Das Nussknacker-Syndrom

FALLBERICHTE
378
Eine Komprimierung der linken Nierenvene
Das Nussknacker-Syndrom
Oliver Quaile, Jonas Brunner, Thomas Kinsbergen
Chirurgische Klinik, SRO Langenthal
Fallbericht
Status und Befunde
Klinisch zeigte sich lediglich eine leichte Druckdolenz
Anamnese
ohne Défense im linken Unterbauch bei unauffälligem
Notfallmässige Vorstellung einer 64-jährigen Patientin
Labor und einer isolierten Mikrohämaturie im Urinsta-
aufgrund plötzlich eintretender, kolikartiger Schmer-
tus. Sonographisch fanden sich intraabdominal keine
zen im linken Unterbauch seit Stunden ohne Nausea
Auff älligkeiten, jedoch eine Fett enthaltende, nicht in-
oder Emesis bei normalem Stuhlgang und unauffälli-
karzerierte Canalis-obturatorius-Hernie links. Bei
ger Miktion. Dieselben Schmerzen seien in den letzten
spontaner, kompletter Schmerzregredienz erfolgte
fünf Jahren intermittierend aufgetreten, mit vermehr-
eine symptomatische Therapie und im Verlauf das Auf-
ter Häufigkeit (alle 1–2 Wochen) im letzten Jahr. Sie sis-
gebot in die chirurgische Sprechstunde.
tierten jeweils spontan nach einigen Stunden, seien
Oliver Quaile
nahrungsunabhängig, jedoch bei Obstipation, Ge-
Verlauf und Therapie
schlechtsverkehr und beim Vorneüberbeugen an Fre-
Rund einen Monat später erneute notfallmässige Vor-
quenz und Intensität zunehmend. Die Patientin befin-
stellung aufgrund derselben Schmerzsymptomatik
det sich seit ihrem 50. Lebensjahr in der Menopause
mit zusätzlichem Gewichtsverlust von 5 kg während
und hat bis auf ein bekanntes Asthma bronchiale so-
der letzten drei Monate bei unveränderter Klinik und
wie Status nach fünf problemlosen Spontangeburten
Labor. Die CT-Abdomenuntersuchung zeigte eine Kom-
eine unauffällige persönliche Anamnese. Eine ausge-
primierung der V. renalis links durch die Aorta abdo-
dehnte Abklärung während der letzten Jahre mittels
minalis und A. mesenterica superior mit Dilatation der
Gastro- und Koloskopie sowie Ösophagusmanometrie
linken V. ovarica und varikösen Venen im kleinen Be-
und CT-Thorax/-Abdomenuntersuchung fand keine
cken (Abb. 1). Bei dringlichem Verdacht auf ein Nuss-
eindeutige Ursache der Schmerzsymptomatik.
knacker-Syndrom erfolgte die Zuweisung in die Angio-
Abbildung 1: Komprimierung der linken Nierenvene zwischen Aorta abdominalis und A. mesenterica superior (schwarzes Rechteck) mit nachfolgender
Dilatation der Nierenvene (schwarzer Pfeil) und V. ovarica sinistra (weisser Pfeil).
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logie, wobei ein Stent im Bereich der Stenose der linken
Rahmen der Ureterkolik bei Blutabgang erklären [2].
Nierenvene eingelegt und die schwer refluxive linke
Weitere Symptome sind orthostatische Proteinurie
Ovarialvene mittels «Coiling» embolisiert wurde. An-
(vorwiegend bei Jugendlichen), linksseitige Varikozele,
schliessend traf eine sofortige Beschwerdebesserung
Dyspareunie, Dysmenorrhoe, Fatigue und orthostati-
ein. Die Patientin ist seither beschwerdefrei.
sche Hypotonie [5].
Aufgrund der anatomischen Vielfalt ist die Diagnose
im Kontext mit Klinik und Bildgebung zu stellen. Eine
Diskussion
asymptomatische Dilatation der linken Nierenvene
Als Nussknacker-Syndrom (NKS) wird eine sympto-
wird häufig bei Abdomensongraphien als Zufallsbe-
matische Komprimierung der linken Nierenvene be-
fund im Rahmen einer normalen anatomischen Varia-
zeichnet, meistens zwischen der Aorta abdominalis
tion diagnostiziert. Aus diesem Grund sollte primär
und der A. mesenterica superior bei normaler Lage der
eine klinische Untersuchung mit Analyse des Urins und
Nierenvene (anteriores NKS), seltener zwischen Wirbel-
anschliessender Bildgebung erfolgen, wobei die
säule und Aorta abdominalis (posteriores NKS) bei
Dopplersonographie meistens als erstes diagnosti-
retroaortal lokalisierter Nierenvene. Zusätzlich findet
sches Mittel der Wahl bei Patienten mit möglichem
sich in der Literatur eine Vielzahl weiterer, seltener Ur-
NKS verwendet wird (Sensitivität: 78%, Spezifität:
sachen wie Pankreasneoplasien, paraaortale Lymph-
100%). Ein verbreiterter Durchmesser der linken Nie-
adenopathie, retroperitoneale Tumoren, abominales
renvene (>5 mm) oder der linken V. ovarica (>3 mm) so-
Aortenaneurysma, Duplikatur der linken Nierenvene
wie ein erhöhter Druckgradient (>3 mm Hg) zwischen
usw. Der Begriff Nussknacker-Syndrom sollte aus-
linker Nierenvene und V. cava inferior sind indirekte
schliesslich für symptomatische Patienten mit oben
Hinweise für ein mögliches NKS, ebenso wie ein verrin-
beschriebener Anatomie verwendet werden [1].
gerter Winkel zwischen Aorta abdominalis und A. mesenterica superior (<51° ± 25°). Als weitere Möglichkeit
Als Nussknacker-Syndrom wird eine symptomatische Komprimierung der linken Nierenvene bezeichnet, meistens zwischen der Aorta
abdominalis und der A. mesenterica superior.
zur präzisen Darstellung der Komprimierung der linken Nierenvene mit poststenotischer Dilatation der
perirenalen und gonadalen Venen bietet sich die CT/
MR-Untersuchung (Sensitivität: 91,7%, Spezifität: 88,9%)
Die Prävalenz des NKS ist aufgrund der Vielzahl asym-
an. In den angelsächsischen Ländern wird als Gold-
ptomatischer Patienten unbekannt. Am häufigsten sind
standard vorwiegend die retrograde Venographie zur
Frauen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr und mitt-
Diagnose eines schweren NKS verwendet [2].
leren Alters betroffen sowie Jugendliche unabhängig
Die Therapie des NKS richtet sich nach Schweregrad
vom Geschlecht [2]. Als prädisponierende Faktoren
und Verlauf der Krankheit sowie Alter des Patienten
gelten ein rasches Körperwachstum in der Pubertät,
[2]. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen ist eine
ein tiefer Body Mass Index bzw. massive Gewichts-
spontane Remission aufgrund des Wachstums häufig.
abnahme über kurze Zeit sowie Multiparität. Ebenfalls
Eine abwartende Haltung mit Verlaufsbeobachtung über
wird das NKS mit dem Auftreten von Purpura Schön-
zwei Jahre ohne medikamentöse oder interventionelle
lein-Henoch, IgA-Nephropathie und idiopathischer
Therapie bei Patienten unter 18 Jahren ist gerecht-
Hyperkalziurie bei Nephrolithiasis in Verbindung ge-
fertigt. Bei starker prolongierter orthostatischer Prote-
bracht [3].
inurie kann der Einsatz von Angiotensin-Inhibitoren
Häufigkeit und Schweregrad des Beschwerdebildes
indiziert sein [1]. Bei erwachsenen Patienten sollte vor-
variieren stark. Neben den linksseitigen, bewegungs-
wiegend nach wiederkehrender anämisierender Hä-
abhängigen Unterbauch- bzw. Flankenschmerzen gilt
maturie, starken Flankenschmerzen, eingeschränkter
die asymptomatische Hämaturie als Hauptsymptom, die auf eine Zerstörung der Venolen im
Bereich des Sammelrohrsystems aufgrund des erhöhten Druckes in der linken Nierenvene zurück-
Heute wird vorwiegend die endovaskuläre
Stentimplantation mit zusätzlichem «Coiling»
der V. ovarica als Therapie der Wahl angesehen.
zuführen ist. In verschiedenen Studien zeigten rund
Nierenfuktion sowie Versagen der konservativen Thera-
33% der Patienten mit NKS eine isolierte Hämaturie.
pie oder bei persistierender orthostatischer Proteinurie
Dabei ist die Mikrohämaturie viermal häufiger als die
über 24 Monate ein chirurgisches oder intravaskuläres
Makrohämaturie [4]. Die Unterbauch- und Flanken-
Vorgehen gewählt werden. Hierbei bietet sich die Mög-
schmerzen resultieren aus einem inflammatorischen
lichkeit einer intra- oder extravaskulären Stentimplan-
Prozess, der durch die venöse Hypertonie getriggert
tation, Transposition der linken Nierenvene oder der
wird [1]. Die Flankenschmerzen lassen sich zudem im
A. mesenterica superior, eines gonadokavalen Bypasses,
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einer Nephropexie sowie Nephrektomie oder einer re-
Dr. med. Thomas Kinsbergen
nalen Autotransplantation als Ultima Ratio [2]. Heute
Chefarzt Chirurgische Klinik
wird vorwiegend die endovaskuläre Stentimplantation
SRO Spital Langenthal
St. Urbanstrasse 67
mit zusätzlichem «Coiling» der V. ovarica als interven-
CH-4901 Langenthal
tionelle Therapie der Wahl angesehen [4].
t.kinsbergen[at]sro.ch
Verdankung
Wir danken Dr. F. Mushica , Radiologie SRO Langenthal, für die Bereitstellung der CT-Bilder.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Literatur
Das Wichtigste für die Praxis
1
Das Nussknacker-Syndrom (NKS) ist ein seltenes Krankheitsbild, das aufgrund der unspezifischen Symptome häufig verkannt wird, jedoch von
2
3
Ärzten verschiedenster Disziplinien diagnostiziert werden sollte. Aufgrund
der teilweise ausgeprägten Symptomatik sowie der verzögerten Diagnosestellung ist der Leidensdruck der Patienten enorm. Aus diesem Grund
4
empfiehlt sich bei unklarer, symptomatischer Hämaturie und Verdacht auf
NKS eine Bildgebung mittels Dopplersonographie oder Abdomen-CT
durchzuführen und nach Diagnosesicherung eine rasche chirurgische bzw.
endovaskuläre Intervention einzuleiten.
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