FreuNDscHAFT - Abenteuer Philosophie

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Unsere Fragen an die
Freundschaft
Wir alle scheinen zu wissen, was Freundschaft ist, aber wenn wir über sie nachdenken, entstehen viele
Fragen. So wie wir diese beantworten, prägt die Freundschaft unser Leben und die Gesellschaft.
Von Katharina Lücke
30 Abenteuer Philosophie / Nr. 1 43
N
iemand möchte ohne Freunde
leben. Diese Aussage stammt
von Aristoteles und beweist, dass
Freundschaft immer schon eine zentrale
Rolle spielte. Wie können wir sie definieren? Das ist gar nicht so einfach, denn da
schwingen viele Gefühle, Hoffnungen
und Ängste mit. „Freundschaft ist ein
auf gegenseitiger Zuneigung beruhendes
Verhältnis von Menschen zueinander“,
sagt der Duden. Damit können wir nicht
wirklich zufrieden sein. Freundschaft ist
viel mehr: Mit einem Freund gehen wir
durch dick und dünn. Wir können mit
ihm über alles reden, wir helfen und ver- Ethik. (Buch 8–9). Freundschaft bleibt
trauen einander. Er bremst uns, wenn
auch bei ihm eine Tugend. Er unterscheiwir uns gerade in irgendetwas verrennen det drei Formen:
wollen. Wir erinnern uns gegenseitig an
1. Die Nutzfreundschaft sucht das Nützunsere Lebensziele und Träume und stel- liche und Gute. Sie dauert so lange, wie
len uns gemeinsam den Schwierigkeiten der Nutzen anhält.
des Lebens. Wir entscheiden uns bewusst,
2. Die Lustfreundschaft beruht auf dem
einander Freunde zu sein. Ich kann nicht Angenehmen und ist noch unbeständiger
heimlich Freund sein, so wie ich jeman- und zufällig.
den lieben kann, ohne dass er es weiß.
3. Die wahre Freundschaft liegt – sehr
Freundschaft ist frei von verwirrenden
ähnlich wie bei Platon – in dem gemeinGefühlen und sexueller Anziehung. Wir samen Streben nach Tugendhaftigkeit.
haben Angst, den Freund zu verlieren und Die Wertschätzung des Freundes hängt
allein zu sein. Und es gibt viele Fragen: von der moralischen Qualität seines
Wie viel Tugend und Wahrheit braucht Charakters ab und liegt nicht in seiner
oder verträgt die Freundschaft? Wie viel „liebenswerten Persönlichkeit“. Sehr spanFreiheit muss ich gewähren, wenn mein nend ist auch seine berühmte SpiegelFreund offensichtlich in sein Verderben Metapher: Ich liebe meinen Freund so,
rennt? Wie viel und was darf ein Freund wie ich mich liebe. Mein Freund ist mein
von mir verlangen? Wie viel und was darf
zweites Selbst, mein „alter ego“. Er spieer geben? Und wo bleibe letztlich ich?
gelt meine, wie ich ihm seine, Liebe zum
Guten und zur Tugend. Nur durch diese
Eine Ideengeschichte
gegenseitige Spiegelung können beide
In der Antike wird Freundschaft mit
sich korrigieren und verbessern. Auch
Philia bezeichnet und bedeutet eine
bei Aristoteles finden wir also eine indispirituelle, höhere Form der Beziehung viduelle als auch eine politisch-kollektive
zwischen Menschen oder auch mit Gott. Komponente.
Philia, als eine spezielle Art der Liebe,
verbindet nicht nur Freunde, sondern
Ohne Freunde können wir
auch die Mitglieder einer Familie und
nicht gut sein
einer politischen Gemeinschaft oder auch
und
nicht gut leben.
Geschäftspartner.
Aristoteles
Platon und Aristoteles
Für Platon war Freundschaft eine sittliche, praktische Tugend und zeigt sich in
einem gemeinsamen Streben nach dem
Guten. Daraus entsteht ein moralischer
Nutzen für den Einzelnen wie auch für
das Kollektiv. Wenn alle Freunde gemeinsam nach dem Guten streben, strebt wohl
ein Großteil der Menschen dorthin.
Freundschaft hat also in der Antike eine
wichtige politische Funktion. „Könnte je
ein Staat aus lauter Geliebten und Liebenden bestehen, wie könnte er vortrefflicher
sein, als durch diese Menschen, die vor
jeder unedlen Handlung zurückschrecken,
und im Guten miteinander wetteifern.“
(Platon, Symposion)
Aristoteles widmet dem Thema gleich
zwei Kapitel in seiner Nikomachischen
Mittelalter
Nun wird die Freundschaft von der
christlichen Theologie beeinflusst. Ihre
Ursache und ihr Ziel liegen in der göttlichen Liebe. Hier kommen vor allem auch
der Gedanke der Nächstenliebe (caritas)
und Freundlichkeit (affabilitas) dazu.
Auch der Sünder soll freundschaftlich,
verzeihend geliebt und in die Gemeinschaft der Gläubigen integriert werden.
Neuzeit
Das Welt- und das Menschbild fragmentieren sich. Auch die Freundschaft
verliert ihr einheitliches Verständnis und
ihren moralischen und politischen Aspekt.
Sie wird eine ganz private Angelegenheit.
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Auch bei Immanuel Kant (1724–1804,
Michel de Montaigne (1533–1592,
französischer Philosoph zur Zeit der deutscher Philosoph der Aufklärung)
Renaissance und Reformation) beschreibt spielt die Moral unter Freunden keine
die Freundschaft als zutiefst emotionale Rolle mehr. Ihre Beziehung ist eine
und persönliche Erfahrung gegenseitiger praktisch-notwendige Idee. Das „MaxiHingabe. Darin ist keine Verpflichtung mum der Wechselliebe“ kann der egoisauf eine gemeinsame Idee oder Moral
tische Mensch nicht realisieren. Dageenthalten. Wahre Freundschaft ist sel- gen beschreibt er eine Freundschaft der
ten und mündet in ein „Er ist ich.“ Die Gesinnung, in der die Freunde sich uneingewöhnlichen Freundschaften werden geschränkt austauschen, ohne etwas zu
wegen eines Vorteils geschlossen.
verhehlen. Kant gibt aber zu, dass FreundThomas Hobbes
(1588–1679, englischer Empiriker)
erkennt nur mehr
diese Nutzfreundschaft, denn die
einzige Liebe, zu
der ein Mensch
fähig ist, ist die
Selbstliebe.
Persönlicher Nutzen
motiviert zu den
Handlungen und
stellt die Grundlage
aller Beziehungen
her. Damit entfällt
nun das Wohl des
Freundes um seiner selbst willen.
Freundschaft verschafft Macht durch
die vereinte Kraft.
Tugend
und
gemeinsame
Lebensentwicklung
sind also in den Freunde sind besonders für Jugendliche sehr wichtig
Hintergrund getreten und vordergründig werden gemeinsame Gespräche und
schaft die Tugend im Kleinen kultiviert, in
Geselligkeit. In Deutschland entwickelte
dem sie Vertrauenswürdigkeit, Offenheit
sich in der Zeit der Aufklärung geradezu
und Vertrauen lebt. Er sieht aber auch die
ein Kult um die Freundschaft.
Gefahren, dass der Freund die eigene Freiheit und Autonomie einschränken kann
bzw. Unmoralisches erbittet oder gewährt.
Einen neuen Impuls erhält unser
Ein Freund ist ein Mensch,
Thema
in den 50er-Jahren durch die
der die Melodie deines HerEthik des guten Lebens. Das Gelingen des
zen kennt und sie dir vorspielt,
Lebens rückt ins Blickfeld und verdrängt
wenn du sie vergessen hast.
rechthaberische und verstaubte TugendUnbekannt
ethik. Damit kommt es auch zu einer
Wiederbelebung antiker – insbesondere
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aristotelischer – Ethikauffassungen. Die
Spannung zwischen Freundschaft und
Moral sowie ihre politische Dimension
wird wieder Gegenstand der Diskussion.
Die Gefühlsdimension aber bleibt im
Zentrum.
Unsere Fragen an
die Freundschaft
Wie viel Tugend und Wahrheit braucht
oder verträgt die Freundschaft? Wie viel
gar nicht. Kein Freund darf in diesem
Konzept Unmoralisches verlangen oder
leisten. Beides ist mit Freundschaft nicht
vereinbar.
Siedeln wir allerdings die Freundschaft
rein in der privaten Sphäre an und nimmt
darin die Gefühlsebene einen immer größeren Raum ein, dann neigen wir zu allzu
großer Parteilichkeit. Alles wird schwierig
und unlösbar wie die eigenen Probleme in
wenn mein Freund mir nur sagt: „Ja! Du
bist so arm.“ Dann ergeben wir uns beide
der Ungerechtigkeit der Welt.
Wir sind alle zu individuellen und
freien Wesen geworden, aber in dieser
neuen Rolle haben wir auch viele Ängste.
Daher müssen wir unser Ego schützen
und mit allen möglichen Mitteln verteidigen. Wir dürfen anderen nicht zu viel
helfen, wir müssen Nein sagen lernen,
Jugend-Wertestudie
durchgeführt vom Institut für Jugendkulturforschung, www.jugendkultur.at
Freunde und Familie sind für die Jugend am wichtigsten. Für 81 Prozent der Befragten
ist die Familie „sehr wichtig“, für 77 Prozent Freunde und Bekannte. Besonders auffällig ist hier vor allem der massive Bedeutungszugewinn der Lebensbereiche Freunde/
Bekannte. Freunde/Bekannte erzielten insbesondere im Vergleichszeitraum 1990 bis
2000 einen maßgeblichen Bedeutungszugewinn. Nannten 1990 noch 53 Prozent diesen
Lebensbereich als sehr wichtig, waren es 2000 bereits 72 Prozent. 2011 stieg die Relevanz
dieses Lebensbereichs weiter auf 79 Prozent.
Statistik aus der Studie des Instituts für Jugendkulturforschung – jugendkultur.at
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Freiheit muss ich gewähren, wenn mein
Freund offensichtlich in sein Verderben
rennt? Wie viel und was darf ein Freund
von mir verlangen? Wie viel und was
darf er geben? Und wo bleibe letztlich
ich? – Die Antworten stehen in Relation
zu dem Bild, das wir uns von der Freundschaft machen. Ist sie in die Ethik eingebettet wie etwa in der Antike, so braucht
Freundschaft Tugend und Wahrheit, um
überhaupt zu existieren. Sollte die Ehrlichkeit eine Freundschaft gefährden,
dann gab es die Freundschaft in Wahrheit
unseren eigenen Augen. Dann vergeben
wir die Spiegelungschance der Freundschaft.
Das Vertrauen in einer Freundschaft
kann auch grausam erscheinen. Wenn ich
etwa am Boden zerstört und verzweifelt
bin und mein Freund mir sagt: „Ich vertraue dir, du schaffst das sicher.“ Aber sie
kann auch meinen inneren Motor anwerfen, der eine Kraft besitzt, die ich bisher
in mir noch gar nicht kenne. Und was,
wir müssen unsere Entscheidungsfreiheit mit Zähnen und Klauen verteidigen,
auch wenn wir dabei gegen eine Wand
rennen. Macht nichts, wenn wir daraus
etwas lernen. Zum Beispiel, dass es nichts
Schöneres gibt, als für andere etwas Gutes
zu tun.
Und bei all der komplementären
Darstellung der verschiedenen Freundschaftskonzepte in der Geschichte dürfen wir auch nicht vergessen, dass die
antike Tugendethik „trotzdem“ voller
Gefühle war. Da gab es nicht nur moralische Pflicht. Allerdings verstand man ein
tugendhaftes Leben als das genussreichste
Leben, weil damit die Sehnsucht der Seele
gestillt wurde. Wir haben die Begriffe zerlegt und zerteilt in ihre Bestandteile und
müssen sie nun auch wieder zusammenfügen. Wir können auch nicht an einen
bestimmten Punkt in der Geschichte
zurückgehen und dort neu anfangen. Aber
wir können Fragen stellen und Antworten
in Geschichte und Gegenwart suchen, um
eine neue Freundschaft für die Zukunft
zu bauen.
Die Herausforderung
unserer Zeit
Wir haben unsere Individualisierung
und unsere Freiheit zum Preis einer moralischen und politischen Orientierungslosigkeit erkauft. Das zeigt sich in der Privatisierung der Freundschaft und deren
Loslösung aus dem moralischen Rahmen.
Wie gut täte uns heute der Zusammenschluss von kulturell gefestigten Menschen
in einer durch Gemeinsinn zusammengehaltenen Wertegemeinschaft. John Ralws
(1921 – 2002, amerikanischer Philosoph)
schreibt der Freundschaft die Fähigkeit
zu, eine politisch gerechte Gesellschaft zu
vereinen. Die Anerkennung der Gerechtigkeit knüpft Freundschaft zwischen den
Menschen – inmitten aller verbliebenen
Gegensätze. Gerade unsere pluralistische Welt braucht wieder die politischkollektive Dimension der Freundschaft.
Sie führt uns zu zivilem Engagement in
der Gesellschaft, zum selbstverpflichteten Volunteering, zu Rücksichtnahme,
Empathie, Großzügigkeit und Vertrauen.
Wir brauchen heute nicht nur Loyalität,
sondern Kooperation, Gemeinsinn und
gesellschaftliche Verantwortung. Diese
Eigenschaften werden heute auch durch
Begriffe wie Bürgerfreundschaft oder global citizenship umschrieben. Lassen wir
uns also vom antiken und kollektiven
Freundschaftskonzept inspirieren. Haben
wir Mut, unser Ego ein wenig zu riskieren
und wir werden sehen, wie viel wir alle
dadurch gewinnen.
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