1 Vorschlag des PARITÄTISCHEN Berlin zur medizinischen

Vorschlag des PARITÄTISCHEN Berlin zur medizinischen Soforthilfe für Flüchtlinge
Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle für die medizinische Erstbetreuung mit Clearingfunktion
zur Prävention, Gesundheitshilfe und Integration bei der Erstaufnahme von Flüchtlingen in Berlin:
„Medizinisches Versorgungszentrum und Netzwerk für Flüchtlinge“ (MVF Berlin)
1. Ausgangssituation
Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Berlin kommen, wird voraussichtlich in absehbarer Zeit nicht abnehmen. Die für Deutschland zum Jahresbeginn noch prognostizierte Zahl von 450.000 Flüchtlingen
wird deutlich überschritten, mittlerweile wird von mehr als 800.000 Flüchtlingen ausgegangen, die
2015 nach Deutschland kommen. In Berlin werden allein in 2015 bis zu 70.000 Flüchtlinge erwartet.
Die bei uns eintreffenden Menschen brauchen nicht nur Wohnplätze und andere existenzielle Hilfen.
Die individuelle Gesundheit und medizinisch notwendige Behandlungen sind ein wichtiger Bestandteil einer humanitären Versorgung von Flüchtlingen.
Gesundheit ist zentraler Faktor für das Gelingen der individuellen und sozialen Integration. Ärzte und
weitere medizinische oder pflegerische Berufsgruppen haben einen selbstverständlichen und glaubwürdigen Zugang zu den betroffenen Menschen. Gesundheit ist auch ein Maßstab für die Qualität
der Flüchtlingsbetreuung und gleichzeitig ein niedrigschwelliger Zugang zur selbstorganisierten Problembewältigung mit den betroffenen Menschen. Derzeit müssen Geflüchtete in Berlin tagelang auf
dem Gelände des LaGeSo auf ihre Registrierung warten, ohne dass kranken und zum Teil schwer
traumatisierten Menschen eine sofortige und angemessene medizinische Hilfe zur Verfügung steht.
Diese Situation ist unhaltbar. Sie beeinträchtigt die Würde der betroffenen Personen und gefährdet
gleichzeitig Gesundheit und Leben aller Menschen in Berlin. Eine zentrale Anlaufstelle und medizinisches Versorgungszentrum für alle ankommenden Flüchtlinge hilft nicht nur die Gesundheitsversorgung zu stabilisieren, sie ist gleichzeitig auch eine Bewältigungshilfe für alle nachfolgenden Versorgungs- und Betreuungsaufgaben und Grundlage für eine Empowerment Strategie, die dazu befähigt,
die eigene Situation zu bewältigen. Die medizinische Erstversorgung kann zur Eingangspforte für eine
qualitativ und wirtschaftlich optimierte Flüchtlingsbetreuung werden.
2. Sofortmaßnahmen im Konzept der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales
Die im Konzept der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales vom 11. August 2015 genannten
Sofortmaßnahmen (Sprachförderung, Betreuung für Flüchtlingskinder, Sportangebote, kulturelle
Bildung, Jugendarbeit mit und für Flüchtlinge, Qualifizierung von Fachpersonal wie LehrerInnen und
ErzieherInnen) sind ausdrücklich zu begrüßen. Sie sind ein wichtiger und richtiger, aber noch nicht
hinreichender Schritt zur nachhaltigen Problembewältigung.
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Für den „Bereich Gesundheit“ benennt das Konzept die
Einführung der elektronischen Gesundheitskarte („Chipkarte“) für Leistungsberechtigte nach
dem AsylbLG bis Ende 2015
Einrichtung einer zentralen Impfstelle und
gesetzlich vorgeschriebene Röntgenuntersuchung von neu eintreffenden Flüchtlingen.
Diese Maßnahmen sind nicht ausreichend und werden den global üblichen medizinischen Versorgungsstandards nicht gerecht. Die genannten Maßnahmen stellen keine medizinische Soforthilfe dar
und sind zum Schutz der betroffenen Flüchtlinge und der mit ihnen befassten Personen aus der Berliner Bevölkerung vollkommen unzureichend. Die im „Flüchtlingskonzept“ der Senatsverwaltung vorgesehenen und zukünftigen, geplanten Maßnahmen müssen deshalb dringend konkretisiert und
deutlich verbessert werden.
Sofortige medizinische Hilfe ist bereits bei der Erstaufnahme zu gewährleisten. Sie kann und sollte
mit der administrativen Aufnahme funktional und ressourcensparend vernetzt werden und Clearingaufgaben zur Überleitung in die Regelversorgungssysteme und zur individuellen und sozialen Eingliederung übernehmen. Behandlungs- und Versorgungsstrukturen der medizinischen und psychosozialen Versorgung sind so zu gestalten, dass diese aufeinander aufbauen und optimal ineinander greifen
können. Diese Aufgaben sollten in das Sofortproramm des Senats aufgenommen und unmittelbar
umgesetzt werden.
Die medizinische Erstversorgung bietet gleichzeitig eine stabile Grundlage zur Koordinierung und zum
effizienten wie effektiven Einsatz freiwilliger Hilfen aus der Berliner Bevölkerung. Die Berliner Ärztekammer, zahlreiche Ärzteorganisationen und die freien Träger von gesundheitlichen, psychosozialen
oder sozialpädagogischen Hilfen können auf dieser Plattform einer gesundheitlichen Erstversorgung
unter Einbezug der Gesundheitsförderung nach den Prinzipien der Ottawa Charta der WHO ihr ganzes Potential und Know-how einbringen und damit die Selbstorganisation aller beteiligten Menschen
stärken.
3. Bedarf für eine zentrale Anlaufstelle zur (allgemein-) medizinischen Erstbegutachtung mit
Clearingfunktion, Prävention und Gesundheitshilfen für Flüchtlinge bei der Erstaufnahme in Berlin
Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG muss
mit Nachdruck vorangebracht werden. Dies kann aber nur der erste, dringend notwendige Schritt sein.
Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht. Geflüchtete Menschen müssen von Anfang an einen
gleichberechtigen Zugang in die medizinische Regelversorgung bekommen. Darüber hinaus sind eine
obligatorische Erstuntersuchung und eine medizinische Akutversorgung notwendig, eine im Bedarfsfall erforderliche Sofortbehandlung muss gewährleistet sein. Ebenso ist der Zugang zur medizinischen
(Erst-) Versorgung für alle zu gewährleisten. Es muss sichergestellt werden, dass geflüchtete Menschen
von Anfang an Zugang zu medizinischer Versorgung und zur Gesundheitsförderung erhalten.
Das Konzept der Senatsverwaltung erwägt, für die als „besonders schutzbedürftig“ identifizierten Personen eine Diagnostik „bereits während der Zeit der Erstaufnahme“ vorzuhalten.
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Es müssen aber alle Flüchtlinge, Asylsuchende, deren Kinder und unbegleitete jugendliche Flüchtlinge,
die beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) einen Erstantrag stellen, eine (allgemein-)
medizinische Erstbegutachtung erhalten, damit Krankheiten frühzeitig erkannt und notwendige Behandlungen sofort eingeleitet werden können.
Die Sicherstellung eines menschenwürdigen, gleichberechtigten Zugangs zu Gesundheit und Behandlung von Krankheit ist für die geflüchteten Menschen, die in Berlin Schutz suchen, eine existentielle
Unterstützung, die auch die Selbstwirksamkeit und das Selbstmanagement der ankommenden Personen stärkt und damit die Problembewältigung für alle beteiligten Kräfte optimiert.
Es kann sinnvoll sein, die medizinische Erstversorgung vor die verwaltungstechnische Erfassung der
Antragssteller zu platzieren. Die medizinische und psychosoziale Erstanamnese erleichtert auch die
Orientierung sämtlicher nachgeschalteter Versorgungs- und Betreuungsprozesse. Ein niedrigschwelliger Zugang zur Begutachtung und medizinischen Basisversorgung eröffnet eine nachhaltige Chance,
individuelles Vertrauen in Hilfen und Versorgungsstrukturen außerhalb von behördlichen Vorschriften
und Notwendigkeiten zu entwickeln. Das wiederum erleichtert und entlastet spürbar das notwendige
Handeln der Behörden.
Die Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle für die (allgemein-) medizinische Erstbegutachtung mit
Akutversorgung und Clearingfunktion für alle Flüchtlinge, die vor dem LaGeSo auf ihre Registrierung
warten, ist nicht nur vernünftig und human. Sie hilft auch den Behörden und nimmt Angst und Verunsicherung aus dem System. Das vorgeschlagene Medizinische Versorgungszentrum zur Betreuung der
Flüchtlinge und Vernetzung mit komplementären Angeboten der gesundheitlichen und psychosozialen
Versorgung kann auf dem Gelände des LaGeSo integriert werden. Funktionaler und organisatorisch
besser zu managen wäre ein eigenständiger Standort mit Platz und Raum für die Vernetzung von Angeboten und Leistungen, die bezahlt und unentgeltlich sowohl von professionellen Fachkräften wie
Laienhelfern erbracht werden.
Die Sicherstellung eines niedrigschwelligen Zugangs zur integrierten Gesundheitsförderung und Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge und besonders vulnerable Gruppen unter den Flüchtlingen, also
ein ganzheitliches, biopsychosoziales Medizinisches Versorgungszentrum unter Einbezug der in Berlin
vorhandenen bezahlten wie ehrenamtlichen Ressourcen stellt für die Stadt und den Senat eine einzigartige Chance dar.
Der Bedarf von Flüchtlingen, die wegen chronischer Krankheiten auf bestimmte Medikamente angewiesen sind und bei denen die Gefahr einer Therapieunterbrechung besteht bzw. eine Unterbrechung
aufgrund fehlender Medikamente während der Flucht bereits eingetreten ist, muss dabei sofort, bei
der Erstregistrierung oder bereits davor erfasst und versorgt werden. Die sofortige Behandlung von
Infektionskrankheiten, Mangelsyndromen oder Verletzungen, die sich Flüchtlinge unterwegs zugezogen haben, spart Kosten und schützt alle Menschen. Die sofortige ärztliche Versorgung der klassischen
Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Hepatitis und HIV oder auch Läuse, Wanzen, Flöhe und Krätze
dient dem Gesundheitsschutz aller Bürgerinnen und Bürger.
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4. Zentrale Anlaufstelle zur (allgemein-) medizinischen Erstbegutachtung mit Clearingfunktion sowie
Prävention und Gesundheitshilfe für Flüchtlinge bei der Erstaufnahme in Berlin: „Medizinisches Versorgungszentrum und Netzwerk für Flüchtlinge - MVF Berlin“
Eine zentrale Anlaufstelle für die (allgemein-) medizinische Erstbegutachtung und sofortige Versorgung
für Flüchtlinge gewährleistet und stellt sicher:
eine zeitnahe medizinische Erstbegutachtung bereits bei der Erstaufnahme oder auch davor.
einen niedrigschwelligen Zugang zur medizinischen Erst- und Basisversorgung für alle ankommenden Menschen
bei Bedarf eine sofortige weitergehende medizinische Hilfe
eine „Verteilung“ im Sinne von Clearingfunktion an andere Versorgungsstrukturen, auch an psychosoziale Angebote und gesundheitliche Hilfen bei freien Trägern. Über die akute Versorgung
hinausgehende Integration in die Regelversorgungsysteme und in das soziale Leben
Zusätzlich zum Röntgenmobil für die Feststellung von TBC-Infektionen müssen weitere, in Berlin bereits vorhandene, Testangebote in Zusammenarbeit mit freien Trägern einbezogen werden. Die Möglichkeit einer freiwilligen Beratung und Testung auf HIV- und/oder Hepatitis-Infektionen ist unverzichtbar notwendig, damit Behandlungen frühzeitig und kostensparend stattfinden können.
Niedrigschwellige, auch mobile Angebote, die freiwillig in Anspruch genommen werden können, sind
bereits durch bestehende Gesundheits- und Präventionsangebote der freien Träger gewährleistet. Sie
bieten beispielsweise bereits jetzt
basismedizinische Versorgung kleiner Wunden,
Beratung mit Schnelltests zu HIV, Syphilis, Hepatitis C
Zielgruppenspezifische Aufklärungskampagnen in den verschiedenen Communities oder
psychosoziale Informationen und Beratungen.
Diese Kapazitäten müssen erweitert werden.
Behandlungen durch medizinisches Fachpersonal und Angebote der freien Träger bis hin zur Selbsthilfe und ehrenamtlichen Strukturen können zielgerichtet und effektiv ineinandergreifen. In Berlin ist seit
etwa 30 Jahren fachliches und versorgungsstrukturelles Know-how aus dem „Schöneberger Modell“
vorhanden. Dieses Modell ist ein Netzwerk aus stationärer, teilstationärer und ambulanter medizinischer Behandlung und den Angeboten freier Träger mit integrierter Clearingfunktion. Das Modell wurde aufgrund von HIV/Aids vor 30 Jahren in Berlin konzipiert und ist in Deutschland beispielhaft für eine
schnelle, effektive und Kosten sparende Überleitung von notwendiger sofortiger Versorgung in eine
Regelversorgung innerhalb der vorhandenen Strukturen unseres Gesundheitswesens. Das Modell hat
sich nachhaltig bewährt und l kann nun auch für den Zugang zu einer Erstbegutachtung mit Sofortbzw. Basisversorgung und im Bedarfsfall weitergehender medizinischer und psychosozialer Versorgung
der Flüchtlinge in Berlin angewendet werden. Es lässt sich für eine institutionsübergreifende Versorgung von Flüchtlingen bzw. vulnerable Gruppen unter den geflüchteten Personen zügig weiterentwickeln und neue wichtige Kooperationspartner unproblematisch einbinden.
Freie Träger mit ihren Angeboten sind auch Ansprechpartner für Flüchtlinge, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität diskriminiert werden bis hin zu homo- und
trans*feindlicher Gewalt in Flüchtlingsheimen. Der Senat anerkennt in seinem Konzept richtigerweise
lesbische, schwule, bisexuelle trans* und inter* (LSBTI*) Flüchtlinge als besonders schutzbedürftige
soziale Gruppe.
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Dementsprechend ist auch eine Fachstelle für LSBTI*-Flüchtlinge analog zu den anderen Gruppen besonders Schutz bedürftiger Flüchtlingen einzurichten. Schätzungen gehen von 5-10% LSBTI* bei Asyl
suchenden Flüchtlingen aus und sie benötigen dringend Schutz und adäquate Versorgung. Verschiedene freie Träger in Berlin halten Angebote für LSBTI*-Flüchtlinge vor, ein freier Trägern richtet aktuell
eine Kontakt- und Anlaufstelle ein und ist auf der Suche für 30 Wohnplätze für LSBTI* Flüchtlinge. Der
Bedarf ist evident und es werden weitere Kapazitäten gebraucht, um die bestehenden Angebote auszubauen, zielgruppenspezifisch anzupassen und den Herausforderungen gerecht zu werden
Berlin besitzt ein einzigartiges Potential fachlichen Know-hows im Umgang mit sozial bedingten Gesundheitsproblemen und ein einzigartiges Potential an freiwilligen Helfern in allen Feldern der Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung. Diese Ressource der Hauptstadt ist vorbildlich und
produktiv zugleich. Staatliche Unterstützung einer funktionalen Infrastruktur an einem öffentlichen
wie symbolträchtigen Ort wird die Möglichkeiten des Bürgerschaftlichen Engagements und des Zusammenwirkens von öffentlichen Institutionen mit der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation zu
einer Kultur der Problemlösung verbinden, die langfristig tragfähig ist und sozial integrierend wirkt. Die
Politik braucht den Mut, die vorhandenen Chancen zu sehen und zu nutzen.
5. Aufruf zum Handeln
Die beschriebene Situation erfordert unverzügliches und schnelles Handeln durch die Politik, den Senat von Berlin und die öffentliche Verwaltung. Die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlins stehen mit ihrem Know-how und ihrem Potential zur Umsetzung von Problemlösungsprozessen durch Selbstorganisation und wirksame Hilfen zur Selbsthilfe bereit, um das Land
Berlin bei den Aufgaben im Umgang mit Flüchtlingsproblemen zu unterstützen. Sie werden dabei mit
den anderen Wohlfahrtsverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen eng kooperieren. Sie
sehen in der Flüchtlingskrise auch eine Chance zum Wachstum des sozialen Wohlstandes und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes.
Die Errichtung eines Medizinischen Versorgungszentrums und Netzwerk für Flüchtlinge (MVF Berlin),
also einer zentralen Anlaufstelle für die Gesundheit aller Flüchtlinge ist ein Weg, aus der Sackgasse von
Angst und Abwehr herauszukommen. Die Aufgabe kann als Chance und Herausforderung für die Zukunft Berlins verstanden werden. Das Projekt zeigt: Berlin hilft kompetent, couragiert, ergebnisorientiert und kostenwirksam. Berlin löst die Probleme mit den betroffenen Menschen und nutzt deren
eigene Ressourcen für ein humanes Projekt im Interesse der ansässigen wie ankommenden Bevölkerungsgruppen.
PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband
Landesverband Berlin e.V.
Referat Gesundheit, Suchthilfe, HIV/Aids
Berlin, 29. August 2015
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