philoSPIRIT © Simona Jasineviciene | Dreamstime.com philoSPIRIT Unsere Fragen an die Freundschaft Wir alle scheinen zu wissen, was Freundschaft ist, aber wenn wir über sie nachdenken, entstehen viele Fragen. So wie wir diese beantworten, prägt die Freundschaft unser Leben und die Gesellschaft. Von Katharina Lücke 30 Abenteuer Philosophie / Nr. 1 43 N iemand möchte ohne Freunde leben. Diese Aussage stammt von Aristoteles und beweist, dass Freundschaft immer schon eine zentrale Rolle spielte. Wie können wir sie definieren? Das ist gar nicht so einfach, denn da schwingen viele Gefühle, Hoffnungen und Ängste mit. „Freundschaft ist ein auf gegenseitiger Zuneigung beruhendes Verhältnis von Menschen zueinander“, sagt der Duden. Damit können wir nicht wirklich zufrieden sein. Freundschaft ist viel mehr: Mit einem Freund gehen wir durch dick und dünn. Wir können mit ihm über alles reden, wir helfen und ver- Ethik. (Buch 8–9). Freundschaft bleibt trauen einander. Er bremst uns, wenn auch bei ihm eine Tugend. Er unterscheiwir uns gerade in irgendetwas verrennen det drei Formen: wollen. Wir erinnern uns gegenseitig an 1. Die Nutzfreundschaft sucht das Nützunsere Lebensziele und Träume und stel- liche und Gute. Sie dauert so lange, wie len uns gemeinsam den Schwierigkeiten der Nutzen anhält. des Lebens. Wir entscheiden uns bewusst, 2. Die Lustfreundschaft beruht auf dem einander Freunde zu sein. Ich kann nicht Angenehmen und ist noch unbeständiger heimlich Freund sein, so wie ich jeman- und zufällig. den lieben kann, ohne dass er es weiß. 3. Die wahre Freundschaft liegt – sehr Freundschaft ist frei von verwirrenden ähnlich wie bei Platon – in dem gemeinGefühlen und sexueller Anziehung. Wir samen Streben nach Tugendhaftigkeit. haben Angst, den Freund zu verlieren und Die Wertschätzung des Freundes hängt allein zu sein. Und es gibt viele Fragen: von der moralischen Qualität seines Wie viel Tugend und Wahrheit braucht Charakters ab und liegt nicht in seiner oder verträgt die Freundschaft? Wie viel „liebenswerten Persönlichkeit“. Sehr spanFreiheit muss ich gewähren, wenn mein nend ist auch seine berühmte SpiegelFreund offensichtlich in sein Verderben Metapher: Ich liebe meinen Freund so, rennt? Wie viel und was darf ein Freund wie ich mich liebe. Mein Freund ist mein von mir verlangen? Wie viel und was darf zweites Selbst, mein „alter ego“. Er spieer geben? Und wo bleibe letztlich ich? gelt meine, wie ich ihm seine, Liebe zum Guten und zur Tugend. Nur durch diese Eine Ideengeschichte gegenseitige Spiegelung können beide In der Antike wird Freundschaft mit sich korrigieren und verbessern. Auch Philia bezeichnet und bedeutet eine bei Aristoteles finden wir also eine indispirituelle, höhere Form der Beziehung viduelle als auch eine politisch-kollektive zwischen Menschen oder auch mit Gott. Komponente. Philia, als eine spezielle Art der Liebe, verbindet nicht nur Freunde, sondern Ohne Freunde können wir auch die Mitglieder einer Familie und nicht gut sein einer politischen Gemeinschaft oder auch und nicht gut leben. Geschäftspartner. Aristoteles Platon und Aristoteles Für Platon war Freundschaft eine sittliche, praktische Tugend und zeigt sich in einem gemeinsamen Streben nach dem Guten. Daraus entsteht ein moralischer Nutzen für den Einzelnen wie auch für das Kollektiv. Wenn alle Freunde gemeinsam nach dem Guten streben, strebt wohl ein Großteil der Menschen dorthin. Freundschaft hat also in der Antike eine wichtige politische Funktion. „Könnte je ein Staat aus lauter Geliebten und Liebenden bestehen, wie könnte er vortrefflicher sein, als durch diese Menschen, die vor jeder unedlen Handlung zurückschrecken, und im Guten miteinander wetteifern.“ (Platon, Symposion) Aristoteles widmet dem Thema gleich zwei Kapitel in seiner Nikomachischen Mittelalter Nun wird die Freundschaft von der christlichen Theologie beeinflusst. Ihre Ursache und ihr Ziel liegen in der göttlichen Liebe. Hier kommen vor allem auch der Gedanke der Nächstenliebe (caritas) und Freundlichkeit (affabilitas) dazu. Auch der Sünder soll freundschaftlich, verzeihend geliebt und in die Gemeinschaft der Gläubigen integriert werden. Neuzeit Das Welt- und das Menschbild fragmentieren sich. Auch die Freundschaft verliert ihr einheitliches Verständnis und ihren moralischen und politischen Aspekt. Sie wird eine ganz private Angelegenheit. Nr. 1 43 / Abenteuer Philosophie 31 philoSPIRIT philoSPIRIT Auch bei Immanuel Kant (1724–1804, Michel de Montaigne (1533–1592, französischer Philosoph zur Zeit der deutscher Philosoph der Aufklärung) Renaissance und Reformation) beschreibt spielt die Moral unter Freunden keine die Freundschaft als zutiefst emotionale Rolle mehr. Ihre Beziehung ist eine und persönliche Erfahrung gegenseitiger praktisch-notwendige Idee. Das „MaxiHingabe. Darin ist keine Verpflichtung mum der Wechselliebe“ kann der egoisauf eine gemeinsame Idee oder Moral tische Mensch nicht realisieren. Dageenthalten. Wahre Freundschaft ist sel- gen beschreibt er eine Freundschaft der ten und mündet in ein „Er ist ich.“ Die Gesinnung, in der die Freunde sich uneingewöhnlichen Freundschaften werden geschränkt austauschen, ohne etwas zu wegen eines Vorteils geschlossen. verhehlen. Kant gibt aber zu, dass FreundThomas Hobbes (1588–1679, englischer Empiriker) erkennt nur mehr diese Nutzfreundschaft, denn die einzige Liebe, zu der ein Mensch fähig ist, ist die Selbstliebe. Persönlicher Nutzen motiviert zu den Handlungen und stellt die Grundlage aller Beziehungen her. Damit entfällt nun das Wohl des Freundes um seiner selbst willen. Freundschaft verschafft Macht durch die vereinte Kraft. Tugend und gemeinsame Lebensentwicklung sind also in den Freunde sind besonders für Jugendliche sehr wichtig Hintergrund getreten und vordergründig werden gemeinsame Gespräche und schaft die Tugend im Kleinen kultiviert, in Geselligkeit. In Deutschland entwickelte dem sie Vertrauenswürdigkeit, Offenheit sich in der Zeit der Aufklärung geradezu und Vertrauen lebt. Er sieht aber auch die ein Kult um die Freundschaft. Gefahren, dass der Freund die eigene Freiheit und Autonomie einschränken kann bzw. Unmoralisches erbittet oder gewährt. Einen neuen Impuls erhält unser Ein Freund ist ein Mensch, Thema in den 50er-Jahren durch die der die Melodie deines HerEthik des guten Lebens. Das Gelingen des zen kennt und sie dir vorspielt, Lebens rückt ins Blickfeld und verdrängt wenn du sie vergessen hast. rechthaberische und verstaubte TugendUnbekannt ethik. Damit kommt es auch zu einer Wiederbelebung antiker – insbesondere 32 Abenteuer Philosophie / Nr. 1 43 aristotelischer – Ethikauffassungen. Die Spannung zwischen Freundschaft und Moral sowie ihre politische Dimension wird wieder Gegenstand der Diskussion. Die Gefühlsdimension aber bleibt im Zentrum. Unsere Fragen an die Freundschaft Wie viel Tugend und Wahrheit braucht oder verträgt die Freundschaft? Wie viel gar nicht. Kein Freund darf in diesem Konzept Unmoralisches verlangen oder leisten. Beides ist mit Freundschaft nicht vereinbar. Siedeln wir allerdings die Freundschaft rein in der privaten Sphäre an und nimmt darin die Gefühlsebene einen immer größeren Raum ein, dann neigen wir zu allzu großer Parteilichkeit. Alles wird schwierig und unlösbar wie die eigenen Probleme in wenn mein Freund mir nur sagt: „Ja! Du bist so arm.“ Dann ergeben wir uns beide der Ungerechtigkeit der Welt. Wir sind alle zu individuellen und freien Wesen geworden, aber in dieser neuen Rolle haben wir auch viele Ängste. Daher müssen wir unser Ego schützen und mit allen möglichen Mitteln verteidigen. Wir dürfen anderen nicht zu viel helfen, wir müssen Nein sagen lernen, Jugend-Wertestudie durchgeführt vom Institut für Jugendkulturforschung, www.jugendkultur.at Freunde und Familie sind für die Jugend am wichtigsten. Für 81 Prozent der Befragten ist die Familie „sehr wichtig“, für 77 Prozent Freunde und Bekannte. Besonders auffällig ist hier vor allem der massive Bedeutungszugewinn der Lebensbereiche Freunde/ Bekannte. Freunde/Bekannte erzielten insbesondere im Vergleichszeitraum 1990 bis 2000 einen maßgeblichen Bedeutungszugewinn. Nannten 1990 noch 53 Prozent diesen Lebensbereich als sehr wichtig, waren es 2000 bereits 72 Prozent. 2011 stieg die Relevanz dieses Lebensbereichs weiter auf 79 Prozent. Statistik aus der Studie des Instituts für Jugendkulturforschung – jugendkultur.at © Elena Elisseeva | Dreamstime.com Freiheit muss ich gewähren, wenn mein Freund offensichtlich in sein Verderben rennt? Wie viel und was darf ein Freund von mir verlangen? Wie viel und was darf er geben? Und wo bleibe letztlich ich? – Die Antworten stehen in Relation zu dem Bild, das wir uns von der Freundschaft machen. Ist sie in die Ethik eingebettet wie etwa in der Antike, so braucht Freundschaft Tugend und Wahrheit, um überhaupt zu existieren. Sollte die Ehrlichkeit eine Freundschaft gefährden, dann gab es die Freundschaft in Wahrheit unseren eigenen Augen. Dann vergeben wir die Spiegelungschance der Freundschaft. Das Vertrauen in einer Freundschaft kann auch grausam erscheinen. Wenn ich etwa am Boden zerstört und verzweifelt bin und mein Freund mir sagt: „Ich vertraue dir, du schaffst das sicher.“ Aber sie kann auch meinen inneren Motor anwerfen, der eine Kraft besitzt, die ich bisher in mir noch gar nicht kenne. Und was, wir müssen unsere Entscheidungsfreiheit mit Zähnen und Klauen verteidigen, auch wenn wir dabei gegen eine Wand rennen. Macht nichts, wenn wir daraus etwas lernen. Zum Beispiel, dass es nichts Schöneres gibt, als für andere etwas Gutes zu tun. Und bei all der komplementären Darstellung der verschiedenen Freundschaftskonzepte in der Geschichte dürfen wir auch nicht vergessen, dass die antike Tugendethik „trotzdem“ voller Gefühle war. Da gab es nicht nur moralische Pflicht. Allerdings verstand man ein tugendhaftes Leben als das genussreichste Leben, weil damit die Sehnsucht der Seele gestillt wurde. Wir haben die Begriffe zerlegt und zerteilt in ihre Bestandteile und müssen sie nun auch wieder zusammenfügen. Wir können auch nicht an einen bestimmten Punkt in der Geschichte zurückgehen und dort neu anfangen. Aber wir können Fragen stellen und Antworten in Geschichte und Gegenwart suchen, um eine neue Freundschaft für die Zukunft zu bauen. Die Herausforderung unserer Zeit Wir haben unsere Individualisierung und unsere Freiheit zum Preis einer moralischen und politischen Orientierungslosigkeit erkauft. Das zeigt sich in der Privatisierung der Freundschaft und deren Loslösung aus dem moralischen Rahmen. Wie gut täte uns heute der Zusammenschluss von kulturell gefestigten Menschen in einer durch Gemeinsinn zusammengehaltenen Wertegemeinschaft. John Ralws (1921 – 2002, amerikanischer Philosoph) schreibt der Freundschaft die Fähigkeit zu, eine politisch gerechte Gesellschaft zu vereinen. Die Anerkennung der Gerechtigkeit knüpft Freundschaft zwischen den Menschen – inmitten aller verbliebenen Gegensätze. Gerade unsere pluralistische Welt braucht wieder die politischkollektive Dimension der Freundschaft. Sie führt uns zu zivilem Engagement in der Gesellschaft, zum selbstverpflichteten Volunteering, zu Rücksichtnahme, Empathie, Großzügigkeit und Vertrauen. Wir brauchen heute nicht nur Loyalität, sondern Kooperation, Gemeinsinn und gesellschaftliche Verantwortung. Diese Eigenschaften werden heute auch durch Begriffe wie Bürgerfreundschaft oder global citizenship umschrieben. Lassen wir uns also vom antiken und kollektiven Freundschaftskonzept inspirieren. Haben wir Mut, unser Ego ein wenig zu riskieren und wir werden sehen, wie viel wir alle dadurch gewinnen. ☐ Nr. 1 43 / Abenteuer Philosophie 33
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