Anstatt einer Biographie „Zu meinem Mal-Lebenslauf: Meine Mutter war Modistin. Das heisst, sie kreierte schöne Hüte. [….]. – Ich zeichnete hübsch, in der Primarschule einen Apfel oder eine Blume in das Aufsatzheft.“ So beginnt ein handschriftlicher Lebenslauf, den Roswitha Doerig dem Autor, mir, übermittelte – nach einigen Bitten, doch für den Katalog einige Fakten festzuhalten. Wobei Fakten für mich die Form einer tabellarischen Aufzählung haben (können); für Doerig sind die Tatsachen nicht an Jahreszahlen gebunden – es sind noch immer lebendige Erlebnisse, die sich aufgrund ihrer vitalistischen Gegenwart einem historischen (oder auch historisierenden) Protokoll verweigern. „Also, eine Schwester in dem geschlossenen Kloster […] zeichnete etwas an die Wandtafel, z.B. einen Baum so: [Zeichnung] und wir mussten nachzeichnen. Im Pensionat in Frybourg war Zeichnen ein zu bezahlendes Freifach – und es bestand darin ev. Micky-Mäuse auf eine Schatulle zu malen, wo wieder eine Schwester korrigierte und nachmalte. Das habe ich ihr nie verzeihen können. Ich malte Farbe an Farbe und sie hat alles mit schwarzen Pinselstrichen vervollständigt!! Dann bekam ich […] von der Grossmutter, in einer schönen, flachen, hellgrünen Blechschachtel, mit dem Sigel AD (Albrecht Dürer) darauf, innen mit so O grossen Farbküchlein und einen wunderschönen, weichen und üppigen Marderpinsel. Da gab mir Ferdinand Gehr, Onkel durch Heirat […], die ersten Malstunden, die darin bestanden (es gab deren nur 2), leichthin, mit vollem Farbpinsel Wellen auf ein A3-Papier zu ziehen. Das tat ich gerne.“ Malerei als Lust, als von Nachahmung und Kontrolle befreite Handlung – vermittelt oder angeregt von einem der bedeutendsten Ostschweizer Künstler, Ferdinand Gehr (18961996). Das ist ein schönes Bild für die unmittelbare Wirkkraft moderner Kunst – und irgendwo im Hintergrund ahnt man auch die beiden Appenzeller Heroen der modernen Malerei, Carl August und Carl Walter Liner, Vater und Sohn. „Und dann das Wunder: Ich musste wieder zu Schwestern in eine Klosterschule und dies in ‚the english Midlands‘. Nach Hinkley ‚in between Leicester and Birmingham‘. […]. Dann bekam ich das ‚Zückerli‘ […]: Du darfst in eine Zeichenschule in London!“ […] Also ging ich, mit 18 Jahren, nach London und suchte Logis und Schule, so gut wie möglich. Die Heatherley Art School – wo auch Franz Kline war, viele Jahre vor mir.“ Die Heatherley School of Fine Art, 1845 gegründet, war die erste Kunstschule in England, die1848 Frauen zu den gleichen Bedingungen wie Männer zuliess. Doerig studierte bei Iain Macnab of Barachastlain (1890-1967), einem Maler und Holzschneider, und bei Frederic Whiting (1874-1962), einem Maler. Beide unterstützten sie. „Ich ging mit geblähten Segeln zurück in die Bergmatt. = Jetzt lernst Du einen Beruf!!“ Nach dieser Enttäuschung kam doch noch: „Ich wäre sehr gerne nach Zürich gegangen, damals Kunstgewerbeschule. Ich durfte nicht. Ich musste nach St. Gallen, wo ich Holzkistli mit ausgestrecktem Arm zeichnen musste, nachdem ich ein Schuljahr lebenden Akt gemalt und gezeichnet hatte. Ausser der Schrift mit Willi Baus [1909-1985; St. Galler Graphiker und Designer; Lehrer an der Kunstgewerbeschule St. Gallen] lernte ich an dieser Schule nichts, und verliess sie nach ungefähr 6 Monaten. Zu dieser Zeit las ich Jean-Christophe von Romain Rolland [18661944; frz. Schriftsteller; dt. Buchtitel: Johann Christof: Kinder- und Jugendjahre, In Paris, Am Ziel], wo der verhängnisvolle Satz stand (en fr.) ‚Halbartistische Berufe führen mehr von der Kunst weg, als dass sie hinführen‘.“ In der Folgezeit lernt Doerig Kindergärtnerin, geht nach Genf und besucht abends Kurse an der École des Beaux-arts. Sie „emigriert“ in die USA, arbeitet bei einer Familie im Umfeld der Brauerei Busch in Saint-Louis, Missouri, als Kinderfrau, zieht nach New York, der damaligen „Hauptstadt des Abstrakten Expressionismus“. „Dann zurück nach New York. Columbia, arbeitete wild. Nach 2 Jahren Paris. = École nationale supérieure des beaux-arts de Paris.“ Das ist der Moment, an dem Roswitha Doerig die Künstlerin Roswitha Doerig erschafft. In New York studiert sie bei Franz Kline (1910-1962) und am Departement of Fine Arts der Columbia University, die in den 1950er und 1960er Jahren die Kunstentwicklung in den USA mitprägte. Dort entwarf Roswitha Doerig unter anderem Bühnenbilder und Kostüme. Nach dem Aufenthalt in den USA studierte sie ab 1957 sieben Jahre an der École nationale supérieure des beaux-arts de Paris – in der Hauptsache in den Fächern Malerei, Fresko, Lithographie und Glasmalerei. Seit Mitte der 1960er Jahre arbeitet sie als „freie“ Künstlerin in Paris und Appenzell, seit 1992 im ehemaligen Atelier von Man Ray in St. Germain des Prés in Paris. Seit 1968, nachdem sie Glasfenster für die moderne katholische Kirche Saint-Paul in Nanterre/Paris gestaltete, hat sie zahlreiche „Kunst-am-Bau-Projekte“ realisiert. 1985 nahm sie an der von Christo und Jeanne-Claude initiierten Aktion Wrapped Pont Neuf teil; Christo gab ihr „den Mut zum Monumentalen“ – den die Künstlerin auch im „kleinen Format“ umsetzt. 1996 erhielt sie als erste Frau den Innerrhoder Kulturpreis, die höchste kulturelle Auszeichnung des Kantons Appenzell Innerrhoden. 2001 wurde sie als „cultural leader“ zum World Economic Forum in Davos eingeladen. In zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen hat Roswitha Doerig ihr Werk bisher in der Schweiz, Frankreich, Kolumbien, Deutschland, Österreich und den USA gezeigt. RS
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