Publikation: Ressort: tbsg tb-sr Pagina: Erscheinungstag: 38 7. 8. 2015 Ist-Farben: MPS-Planfarben: cmyk0 cmyk 38 St. Gallen und Umgebung Freitag, 7. August 2015 Entschleunigen in der Lebensmitte 20 Jahre lang hat Michael Millius eine eigene Firma geführt und auf tausend Hochzeiten getanzt. Nach einem Burn-Out arbeitet er nun als Behindertenbetreuer. Was ihn gleichermassen gefreut und erschreckt hat: Die Reaktionen des Umfelds. sie profitieren von meiner Lebenserfahrung und meinen Erfahrungen als Vater.» Der 49-Jährige startete mit einem halbjährigen Praktikum. Er betreut im Team acht erwachsenen Autisten auf einer Wohngruppe, die nicht alleine leben können, weil sie wegen ihrer Wahrnehmungsstörungen Unterstützung brauchen. Ziel ist es, sie zu integrieren, wo immer möglich. Mitte August beginnt Millius die zweijährige Lehre zum «Fachmann Betreuung, Fachrichtung Behindertenbereich». Ihm gehe es nicht darum, «einen auf Sozi zu machen», wie einzelne Parteikollegen anfangs gefrotzelt hätten, betont er. Was CORINNE ALLENSPACH MÖRSCHWIL. Fast 20 Jahre lang war alles gut gegangen. Michael Millius war Geschäftsführer und Mitinhaber der Schriftwerk AG, die er 1994 mit zwei Partnern gegründet hatte. Werbetechnik, Beschriftungen, Leuchtreklamen. Damit machte sich die Firma, die heute 16 und zu Spitzenzeiten 25 Angestellte beschäftigte, einen Namen über die Was mich erschreckt hat: Viele Leute sagten mir: «I wött, i chönnt au». WENDEPUNKT Stadtgrenzen hinaus. Millius war zudem Ausbildungschef und Delegierter im Berufsverband, Vorstandsmitglied in verschiedenen Vereinen, Mitglied in Businessclubs und übernahm auch sonst allerlei Ämtli, oder wie er es nennt: «Ich habe auf tausend Hochzeiten getanzt.» In der Gugge, als Helfer bei Dorffesten, als Präsident der FDP Mörschwil. Bis er 2009 wegen eines BurnOuts ein halbes Jahr total ausgefallen ist. ihm besonders gefällt: «Am Abend hast du das Gefühl, etwas Sinnvolles gemacht zu haben. Du hast Menschen begleitet, damit sie einen guten Tag hatten.» Vollzogen, was andere überlegen Rasch wieder im Hamsterrad Der gelernte Schriftenmaler sitzt daheim am Stubentisch. Es ist 9 Uhr. Sein Dienst in der Stiftung Waldheim beginnt an diesem Tag erst um 12.30 Uhr. An sein Burn-Out erinnert sich Millius ungern: «In der Schweiz ist das ja wie ein Versagen.» Darum, und auch, um sich selber zu beweisen, dass es «schon irgendwie geht», kehrte er wieder zurück in die Firma. Im Nachhinein sei das ein Fehler gewesen. Millius hatte in der monatelangen Therapie gelernt, nein zu sagen und zu entschleunigen. Musik machen mit seiner Band, lesen, mit seiner Frau im Alpstein wandern, einfach mal im Garten liegen und nichts tun. Zurück im Alltag sei man aber rasch wieder im Hamsterrad drin. Der Körper reagierte. Die Hektik in der Werbebranche und der Preisdruck waren auch nicht weniger geworden. Was den heute 49-Jährigen auch störte, war die fehlende Wertschätzung fürs Personal: «Viele Kunden interessieren sich nicht mehr, ob eine Firma auch soziale Verantwortung übernimmt. Es geht nur noch um möglichst tiefe Preise.» Wieder ganz unten anfangen Gleichzeitig war ihm klar: «Die Wirtschaft wird sich mir nicht anpassen.» Entweder hätte er sich anpassen müssen, aber das Bild: Urs Bucher Michael Millius vor der Stiftung Waldheim: «Ich bereue es keine Minute, mein Leben entschleunigt zu haben.» wollte er nicht mehr. «Ich war mit einem blauen Auge davongekommen und wollte meine Gesundheit nicht aufs Spiel setzen.» So begann der Vater zweier Söhne in Ausbildung, eine Auslegeordnung zu machen und seine Firmenanteile zu verkaufen. Schriftwerk besteht weiterhin, aber unter neuer Leitung. In der Firma bleiben als «Nicht-Chef» wollte Millius nicht. «Ich hatte es gesehen, wie man so schön sagt.» Stattdessen wollte er künftig mit Menschen zu tun haben. Bereits bei Schriftwerk hatte er unter anderem mit dem Verein Drehschiibe zusammengearbeitet und Jugendlichen mit Problemen ein Praktikum ermöglicht. «Das war mir sehr wichtig», sagt er. So schnupperte Millius 2014 in verschiedenen Institutionen: Im Platanenhof, im Quimby Huus, in der Stif- Die Wirtschaft wird sich nicht ändern. Dann muss man halt sich selber ändern. tung Waldheim. Dabei habe er gemerkt, «das ist es». Der Mörschwiler schrieb mehrere Bewerbungen und konnte sich mehrmals vorstellen. Zum Teil sei sein Alter ein Handicap gewesen. Da seien Fragen gekommen wie: «Wollen Sie wirklich wieder ganz unten anfangen?» oder «Wollen Sie sich von jüngeren Berufsleuten sagen lassen, was Sie zu tun haben?» Millius wollte. Und er hat es noch keine Minute bereut. Sicher, zwischendurch habe er gezweifelt. «Aber heute bin ich extrem glücklich, den Schritt gemacht zu haben.» Autisten im Alltag begleiten Seit Dezember arbeitet Millius dort, wo andere Ferien machen, wie er sagt. In Walzenhausen, hoch über dem Bodensee. Für die Stiftung Waldheim habe er sich entschieden, weil es eine «Win-Win-Situation» sei. Millius hatte sofort einen guten Eindruck und kann in der Stiftung die Ausbildung machen: «Und Als Millius nach seinem BurnOut sein Leben umkrempeln musste, dachte er, er sei ein Exot. Bald habe er aber gemerkt: Er hatte einfach jenen Schritt vollzogen, über den andere nachdenken. Für den aber oft der Mut fehlt oder die finanziellen Ängste zu gross sind. Was ihn besonders erschreckt hat: «Viele Leute sagten mir: ‹I wött, i chönnt au›. Da fragt man sich schon, wie das mit unserer Gesellschaft weitergehen soll.» Zum Teil habe er sogar Anrufe von Wildfremden erhalten, die wissen wollten, wie er es gemacht habe. Ein Patentrezept kenne er natürlich nicht. Zentral sei aber sicher die Unterstützung der Familie. «Finanziell muss man schon anfangen zu rechnen.» Zudem habe er auch von Kollegen ausnahmslos positive Reaktionen und viel Zuspruch erhalten. «Für mich hat alles gepasst, es musste so sein.» Sommerserie Wenn das Leben die Richtung ändert In unserer Sommerserie «Wendepunkt» porträtieren wir Menschen, deren Leben sich von einem Tag auf den anderen grundlegend verändert hat. Sei es für eine bestimmte Zeit oder für immer, positiv oder negativ, gewollt oder überraschend. (red.)
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