Nur Ministersöhne bleiben

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Tages-Anzeiger – Donnerstag, 3. September 2015
Hintergrund & Debatte
Nur Ministersöhne bleiben
Afrikas Jugend verlässt den Kontinent. Niemand versucht, sie zu halten.
Über die afrikanischen Ursachen einer afrikanischen Tragödie. Eine Rede von Abasse Ndione
Afrika ist arm. Oder vielmehr die Afrikaner sind
arm. Paradoxerweise hat der an Anbauprodukten
und Bodenschätzen reichste Kontinent die ärmste
Bevölkerung auf der Welt. Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? Afrika, das muss schon gesagt
werden, hat seine Armut nicht absichtlich gewählt.
Im Laufe der langen Geschichte der Welt haben aufeinanderfolgende, durchwegs tragische Ereignisse,
die zumeist mit Auswanderung in Verbindung standen, den Kontinent voll getroffen, seine natürliche
Entwicklung gebremst, sodass er heute in der Weltrangliste die hinterste Stelle einnimmt.
Das erste dieser Ereignisse ist die Sklaverei. Sie
wird heute als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» eingestuft und hat auf allen Kontinenten und
bei allen Völkern existiert. Schon lange vor der Ankunft der Europäer kannte und praktizierte man in
Afrika die Sklaverei. Alte schriftliche Dokumente
beweisen, dass bereits im 4. Jahrhundert Karawanen das Reich von Ghana verliessen, die Sahara
durchquerten, bis nach Ägypten und Abessinien
gelangten und Männer, Frauen und Kinder zu ihren
Waren gehörten.
Landsleute jagen und verkaufen
In der Mitte des 15. Jahrhunderts hat Europa Afrika
entdeckt. Bald liessen sich Europäer an den afrikanischen Küsten nieder, um mit der dort ansässigen
Bevölkerung Handel zu treiben. Die Europäer verstanden, dass manche Bewohner bereit waren, ihre
eigenen Brüder und Schwestern zu verkaufen,
wenn sie nur die notwendigen Mittel dazu hätten,
das heisst, wenn sie bewaffnet wären. Unverzüglich
lieferten ihnen die Europäer Gewehre, damals in
Afrika unbekannte Waffen. Und die Sklavenhändler, die dadurch mächtiger als alle anderen geworden waren, drangen ins Innere des Landes vor, verwüsteten die Dörfer und nahmen Männer, Frauen,
Jugendliche und Kinder gefangen. Dann luden die
Europäer ihre menschliche Ware in die Laderäume
der Schiffe und verkauften sie ihrerseits in Amerika
und auf den Antillen.
Man muss darauf hinweisen, dass während dieser langen Zeitspanne kein einziger Europäer jemals einen einzigen Jungen, ein einziges Mädchen,
ein einziges Kind gefangen noch ein einziges afrikanisches Dorf angegriffen hat. Die Sklavenhändler,
die die Dörfer angriffen, andere Afrikaner jagten,
einfingen und fesselten und sie an die Europäer
verkauften, die sie erwarben, ihre Ware auf ihr Segelschiff luden und wegtransportierten, waren
Afrikaner. Während dieser langen und schmerzlichen Zeit der «Zwangsemigration» war die Verantwortung der afrikanischen Verkäufer und der europäischen Käufer ganz gleichmässig verteilt.
Die Afrikaner hatten sich noch nicht von den negativen Auswirkungen dieses lang andauernden
Handels erholt, als schon weitere Europäer an den
Küsten landeten. Das waren keine Händler wie diejenigen, die sich seit vielen Jahrhunderten bei ihnen niedergelassen und mit denen sie friedlich
gute Geschäfte gemacht hatten. Die Neuankömmlinge waren Soldaten. Ihr erklärtes Ziel war zur
grossen Überraschung der Afrikaner, sich ihr Land
anzueignen! Trotz erbitterten Widerstands wurden
die Afrikaner besiegt. Die Europäer besassen Waffen, die überhaupt nicht mit denen der Afrikaner
vergleichbar waren. Zusätzlich zu den Gewehren
hatten sie Maschinenpistolen und Kanonen, mit denen sie gegen Pfeil und Bogen, Steinschleudern
und Lanzen der Eingeborenen kämpften. Der
Kampf war einfach zu ungleich.
Das Winkelmass schafft Länder
1885 versammelten sich schliesslich die von Reichskanzler Bismarck einberufenen europäischen Staaten in Berlin, zerschnitten Afrika mithilfe von
Landkarte, Zirkel und Winkelmass in Stücke und
teilten es wie einen Kuchen untereinander auf. Und
Afrika erlebte nach der Sklaverei wiederum eine
Zeit der Verarmung, die dunkle Kolonisationszeit.
Drei Jahrzehnte nach der Berliner Konferenz
brach der Erste Weltkrieg aus. Die europäischen
Staaten, die einander bekämpften, kamen jeweils
in ihre neuen Kolonien, um afrikanische Untertanen als Soldaten anzuwerben. Millionen junger
Afrikaner wurden auf Dampfschiffe verladen und
nahmen an den Kämpfen teil, die sich in Europa abspielten. Viele von ihnen fielen auf den Schlachtfeldern und wurden dort begraben, wovon die afrikanischen Soldaten auf den unzähligen Friedhöfen
aus dem Ersten Weltkrieg zeugen. Im Zweiten Weltkrieg gab es eine noch massivere Beteiligung von
Jugend ohne Hoffnung in Dakar, Senegal. Es sind die Kinder der armen Leute, die emigrieren. Foto: Bruno Barbey (Magnum Photos)
Afrikanern. Und wie immer waren es die Jüngsten
und Kräftigsten. Die durch Sklaverei, Kolonisierung
und die massive Beteiligung an zwei Weltkriegen,
die mit unzähligen Toten und Verletzten endeten,
schwer und dauerhaft in die Armut gestürzten afrikanischen Staaten gelangten grossteils 1960 zu ihrer Unabhängigkeit.
Bedauerlicherweise muss man jedoch zugeben,
dass es den afrikanischen Staaten nach mehr als einem halben Jahrhundert nationaler Souveränität
noch immer nicht gelungen ist, sich aus dem Sumpf
der Armut herauszuarbeiten. Sie sind sogar noch
ärmer geworden als 1960.
Die führenden Politiker in Afrika haben die
Rückschrittlichkeit des afrikanischen Kontinents
selbst zu verantworten. Alle afrikanischen Staatschefs, die nicht bei einem Putsch getötet werden,
sterben in europäischen oder amerikanischen
Krankenhäusern. Kein Einziger hat in seinem Land
eine Universität gebaut, in die er seine eigenen Kinder zum Studium schicken würde. Sie haben die
Möglichkeiten, nach Europa zu gehen, und nützen
diese auch ausgiebig.
Zwei Problemfälle, die sich 2012 in zwei Nachbarländern, Mali und Senegal, ereignet haben, veranschaulichen die Sorglosigkeit und die Unsicherheit sehr deutlich, die die Entwicklung unserer
Länder unmöglich machen. Der erste Fall betraf
Mali. Ein Jahr nach dem Fall Ghadhafis kommt eine
kleine Gruppe von Tuareg – etwa 600 bis 800 Mann
Abasse Ndione
Chronist der afrikanischen Migration
Abasse Ndione ist einer der
führenden Schriftsteller Afrikas.
Sein zentrales Thema – auch in
seinen Romanen – ist die afrikanische Migration, ihre Gründe und
Folgen. Ndione wurde 1946 in
Senegal geboren. Sein erster
Roman, geschrieben während er
seinem Beruf als Krankenpfleger
nachging, erschien 1984. Seine
jüngste Veröffentlichung auf Deutsch ist der Roman «Die
Piroge» (Transit-Verlag); er ist eine Parabel auf die Flucht
übers Meer. Seine Hoffnungen setzt Ndione in eine
Liberalisierung der europäischen Einwanderungspolitik.
Der Text ist die gekürzte Fassung einer Rede, die er an
den Nibelungen-Festspielen in Worms (D) gehalten hat.
Übersetzung von Margret Millischer. (TA)
– schwer bewaffnet aus Libyen zurück, erobert den
Norden des Landes und teilt Mali in zwei Teile.
Während die Afrikanische Union und die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft nur unergiebige
Treffen abhalten, verjagt eine noch radikalere Bewegung die Tuareg und reisst die Macht im Norden
Malis an sich. Diese führen gewaltsam die Scharia
ein, den Dieben werden die Hände abgehackt, ein
Paar wird wegen Ehebruchs gesteinigt, Gräber werden zerstört und Manuskripte aus dem 13. Jahrhundert verbrannt. Keinerlei Reaktion, nur endlose Sitzungen und wirkungslose verbale Verurteilungen.
Die radikale Gruppe beschliesst, eine höhere Gangart einzulegen. Ihre Armee marschiert völlig ungehindert – wie auf einem Boulevard – auf die Hauptstadt Bamako zu. Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht, deren Armee 1961 das Land verlassen
musste, sieht sich gezwungen einzugreifen. Und
die französischen Truppen stoppen nicht nur die
Kämpfer der radikalen Bewegung, sondern jagen
sie aus dem Land und befreien den Norden Malis
nach zwei Jahren Besetzung.
Das zweite Ereignis betrifft Senegal. 2012, während einer grossen Hitzewelle, bei der das Thermometer manchmal 45 Grad im Schatten anzeigt, fällt
die Wasserleitung aus, die vom Guiers-See über 350
Kilometer bis nach Dakar führt und alle Regionen
bis dorthin versorgt. Ein Rohr hat eine schadhafte
Stelle. Das Unternehmen, welches das kostbare
Nass verwaltet, erklärt, dass das Wasser wegen der
Reparatur in den Wasserwerken am Guiers-See
48 Stunden lang abgeschaltet werden müsse. So
viel Zeit sei notwendig, um das Rohr zu schweissen.
21 Tage lang bleiben die Wasserhähne geschlossen.
Keinem einzigen Schweisser gelingt es, die undichte Stelle zu reparieren. Dakar und ein Drittel
des Landes bleiben weiterhin ohne Wasser. Und
wiederum ist es Frankreich, das zu Hilfe kommt.
Ein Frachtflugzeug wird geschickt, das Rohr wird
in den Laderaum geschafft, ins Land der ehemaligen Kolonialmacht gebracht und dort repariert.
Wie die Sklaven im 19. Jahrhundert in Amerika,
die eine Woche nach ihrer Freilassung in die Plantagen zurückkehrten, um ihren Herren mitzuteilen, dass sie die Sklaverei der Freiheit vorzogen,
wenden sich die afrikanischen Staatschefs immer
noch an die ehemalige Kolonialmacht, um ihre Probleme zu lösen. Der beste Beweis für das Scheitern
in allen Bereichen – Gesundheitswesen, Bildung
und Unterrichtswesen, Wasser- und Stromversorgung, Beschäftigung, Landwirtschaft – sind die Tausenden von jungen Menschen, die, wie die Sklaven
vom 15. bis 19. Jahrhundert in den Laderäumen der
Segelschiffe zusammengepresst, versuchen, nach
Europa zu gelangen. Die Afrikanische Union verfügt genauso wenig wie die afrikanischen Staaten
einzeln über eine entsprechende Jugend- und Beschäftigungspolitik, mit denen die Jugendlichen im
Land gehalten werden können. In einem Land wie
Senegal kommen jedes Jahr 200 000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Höchstens 25 000 finden einen Arbeitsplatz. Alle anderen sind arbeitslos, oft über lange Zeit, manchmal bis zum Pensionsalter, und werden noch immer von ihren alt gewordenen Eltern ausgehalten.
Nichts kann sie aufhalten
Wenn diese Jugendlichen andere junge Menschen
sehen, Freunde aus ihrer Kinderzeit, die nach Europa ausgewandert sind und dadurch die soziale
Stellung ihrer Familie völlig verändert haben (und
in jeder Stadt, in jedem Dorf, in jedem Viertel gibt
es Nachbarn, die ausgewandert sind), die dann ihre
Eltern auf Pilgerreise nach Mekka oder nach Rom
geschickt haben, für sie statt der alten Baracke ein
grosses mehrstöckiges Haus gebaut haben, dann ist
ihr einziger Wunsch, von dem sie geradezu besessen sind, es wie sie zu machen und wie sie zu sein.
Nach Europa zu gehen, wo es Arbeit gibt, statt ohne
Zukunftsaussichten im eigenen Land dahinzuvegetieren. Und diese Jugendlichen, die diese morschen
Boote nehmen, tragen zusätzlich zu ihren eigenen
Hoffnungen und Träumen die Hoffnungen und
Träume der ganzen Familie mit sich. Wegfahren
wird zu einer Überlebensfrage.
Unter all diesen verzweifelten und von der
Politik ihres jeweiligen Landes enttäuschten Jugendlichen, die nichts für sie tut, sieht man niemals
das Kind eines Ministers, Abgeordneten oder auch
nur eines hohen Beamten. Es handelt sich ausschliesslich um Söhne von Bauern, Fischern, Pastoren, Arbeitern, Arbeitslosen – um Söhne von armen Leuten. Sie sind es, die nicht genug zum Essen, zum Studieren, für die medizinische Versorgung haben. Arme Menschen, die glauben und hoffen, in Europa eine Arbeit finden zu können, denn
die Staatschefs in ihren Ländern sind unfähig, sie
ihnen zu geben. Und die dafür zu allem bereit sind.
Nichts kann sie aufhalten.
In voller Länge Im vollständigen Redetext
spricht Ndione über die Aufgaben Europas.
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