man ein Nationen-Ranking auf Basis der ausgewerteten WeiboDaten, so befindet sich Deutschland auf dem vierten Platz (gemessen an der Häufigkeit der #Hashtag#-Nennungen in Weibo-Posts). Angeführt wird die Liste von Japan, dahinter befinden sich die USA und Frankreich. Geht es um Deutschland, so gehören Fußball, Made in Germany und Bildung zu den am häufigsten erwähnten Themen in Chinas Sozialen Medien. 2 MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc Liebling Mesut Özil, aber wo ist Angela Merkel? Deutsche Persönlichkeiten in Chinas Sozialen Medien Das Deutschlandbild in Chinas Sozialen Medien hat von dem fußballerischen Erfolg bei der WM 2014 in Brasilien kräftig profitiert. Das meist genannte Wort im Zusammenhang mit Deutschland auf Weibo ist die „(Fußball)Nationalmannschaft“. Die Top 10 der deutschen Weibo-Profile werden ebenfalls vom deutschen Fußball dominiert. Darunter befinden sich der FC Bayern München (zwei Mio. Fans), das DFB-Team (1,5 Mio. Fans) und die Bundesliga (1,4 Mio. Fans). Diese Profile weisen mehr Fan-Zahlen auf als beispielsweise bekannte Automarken oder deutsche Institutionen wie die Deutsche Botschaft und das Goethe-Institut. Zur Einordnung: Chinesische Top-Blogger haben über 70 Mio. Anhänger. Zu den Top 5-Begriffen auf Weibo im Zusammenhang mit Nationalmannschaft, China, Fußballfan, Weltmeisterschaft und USA. Deutschland gehören: Auch einige deutsche (ehemalige) Nationalspieler haben begonnen, Weibo für sich zu entdecken. Die Liste wird angeführt von Mesut Özil (290.000 Fans), gefolgt von Lukas Podolski (260.000), Philipp Lahm (180.000), Arne Friedrich (101.000), Bastian Schweinsteiger (36.000), Mario Götze (23.000) und Holger Badstuber (19.000). Dass Mesut Özil vom Auswärtigen Amt im Rahmen der Preisverleihung „Deutscher Fußball-Botschafter 2015" zum Publikumsliebling gewählt worden ist, deckt sich mit seiner Popularität auf Weibo. Er scheint deswegen beliebt zu sein, weil er sehr viele Selfies mit seiner Familie oder seinen Kollegen veröffentlicht. Seine Posts sind auf Chinesisch verfasst. Özil profitiert auch davon, dass er beim Top-Klub Arsenal London spielt, der in China ebenfalls sehr beliebt ist (Arsenal London hat 3,6 Mio. Weibo-Fans). 3 MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc Wieso ist Bundeskanzlerin Angela Merkel (noch) nicht auf Weibo? Insgesamt sind nur eine Handvoll hochrangiger ausländischer Politiker mit eigenen Profilen auf Weibo vertreten. Angela Merkel befindet sich nicht unter ihnen. Dabei muss man als prominenter Politiker eigentlich gar nicht so viele Nachrichten veröffentlichen, um Fans zu gewinnen. Reisen nach China sind der beste Anlass, ein Konto auf Weibo zu eröffnen. So hat der indische Premierminister Narendra Modi (über 170.000 Fans, 28 Posts) bei seinem China-Besuch im Frühjahr 2015 erste „Gehversuche" auf Weibo gewagt. Unter anderem postete er ein Selfie zusammen mit Premierminister Li Keqiang, das gleich über 70.000 Mal weitergeleitet wurde. Unter den ausländischen Politikern hat David Cameron die meisten Anhänger (über 930.000 Fans, 35 Posts). Er hat keine Selfies geschossen, sondern postete die Glückwünsche von Ministerpräsident Li Keqiang gleich nach seiner Wiederwahl zum britischen Premier. Cameron hat sein Weibo-Profil kurz vor einer China-Reise im Jahr 2013 erstellt. Offizielle Bilder, auf denen das Händeschütteln von Politikern oder Begrüßungen mit militärischen Ehren zu sehen sind, finden wenig Beachtung. Selfies mit dem direkten Blick in die Kamera kommen dagegen bei chinesischen Netizens sehr gut an. Insbesondere zusammen mit chinesischen Politikern aufgenommene Selbstporträts erzielen viele Likes und Weiterleitungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist in den Sozialen Medien bis dato nur „passiv“ präsent: Sie taucht vor allem in Videoclips auf. So ist sie beispielsweise in einem Video zusammen mit Alibaba-Gründer Jack Ma auf der CeBIT 2015 zu sehen, das über 1,5 Mio. Mal aufgerufen wurde. Während sich die Kommentare bei diesem Video hauptsächlich auf Jack Ma beziehen, steht die Bundeskanzlerin in einem chinesischen Nachrichten-Clip über ihrem Besuch in Japan im Vordergrund. Chinas Netizens nehmen sie dabei weniger als Privatperson, sondern vielmehr als stellvertretend für Deutschland wahr. Der Inhalt des Nachrichtenclips passt zu der von China offiziell beförderten Gegenüberstellung von Deutschland und Japan nach dem „good cop, bad cop"-Schema: Beijing schreibt Deutschland in puncto Vergangenheitsaufarbeitung eine positive Rolle zu, während die mangelnde Vergangenheitsbewältigung Japans kritisiert wird. Deutschland gut, Japan schlecht: Ausgewählte Kommentare zum Nachrichten-Clip „Japan sollte unbedingt von Deutschland lernen“ „Deutschland erfährt nicht nur für die Industrie Lob, sondern auch deutsche Persönlichkeiten weisen eine Qualität auf, von der die gesamte Welt lernen kann!" „Kauft ein deutsches Auto, bloß kein japanisches." „Wenn die Japaner, wie die Deutschen ihre Fehler zugeben würden, glaube ich, dass China und die asiatischen Länder Japan vergeben würden." 4 MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc Authentizität und Sprachwitz für Erfolg auf Weibo entscheidend Deutsche Fußballer und deutsche Persönlichkeiten haben im internationalen Vergleich verhältnismäßig wenig Fans (Beispiel: David Beckham hat über fünf Mio. Fans, der koreanische Sänger Psy über 24 Mio.). Auf Twitter haben die Deutschen dagegen weitaus mehr Anhänger. Woran mag das liegen? Nur wenige von ihnen schreiben auf Chinesisch. Die Authentizität der Sprache scheint eine entscheidende Rolle zu spielen. Für chinesische Netizens wirkt es offensichtlich nicht überzeugend oder attraktiv, wenn Nicht-Muttersprachler auf Englisch schreiben. Mesut Özil hat mit seinen chinesischen Posts den größeren Erfolg. Philipp Lahm veröffentlicht seine Beiträge in einem seltsamen Mix aus Englisch, Deutsch und Chinesisch. Die chinesischen Übersetzungen sind teilweise fehlerhaft oder lieblos übersetzt. Da Lahm neben Chinesisch auch noch lateinische Buchstaben verwendet, bleibt auf Weibo nur wenig Platz für eine gehaltvolle Nachricht. Der Mikroblogging-Dienst beschränkt Posts auf 140 Zeichen. Im Chinesischen steht ein Schriftzeichen in der Regel für ein ganzes Wort, dafür braucht man im Deutschen oder Englischen mindestens zwei Zeichen (Buchstaben). Ein auf Weibo erfolgreicher Deutscher, der zwar kein Spitzensportler ist, aber eine sportliche Leistung hingelegt hat, heißt Christoph Rehage. Sein Weibo-Profil weist über 800.000 Fans auf. Er ist in China und Deutschland durch seinen Online dokumentierten Fußmarsch von Beijing bis nach Xinjiang (2007–2008) bekannt geworden. Rehage ist in China deshalb erfolgreich, weil er den chinesischen Sprachwitz perfekt trifft. Auf Weibo veröffentlicht er regelmäßig kurze Handy-Videos, in denen er über verschiedenste Themen redet. Gleich zwei seiner Weibo-Posts sind unter den am häufigsten weitergeleiteten Nachrichten im untersuchten Jahreszeitraum zu finden. Ein Witz kommt selten allein: Die chinesischen Netizens lachen über Albert Einsteins vermeintlich schlechte Schulnoten Die fünf meist weitergeleiteten Weibo-Posts zwischen Mai 2014 und Mai 2015 5 MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc Küchentechnik, Kanaldeckel und Krankenwagen – Faszination „Made in Germany“ Deutsche Qualität und Innovationen sind insbesondere auf WeChat Top-Themen. Überraschend ist: Für chinesische Netizens ist „Made in Germany“ mehr als Technik. Sie verbinden damit auch Ordnung, Effizienz und Kreativität. Die industrielle Schweineschlachtung in einer angeblichen Verbindung zur Industrie 4.0 taucht im Zusammenhang mit dem Stichwort „Deutschland“ extrem häufig auf Top 5 WeChat-Artikel mit den meisten Aufrufzahlen Ordnung und Effizienz: „Es lohnt sich, von Deutschland zu lernen“ Deutsche Ordnung und Effizienz werden anhand eines Youku-Videos bestaunt und ausgiebig diskutiert. Ein knapp einminütiger Clip unter den Top 10-Youku-Videos zeigt, wie deutsche Autofahrer einem Krankenwagen mit Blaulicht auf der Autobahn den Weg freimachen. In den Kommentaren loben die chinesischen Netizens den vorbildlichen Charakter der Deutschen. Insbesondere Chinas Großstädte haben mit langen Staus zu kämpfen. Gleichzeitig erschweren chaotische Verhältnisse auf den Straßen ein schnelles Durchkommen von Krankenwagen und gefährden somit die Rettung von Notfallopfern. Chinas Netizens nutzen Deutschland als Spiegel, um diesen Missstand im eigenen Land zu kritisieren: Von Deutschland lernen Krankenwagen-Video – ausgewählte Kommentare zum „Werde ich zu meinen Lebzeiten noch beobachten können, dass wir das in China auch hinbekommen? "Egal ob es sich um einen Kranken- oder Feuerwehrwagen handelt, in China würden wir sie nicht vorbeilassen "China ist China, Deutschland ist Deutschland, was gibt es da zu vergleichen?" 6 MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc „Wenn die Japaner, wie die Deutschen ihre Fehler zugeben würden, glaube ich, dass China und die asiatischen Länder Japan vergeben würden." "Es lohnt sich, von Deutschland zu lernen!" "Echt witzig, die Deutschen sind sehr gutherzig, das ist das erste Mal, dass ich solch eine Szene sehe." Qualität: Auf der Jagd nach deutschen Produkten Deutsche Produkte erfreuen sich in China großer Beliebtheit: Viele Menschen schätzen deutsche Qualität und sehen in ihren heimischen Produkten keine bessere Alternative. Ein sehr beliebter und häufig verwendeter Hashtag auf Weibo lautet: „Shopping Deutschland" (# 德 国 代 购 #). Hier kommen Netizens zusammen, um ihre gekauften deutschen Produkte vorzustellen oder sie weiter zu verkaufen. In diesem Kontext tauchen die Wörter Milchpulver, Import, Baby und Kind besonders häufig auf. Das Vertrauen in das heimische Milchpulver ist in China nach dem Melanin-Skandal von 2008 sehr gering. Dies hat zu einer steigenden Nachfrage von deutschen MilchpulverProdukten geführt. Die Qualität des Milchpulvers steht übrigens auch im Agrardialog zwischen Deutschland und China auf der Agenda. Chinesische Netizens vernetzen sich mittels Hashtags, um deutsche Produkte kennenzulernen Auswahl von Weibo-Hashtags mit Deutschlandbezogenen Themen Der WeChat-Artikel mit den meisten „Gefällt mir"-Klicks thematisiert ebenfalls deutsche Qualität. Er stellt den Unterschied zwischen deutschem und chinesischem Benzin dar. Skurrilerweise hatte ein Internetnutzer eine Flasche deutsches Benzin mit nach China gebracht. Anhand von Bildern identifiziert er das chinesische Benzin als relativ minderwertig. Ähnlich wie bei dem Krankenwagen-Video nutzen Chinas Netizens auch hier den Verweis auf 7 MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc Deutschland zur indirekten Kritik am eigenen Land: China hat mit niedrigen Benzin-Standards zu kämpfen, die nach Meinung chinesischer Experten ein Grund für die schlechte Luftqualität in den Städten sind. Kreativität: „In China würde so etwas nie passieren.“ Ebenso schätzen die chinesischen Netizens die Kreativität der Deutschen. Ein Werbeclip der Supermarktkette Edeka hat es bis in die Top 10 der meist geschauten Youku-Videos geschafft. Das Video mit dem Titel „Neue Funktionen deutscher Supermarktkassen überraschen das Publikum" ist rund 2,1 Millionen Mal abgerufen worden. Der Clip zeigt, wie die Kassierer Produkte über den Scanner ziehen. Die dadurch erzeugten Töne lassen das Weihnachtslied „Jingle Bells" erklingen. Die Käufer und andere Schaulustige stehen staunend da und lassen sich von der fröhlichen Stimmung anstecken. Interessant hierbei ist, dass die chinesischen Netizens in den Kommentaren den kommerziellen Gehalt des „Werbegags“ und Produktplatzierungen völlig außer Acht lassen und stattdessen nur die kreative Umsetzung wahrnehmen. Der vermeintliche Grund: Der besagte Lebensmittelhändler hat keine Filiale in China und ist dort unbekannt. Wie kreativ ist das denn? Ausgewählte Kommentare zum Edeka-Video: „Genau das ist es, worin die Ausländer gut sind ... sie sind jederzeit in der Lage, kreativ zu sein." “Total bewegend, in China würde so etwas niemals passieren." „Wenn Verkäufer in China anfingen, so rumzuspielen, würden sie von den Käufern angeschnauzt werden." „Sehr erwärmend. Nach dem zweiten Mal Anschauen habe ich das Gefühl, ich könnte weinen." „Sehr bewegend … lasst uns alle fleißig an der harmonischen Gesellschaft arbeiten." „Deutscher Albtraum“: Industrie 4.0 Die chinesischen Netizens kommunizieren aber nicht nur positive Eindrücke von Deutschland. Mitunter werden Unwahrheiten verbreitet oder zentrale Themen der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit, wie Industrie 4.0, missverstanden und falsch eingeordnet. Gegen sogenannte „Online-Gerüchte“ in Sozialen Medien geht Chinas Regierung immer strenger vor. Neben pornographischen und gewalttätigen Inhalten versteht Beijing darunter auch Posts, die unliebsame politische Kritik transportieren oder zu kollektiven Handlungen mobilisieren könnten. Prominente und Unternehmen sehen sich ebenfalls zunehmend von Falschmeldungen bedroht. Auch westliche Firmen leiten rechtliche Schritte zur Bekämpfung von Falschmeldungen ein. Deutschland bleibt von Unwahrheiten in Chinas Sozialen Medien nicht verschont: Ein über WeChat extrem häufig verbreitetes Video zeigt die industrielle Schlachtung von Schweinen. Über dieses Thema finden sich gleich mehrere Artikel mit unterschiedlichen Titelvariationen. Die Überschriften lesen sich so: „Sieht etwa so die Industrie 4.0 aus?", „Schaut an, wie die 8 MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc Deutschen Schweine schlachten, Industrie 4.0, eine Fabrik ohne Menschen!", „Schweinetötungs-Fließband in Deutschland schockt ein weiteres Mal die Welt. Es zeigt allen, wie intelligent die deutsche Industrie 4.0 ist". Allerdings weisen die Beiträge zwei Fehler auf: Zum einen wird eine industrielle Schlachtungsanlage fälschlicherweise der Industrie 4.0 zugeordnet. Zum anderen gehört die Anlage einem niederländischen Hersteller. Das Video erhält unter chinesischen Zuschauern offenbar deshalb so viel Beachtung, da die gewählten Ausschnitte einen medienwirksamen Schockeffekt erzeugen und somit das öffentliche Interesse an der „Skandal-Nachricht" schüren. Ein weiterer Videotitel heißt „Ist das etwa der deutsche Traum? Die deutsche Schweineschlachtanlage schockiert". Interessant hierbei ist, dass der Begriff „deutscher Traum" ( 德 国 梦 ) verwendet wird. Dabei ist diese Terminologie in Deutschland gar nicht gebräuchlich, sie kann eher dem von der chinesischen Regierung propagierten Slogan des „China-Traums“ zugeordnet werden. Möglicherweise wird das Video dazu genutzt, Deutschland gezielt zu kritisieren. Das Video ist von verschiedenen privaten Nutzern gepostet worden. Es gibt aber auch neutrale Beispiele für das Thema Industrie 4.0. Auf Youku finden sich unter dem Suchwort „deutsche Industrie 4.0" in erster Linie chinesische Nachrichten-Clips, die jedoch recht niedrige Klickzahlen und keine Kommentare verzeichnen. Studienland Deutschland – Lehrhaftes und Lustiges Emotionen und Alltag scheinen gefragt: Das Abschlussvideo eines chinesischen Musikstudenten in Deutschland eroberte die Herzen der chinesischen Netizens und ist der meistgeschaute Beitrag in diesem Themenfeld (670.000 Abrufe). Vor einem deutschen Publikum erzählt ein chinesischer Auslandsstudent auf humorvolle Art von seinen Schwierigkeiten in Deutschland. So berichtet er auf Deutsch: „Das erste Problem hat nichts mit dem Studieren zu tun, sondern mit dem Internet. Ich habe zwei Monate auf meinen Internetanschluss gewartet." Oder er beschreibt, wie ein deutscher Freund ihm einmal beibrachte, dass „her kommen" im Deutschen „bei Fuß" heiße. Im Deutschunterricht rief er dann einmal ganz aufgeregt: „Lehrer, ich habe eine Frage, können Sie mal bei Fuß?" Schwierigkeiten beim Studium in Deutschland – ausgewählte Kommentare zum Abschlussvideo des Musikstudenten „Ich kann zwar nicht einschätzen, wie gut sein Klavierspiel ist, und ich war auch noch nie in Deutschland, aber das Video hat mich sehr berührt und mir sind die Tränen gekommen." „Ein Chinese in Deutschland, das finde ich toll! „Deutsch zu lernen, ist echt schwer, einen Abschluss in Deutschland zu meistern, noch schwerer." „Deutsche sind so rigoros ernst, wenn jemand sagt, dass alle ihre Augen schließen sollen, dann schließt tatsächlich jeder seine Augen." 9 MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc Das Video ist unter den chinesischen Netizens offensichtlich auch deshalb beliebt, weil sie ihren Landsmann bewundern: Ein Chinese schafft es in deutscher Sprache, vor einem deutschen Publikum sogar den ein oder anderen Lacher zu erzielen. Das Deutschlandbild als neuer Exportschlager? Es sind in erster Linie chinesische Netizens, die mit ihren deutschen Inhalten in Chinas Sozialen Medien das Deutschlandbild prägen. Aufgrund größerer Fan-Zahlen und höherer Weiterleitungsquoten nehmen sie damit einen großen Einfluss auf das Deutschland-Bild. Deutsche Institutionen, insbesondere mit dem Schwerpunkt Bildung, erreichen aufgrund ihrer relativ niedrigen Anhängerzahlen bislang nur einen Bruchteil der chinesischen Internetnutzer. Daher sind die Inhalte deutscher Institutionen als kommerzfreie Quellen für Informationen über Deutschland enorm wichtig. Auffällig aktiv: Technische Hochschulen und ostdeutsche Universitäten Weibo-Ranking von deutschen Institutionen mit Schwerpunkt Bildung im Vergleich zur Deutschen Botschaft Die Inhalte wirken allerdings sehr bürokratisch: Institutionen posten sehr häufig Antragsformulare und Job-Ausschreibungen als Fotos oder Webseiten-Screenshots. Formate wie Cartoons, Kurzvideos oder Infografiken, die vor allem jüngere chinesische Netizens ansprechen, werden kaum genutzt. Die deutschen Bildungsinstitutionen nutzen die Sozialen Medien primär als Informationsportale und nicht als eine interaktive Plattform, auf der Inhalte geteilt und kommentiert werden sollen. Viel Aufmerksamkeit generieren Weibo-Hashtags wie „Deutsch lernen" (6.082 Diskussionen, acht Mio. Aufrufe), „Studiere in Deutschland, erweitere deinen Horizont" (3.720 Diskussionen, 28 Mio. Aufrufe) und „Zimmer in Deutschland mieten" (3.136 Diskussionen, drei Mio. Aufrufe). Hier finden Interessierte konkrete Hilfestellungen für das Leben in Deutschland oder persönliche Eindrücke von bereits in Deutschland lebenden Chinesen. 10 MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc Notenwahn und Mathe-Fieber - kuriose Bildungsthemen Dass in Deutschland eine Eins die beste Note ist, sorgt in China für Kopfschütteln. Als die Chinesen davon hörten, dass Albert Einstein lauter Einsen und Zweien im Zeugnis hatte, staunten sie nicht schlecht. Wie könne es denn sein, dass solch ein ausgezeichneter Wissenschaftler derart schlechte Noten hatte? In China ist ein Punkt nämlich die schlechteste Schulnote. Diese Geschichte sorgte für eine sehr lebhafte Diskussion auf Weibo. Wie ernst Chinesen Schulnoten nehmen, zeigt ein Post über die chinesische Gedächtnissportserie „Superhirn". Das darin thematisierte Duell zwischen dem deutschen Anwalt Simon Reinhard und dem 22-jährigen Chinesen Wang Feng ist das Top 2-Youku-Video zu Deutschland (über vier Mio. Aufrufe). Ziel in der ausgestrahlten Folge vom 25. März 2015 war es, sich die Sequenz eines willkürlich gemischten Sets von Spielkarten einzuprägen und es mit einem neuen Set innerhalb eines bestimmten Zeitraums korrekt wiederzugeben. Wang Feng gelang dies ohne Fehler in rund 19 Sekunden, während Simon Reinhard, der einen Weltrekord im Einprägen von 186 internationalen Vor- und Nachnamen in 15 Minuten erzielt hat, einige Fehler machte und auch etwas länger benötigte. Kommerzielle Produktionen und TV-Berichte dominieren die Rangliste der beliebtesten Videos Top Youku-Videos zum Thema Deutschland Ähnlich wie beim häufig verbreiteten Thema „Industrie 4.0 und Schweineschlachtung“, beruht das meist gesehene Youku-Video mit Deutschlandbezug auf falschen Fakten. Das über fünf Mio. Mal aufgerufene Video mit dem Titel „Deutscher fasst hundert Frauen an den Busen" wird fälschlicherweise den Deutschen zugewiesen. Es zeigt, wie ein Mann in der Öffentlichkeit überwiegend Frauen (vereinzelt auch Männern) an den Busen fasst, während eine eingeblendete Anzeigetafel die Berührungen zählt. Dieser Herr ist aber kein Deutscher, sondern ein Venezolaner. Die Szenen spielen sich ebenfalls in Venezuela ab. Das merkten auch einige der Kommentatoren an: „Ich wusste gar nicht, dass es in Deutschland Palmen 11 MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc gibt“, schreibt zum Beispiel jemand. Viele Netizens äußern sich erzürnt, ironisch, aber auch zum Teil erheitert. Manche wundern sich einfach über die „Offenheit" der „Deutschen“. Konsequenzen der vorhandenen Deutschland-Bilder für deutsche Akteure Das aktuelle Deutschlandbild ist in den chinesischen Sozialen Medien überwiegend positiv. Es wäre aber fahrlässig, sich darauf auszuruhen. Das Beispiel „Industrie 4.0 und Schweineschlachtung“ zeigt, dass ein einzelner Negativbeitrag die Wahrnehmung eines Themas prägen kann. Deutsche Akteure, insbesondere in den Themenbereichen Fußball, Made in Germany und Bildung, sollten Themen und Diskussionen in den chinesischen Sozialen Medien daher aktiver mitgestalten als bisher. 1. Prominente Persönlichkeiten als Deutschland-Botschafter nutzen Die Ergebnisse zeigen, dass der deutsche Fußball eine große Rolle für das Deutschlandbild in Chinas Sozialen Medien spielt. Ebenso sind die deutschen Nationalspieler mittlerweile in China recht bekannt. Gerade sie können als Prominente trotz der noch relativ niedrigen, aber steigerungsfähigen Fan-Zahlen Einfluss auf das Deutschlandbild nehmen. Deutsche Akteure könnten ihre Konten auch mit führenden chinesischen Persönlichkeiten in den Sozialen Medien vernetzen, um wichtigen deutschlandbezogenen Themen einen höheren Wirkungsgrad zu verleihen. 2. Mehr Webvideos mit Bezug zum Lebensalltag chinesischer Netizens produzieren Besteht für Akteure im Bereich Bildung, die direkt oder indirekt für die deutsche Kultur und den Standort Deutschland werben, die Chance, an die Popularität der Fußballer anzuknüpfen? Ihre Einflusssphären sind derzeit noch zu marginal, als dass sie einen Großteil der monatlich 198 Mio. aktiven Nutzer auf Weibo erreichen können. Sie könnten jedoch an die beachtliche Anzahl von hilfreichen, von chinesischen Nutzern generierten Hashtags anknüpfen und dort eigene Informationen über Spracherwerb und Studium in Deutschland posten. Um Aufmerksamkeit oder gar Weiterleitungen zu erzielen, müssten sie allerdings Inhalte generieren, die näher an den Lebenswelten und den konkreten Fragen der chinesischen Netizens orientiert sind. Zum Beispiel könnten deutsche Institutionen junge Deutsche und/oder Chinesen, die bereits in Deutschland studieren, als Protagonisten für Kurzvideos gewinnen. Das Format Web-Video und die Videoplattform Youku werden noch viel zu selten genutzt. Dabei zeigt das amateurhaftgefilmte „Krankenwagen-Video" oder der Edeka-Clip, dass gerade Alltagsvideos eine große Aufmerksamkeit erzielen. 3. Falschmeldungen oder negative Stimmungen frühzeitig erkennen und Interaktion verstärken Negativbeispiele, die zum Teil auf Unwahrheiten beruhen, rücken Deutschland schnell in ein schlechtes Licht. Diese könnten durch regelmäßige Stimmungsbarometer identifiziert werden. Darauf aufbauend sollten betroffene deutsche Personen oder Institutionen sich - je nach Thema – mit Sachargumenten oder mit humoristischen Bemerkungen in die Diskussionen einschalten. Deutsche Akteure dürfen Soziale Medien nicht nur als einseitige Informationskanäle verstehen, sondern sollten verstärkt mit den chinesischen Netizens in Interaktion treten. 12 MERICS Web Spezial (Juli 2015) von Karsten Luc Beispielsweise bietet sich für die deutsche Politik und Wirtschaft angesichts der kursierenden Falschinformationen und schwachen Präsenz von Industrie 4.0 die Möglichkeit, neue Akzente zu setzen: Sie könnte über Soziale Medien-Plattformen interessante und spannende Videos über die deutsche Industrie 4.0 bereitstellen. 4. Die Begeisterung für „Made in Germany“ und Technikinteresse nutzen Viele Kommentare hinsichtlich deutschlandbezogener Inhalten zeigen, dass Chinesen sich für „Made in Germany” interessieren und davon lernen wollen. Ein sehr gutes Beispiel hierfür bietet das Video „Wie in Deutschland der Gulli-Deckel ausgewechselt wird, ist einfach klasse". In den westlichen Sozialen Netzwerken wäre es kaum vorstellbar, dass das über 2,7 Mio. mal in WeChat aufgerufene Video eine derartige Beachtung findet. Die ausgewählten Kommentare, die sich auf eine Youku-Version beziehen, zeigen, dass hier viele Argumente aufeinandertreffen, an die deutsche Institutionen und Unternehmen anknüpfen könnten. 13
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