L [Reportage] L [Reportage] „In den letzten Jahren habe ich es immer wieder erlebt, dass man mich als Krüppel bezeichnet hat“, erzählt Moni und stützt sich auf ihre Krücken. Der 53-Jährigen wurde nach einem Ärztefehler der Unterschenkel amputiert. „Man kann jemandem oft verbal mehr wehtun als mit Schlägen.“ Auch die 20-jährige Jasmin, die an einer Lese- und Lernschwäche leidet, weiß nur zu gut, wie es sich anfühlt, wegen einer Behinderung angegriffen oder ausgeschlossen zu werden. „Menschen ohne Handicap haben ja keine Ahnung, wie das ist“, sagt sie. „Das ist das Schlimme. Ich bin zwar langsamer als manche andere, aber auch ich habe meine Stärken.“ „Ich muss leider immer wieder feststellen, dass seelische Behinderungen noch nicht angekommen sind in der Gesellschaft“, berichtet Claudia. Die 33-Jährige leidet seit ihrer Kindheit an Depressionen und Angststörungen. „Mir wird immer wieder gesagt, ich soll mich doch einfach nicht so anstellen und nicht so rumspinnen …“ Immer mehr Teilnehmer des inklusiven Fortbildungsabends bei der Lebenshilfe Amberg stehen nun von ihren Stühlen auf, um ihre Erfahrungen im Umgang mit „normalen“ Menschen mitzuteilen – und zu erzählen, wie sie sich Willkommen beim Wundernetz Es geht um Inklusion. Es geht darum, niemanden auszuschließen. Menschen mit Behinderung sollen mit gleichen Chancen und Rechten an Bildung, Kultur und anderen gesellschaftlichen Bereichen teilnehmen können. Das ist das Ziel, das sich die Offene Behindertenarbeit der Lebenshilfe Amberg mit dem Projekt „Wundernetz“ gesetzt hat. Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten in verschiedenen Arbeitsgruppen zusammen und nehmen an inklusiven Fortbildungen teil. Auch wir waren nun an so einem Abend dabei. [32] den Umgang wünschen würden. „Wenn mich jemand als Behinderter bezeichnet, dann fühle ich mich schon irgendwie beleidigt“, sagt der 25-jährige Tobias, der mit einer geistigen Einschränkung leben muss. „Mensch mit Behinderung finde ich da schon richtiger.“ „Mir ist es ehrlich gesagt ziemlich wurscht, wie mich jemand bezeichnet“, meint dagegen Jürgen, der seit einem Verkehrsunfall vor 18 Jahren im Rollstuhl sitzt. „Ich mache mir da keinen Kopf drüber. Meine Erfahrung ist: Wenn man offen aufeinander zugeht, ist das auch kein Problem mehr.“ Offen aufeinander zugehen, Barrieren abbauen und zeigen, dass sich die Lebenswelten von Menschen mit und ohne Behinderung eigentlich gar nicht so sehr unterscheiden – das sind die Ziele des Projekts „Wundernetz“. „Menschen mit Behinderung – vor allem mit einer geistigen Beeinträchtigung – sind es oftmals immer noch nicht gewohnt, mit einbezogen zu werden“, erzählt Hildegard Legat von der Lebenshilfe Amberg. Sie hatte vor zwei Jahren die Idee zu dem Inklusionsprojekt und hat dieses auch ins Leben gerufen. „Denn es wird leider immer noch viel zu oft und über sie hinweg entschieden. Ein Merkmal unseres Projekts ist es, dass bei allen Schritten die Menschen mit [33] L [Reportage] L [Reportage] mehr als Schimpfwort benutzt.“ Er erfährt: Im Gesetz gibt es so etwas nicht, aber inzwischen habe sich immer mehr die Bezeichnung „Mensch mit Behinderung“ durchgesetzt. Denn hier steht der Mensch erst einmal im Vordergrund, nicht sein Handicap. In der Diskussion wird schnell klar, was das eigentliche Problem ist. Berührungsängste entstehen meist erst dadurch, dass Menschen ohne Behinderung nicht wissen, wie sie denn nun mit Menschen mit Behinderung umgehen sollen. „Ich wünsche mir einfach, dass mehr Menschen mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten und in die Schule gehen“, sagt Jasmin. „Da kann ich mich nur anschließen“, meint Bernhard, Vater eines geistig eingeschränkten Sohnes. Er hat immer wieder die Erfahrung gemacht, dass dieser keinen Anschluss zu Kindern aus der Nachbarschaft hat, weil er eine andere Schule besuchen muss. nen Begriffe aus ihrem Fachgebiet. Jeder ist dazu eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen oder Fragen zu stellen. „Wir haben das Problem, dass uns allmählich die Wörter ausgehen“, sagt Mediziner Dr. Gerhard Legat. „Nehmen wir zum Beispiel das Wort Schwachsinn. Eigentlich nichts Schlimmes, es bedeutet einfach, dass jemand eine geistige Schwäche hat. Doch auch das wird inzwischen als Schimpfwort benutzt.“ Genauso Idiot oder Behinderter. Keiner der Anwesenden möchte heute noch „Seit dem Start des Projekts 2014 werde ich regelmä- so bezeichnet werden, da ßig immer wieder angenehm überrascht“, sagt Hildegard ist man sich einig. Legat und lächelt zufrieden. „Da kommen so viele neue Impulse und Ideen von außen. Und wie sich die Menschen „Gibt es denn nun eine mit den verschiedensten Arten von Behinderungen hier rechtlich korrekte Formueinbringen, das ist einfach nur toll!“ Auch die Teilnahme lierung?“, fragt Christoan der heutigen ersten inklusiven Fortbildung ist rege, pher aus der letzten Reijeder einzelne Stuhl im Raum ist besetzt. Es geht heute he die Anwältin Susanne um die richtigen Begrifflichkeiten. Darum, was darf man Engelhardt. „Denn gerade denn nun sagen – und was eher nicht. Eine Juristin, ein bei den Jugendlichen wird Arzt und ein Sonderpädagoge erklären die verschiede- behindert ja leider immer Behinderung miteinbezogen werden.“ Beim „Wundernetz“, das großzügig von der Aktion Mensch unterstützt wird, werden zum Beispiel in Arbeitsgruppen barrierefreie Internetseiten ausgearbeitet oder Programme von verschiedenen Bildungsträgern wie Volkshochschule, Katholische Erwachsenenbildung oder Evangelisches Bildungswerk Schritt für Schritt umgestaltet, so dass Menschen mit Handicap der Zugang zu den Kursen erleichtert wird. Weiterhin wird in Zusammenarbeit mit dem Regionalfernsehsender OTV regelmäßig ein „Wundernetz-Magazin“ produziert, das aus der Sicht von Menschen mit Behinderung von ihren Lebenswerken erzählt. In den inzwischen sieben Arbeitsgruppen gibt es mehr als 50 Mitglieder, ehrenamtliche Mitarbeiter unterstützen die verschiedenen Teams. [34] Dass es noch ein weiter Weg ist, bis Menschen mit und ohne Behinderung selbstverständlich miteinander arbeiten, leben und umgehen, das ist allen Beteiligten bewusst. Das „Wundernetz“ leistet jedoch jeden Tag wieder einen Beitrag dazu – und zeigt, dass das viel leichter ist, als sich vielleicht so einige dachten. Auch dieses Jahr ist wieder einiges geplant: Es wird nun erstmalig einen Englischkurs geben, an dem auch Menschen mit Behinderung teilnehmen können. Und es soll ein Prüfungsbüro für leichte Sprache eingerichtet werden, wo die Texte dann von Menschen mit Einschränkung gelesen und bei Bedarf verbessert werden. Weiterhin steht natürlich auch wieder ein Aktionstag eine Plättenfahrt auf der Vils gemacht. „Wir wollen einfach, im September auf dem Programm, hier wird dieses Mal dass die Allgemeinheit merkt: Ein Umgang mit Menschen mit Behinderung tut nicht weh“, sagt Hildegard Legat. „Es ist schon viel gewachsen, aber wir haben auch noch viel vor. Unser nächstes Ziel wird es dann sein, Sponsoren zu finden, wenn die Finanzierung des Projekts durch die Aktion Mensch Ende 2017 ausläuft.“ Denn es soll auch in Zukunft heißen: „Wundernetz – gemeinsam unterwegs“. Text und Fotos: Evi Wagner Kontakt Wundernetz Lebenshilfe Amberg-Sulzbach e. V. Hildegard Legat Fallweg 43 92224 Amberg Tel.: 09621/3081266 www.wundernetz.org [35]
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