Ulrich Barton · eleos und compassio Ulrich Barton eleos und compassio Mitleid im antiken und mittelalterlichen Theater Wilhelm Fink Umschlagabbildung: Tragische Masken (Herakles und Deianeira?) aus dem Fragment einer Sarkophagvorderseite, SK 857, Antikensammlung, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Fotograf: Johannes Laurentius Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. 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Die Vatermord-These (Sigmund Freud) . . . . . . . . . . . . . . . . I.1.3. Die Sündenbock-These (René Girard, Rainer Warning). . . . 11 11 13 17 I.2. Methodische Zuspitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2.1. Performativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2.2. Mitleid. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 29 34 I.3. Eingrenzung des Textcorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 II. MITLEID IM PHILOSOPHISCH-THEOLOGISCHEN DISKURS DER ANTIKE UND DES MITTELALTERS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 II.1. Mitleid in der griechischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.1. Das realweltliche Mitleid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.2. Das Theatermitleid. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.2.1. Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.2.2. Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 47 61 61 64 II.2. Mitleid im antiken und mittelalterlichen Christentum . . . . . . . . . . . . 86 II.2.1. Das realweltliche und das religiöse Mitleid . . . . . . . . . . . . . 86 II.2.1.1. Exkurs I: Maria als Vorbild und Objekt der compassio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 II.2.1.2. Exkurs II: Die Ästhetik der compassio bei Heinrich Seuse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 II.2.2. Das Theatermitleid. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 II.3. Zusammenfassender Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 6 III. INHALTSVERZEICHNIS MITLEIDSFIGUREN AUF DER BÜHNE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 III.1. Mitleidsfiguren in der Tragödie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1.1. Kassandra in Aischylos’ ‚Agamemnon‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1.2. Deianeira in Sophokles’ ‚Trachinierinnen‘ . . . . . . . . . . . . . . III.1.3. Odysseus in Sophokles’ ‚Aias‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1.4. Neoptolemos in Sophokles’ ‚Philoktetes‘ . . . . . . . . . . . . . . . III.1.5. Theseus in Euripides’ ‚Herakles‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 144 146 151 157 161 III.2. Mitleidsfiguren im Passionsspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.1. Christus als barmherziger Heiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.1.1. Der Blinde im Alsfelder Passionsspiel . . . . . . . . . III.2.1.2. Maria Magdalena. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.1.3. Lazarus im Alsfelder Passionsspiel . . . . . . . . . . . . III.2.2. Mitleidsfiguren auf dem Kreuzweg und unter dem Kreuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2.1. Veronica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2.2. Die Töchter Jerusalems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2.2.3. Longinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 166 166 168 172 174 175 179 187 III.3. Zusammenfassender Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 IV. MATER DOLOROSA: DIE MUTTER ALS FIGUR MIT-LEIDENS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 DES IV.1. Mütter in der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1.1. Atossa in Aischylos’ ‚Persern‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1.2. Hekabe in Euripides’ ‚Troerinnen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1.3. Euripides’ ‚Medea‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 195 200 207 IV.2. Die Gottesmutter im Passionsspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.1. Überleitender Exkurs: Die Gottesmutter im byzantinischen ‚Christos paschōn‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.2. Dramatisch-szenische Marienklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.2.1. Selbständige Marienklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.2.2. Marienklagen im Passionsspiel. . . . . . . . . . . . . . . IV.2.3. Der Dialog zwischen Christus und Maria in Bethania . . . . . 216 216 226 231 241 250 IV.3. Zusammenfassender Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 7 INHALTSVERZEICHNIS V. ECCE HOMO: SCHMERZENSMÄNNER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 V.1. Schmerzensmänner in der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.1. Herakles in Sophokles’ ‚Trachinierinnen‘ . . . . . . . . . . . . . . . V.1.2. Sophokles’ ‚König Ödipus‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.3. Aischylos’ (?) ‚Gefesselter Prometheus‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 264 268 276 V.2. Der Schmerzensmann im Passionsspiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.1. Christus am Ölberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.2. Geißelung und Ecce homo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.2.3. Die Kreuzigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 281 285 292 V.3. Zusammenfassender Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 VI. DAS MITLEID MIT SCHULDIGEN ALS ÄSTHETISCHES UND THEOLOGISCHES PROBLEM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 VI.1. Die törichten Jungfrauen im Eisenacher Zehnjungfrauenspiel . . . . . . 309 VI.2. Judas im Passionsspiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 VII. KATHARSIS IM PASSIONSSPIEL? EXKURS: DAS SCHIITISCHE PASSIONSSPIEL . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 VIII. RÜCK- UND AUSBLICK: MITLEID ZWISCHEN RELIGIÖSER UND ÄSTHETISCHER ERFAHRUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 REGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 VORBEMERKUNG Die vorliegende Studie ist die überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner im Wintersemester 2012/13 an der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen eingereichten Dissertation. Erweitert und vertieft wurden insbesondere die Einleitung und das Schlusskapitel, die sonstigen Kapitel durchweg präzisiert und um neuere Forschungsliteratur ergänzt. Die komparatistische Anlage der Arbeit geht auf zwei wichtige Anregungen während meines Studiums zurück: Prof. Dr. Klaus Ridder (germanistische Mediävistik, Tübingen) weckte mein Interesse für das mittelalterliche Theater, gerade auch für dessen emotionale Dimensionen, und Prof. Dr. Thomas Schirren (Gräzistik, Salzburg) machte mich mit dem aristotelischen Mitleidsbegriff vertraut und förderte mich sehr bei der Tragödienlektüre. Dafür sowie für die produktive und freundliche Betreuung der Arbeit sei ihnen beiden aufs herzlichste gedankt. Für weiteren fachlichen Austausch und hilfreiche Ratschläge danke ich ebenso herzlich der Drittgutachterin Prof. Dr. Annette Gerok-Reiter, Dr. Michael Egerding, Dr. Derk Ohlenroth, Prof. Dr. Rüdiger Schnell und dem Tübinger mediävistischen Oberseminar. Für freundschaftliche und kollegiale Unterstützung möchte ich mich bei der gesamten Tübinger mediävistischen Abteilung bedanken, darüber hinaus bei Christoph Bongert, Dr. Robert Michels, Beatrice Rabaglia, Elise Schmit und Dr. Gabriela Wacker. Mein herzlicher Dank gilt nicht zuletzt meiner Familie und ganz besonders Patrizia Späth, die mir in jeglicher Hinsicht, emotional wie intellektuell, liebevoll zur Seite stand. Für die überaus freundliche und kompetente Betreuung vonseiten des Verlags habe ich Daniel Bonanati, Marina Scheuermann und Henning Siekmann zu danken. Ulrich Barton I. EINLEITUNG: SIND TRAGÖDIE UND PASSIONSSPIEL ÜBERHAUPT VERGLEICHBAR? Die europäische Theatergeschichte hat zwei Anfänge, die beide mehr oder weniger im Dunkeln liegen. So viel zumindest glaubt man sagen zu können, dass das antike und das christlich-mittelalterliche Theater jeweils aus dem religiösen Kult hervorgegangen sind – das antike aus dem Dionysos-Kult, das mittelalterliche aus der (Oster-)Liturgie. Diese rituelle Rückgebundenheit schlägt sich noch in den späteren, textlich greifbaren Ausgestaltungen nieder. Auch wenn die griechische Tragödie sich tatsächlich, wie Aristoteles berichtet,1 aus komisch-satyrhaften Ursprüngen heraus entwickelt haben sollte und das mittelalterliche Theater einigermaßen sicher in Osterfeiern (10./11. Jh.), die zur Erregung der Auferstehungsfreude dienten, seinen Anfang nahm, suchen die jeweils größten Ausgestaltungen der beiden Theatertraditionen weniger Lachen und Freude als vielmehr Mitleid zu erregen, genauer: die Tragödie eleos (und phobos), das Passionsspiel compassio. Diese Parallelität wurde immer wieder festgestellt, eigens in den Blick genommen aber erstaunlich selten, und wenn, dann eher aus ritualistischer und ethnologisch-anthropologischer Perspektive. Die Ansätze führen zu faszinierenden Ergebnissen, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen, weil auf einige in ihnen enthaltene Aspekte immer wieder zurückzukommen sein wird. Sie erscheinen aber zumindest aus literatur- und theaterwissenschaftlicher Sicht als so problematisch, dass die jeweilige Forschung zur Tragödie und zum Passionsspiel voneinander ganz unabhängige Wege geht und höchstens sehr oberflächlich aufeinander Bezug nimmt. I.1. Die bisherigen Ansätze I.1.1. Die Jahresgott-These (Cambridger Ritualisten) Dass Dionysos und Christus als sterbende und wiederauferstehende Götter Ähnlichkeiten und womöglich sogar eine religionsgeschichtliche Verwandtschaft aufweisen, ist längst gesehen worden und dient vielen ritualistischen Theorien als Ansatzpunkt, besonders wenn es darum geht, die christliche Liturgie mit ihrer unblutigen Wiederholung der Opfertat in ein Abhängigkeits- oder Abgrenzungs1 Aristoteles, ‚Poetik‘, 4, 1449a19f. Vgl. dazu Primavesi 2009, S. 54–66. 12 EINLEITUNG verhältnis zu mythischen Opferritualen zu setzen. Mit Bezug auf den Ethnologen James Frazer und den Cambridger Ritualisten Gilbert Murray hebt Jürgen Kühnel2 die Ähnlichkeit zwischen dem dionysischen und dem christlichen „Urdrama“ hervor, wie sie sich im Dithyrambos als der Vorform der Tragödie, worin Tod und Auferstehung des Dionysos chorisch-szenisch zelebriert werden, und in der paraliturgischen Osterfeier ausgestalten: die gleiche mythische bzw. heilsgeschichtliche Ursituation, die gleiche ‚Dramaturgie‘ – im Zentrum des Geschehens steht die Enthüllung des leeren Grabes –, selbst die gleiche ‚Rollenverteilung‘ – böckisch vermummte Choreuten stellen den dionysischen Frauenthiasos, Kleriker die Marien dar, und der Frauen-thiasos und die drei Marien stehen letztlich für Demeter-Persephone-Rhea und die eine Maria mater Domini (…).3 Die Ähnlichkeit ist bestechend, aber mehreres bleibt problematisch: Kühnel gibt selbst zu, dass die Rekonstruktion des Ur-Dithyrambos als der „rituelle[n] Vergegenwärtigung des Mythos vom getöteten, zerstückelten und auferstandenen Gott Dionysos“ „spekulativ“ ist und sich dem – prinzipiell sicher nicht unzulässigen – Vergleich mit vorderasiatischen und ‚primitiven‘ Vegetationskulten verdankt.4 Selbst wenn die Spekulation zutrifft, bestehen viele und große Unterschiede zu den tatsächlich überlieferten Tragödien, die allesamt nicht vom Tod und der Wiederauferstehung eines Gottes, sondern von Schuld und Leid heroischer Menschen handeln, und um diese Kluft zu überbrücken, müsste man behaupten, dass alle diese Tragödien lediglich die Ausgestaltungen der einen Ur-Tragödie wären.5 Religionsund ritualhistorisch liegt eine solche Spekulation nahe, aber für eine literatur- und theaterwissenschaftliche Untersuchung führt sie kaum weiter oder schlimmstenfalls sogar in die Irre, da sie den Blick auf die Texte und damit die konkreten Wirkungsmöglichkeiten und Sinnkonstitutionen der tatsächlich aufgeführten Tragödien verstellen kann. Etwas anders, doch grundsätzlich ähnlich verhält es sich mit der Beziehung zwischen den paraliturgischen Osterfeiern und den Passionsspielen: Hier ist die szenische Ausgestaltung von der Auffindung des leeren Grabes zwar schriftlich überliefert, und beide Formen stellen denselben ‚Urmythos‘ dar, aber die Kern- und Ursprungsszene des mittelalterlichen geistlichen Theaters macht höchstens einen Bruchteil der spätmittelalterlichen Passionsspiele aus, sofern sie überhaupt mit dargestellt wird, ganz abgesehen von den unterschiedlichen Aufführungsbedingungen (Kirchenaufführungen durch Kleriker auf der einen, Marktplatzaufführungen durch Stadtbürger auf der anderen Seite). Das heißt, auch wenn die Osterfeier und das Passionsspiel sich auf dasselbe Urereignis zurückbeziehen, können gleichwohl 2 Da Kühnel 1981 antikes und mittelalterliches Drama ausgehend vom ritualistischen Ansatz bereits sehr detailliert vergleicht, sei hier auf eine genauere Darstellung der Cambridger Ritualistenschule verzichtet. 3 Ebd., S. 30. 4 Ebd., S. 29. 5 So bereits Nietzsche in seiner ‚Geburt der Tragödie‘, KSA, Bd. 1, S. 71f. DIE BISHERIGEN ANSÄTZE 13 ihre jeweiligen Wirkungen und Sinnkonstituierungen ganz unterschiedlich sein. Eine eventuelle Ähnlichkeit zwischen den Ursprüngen der antiken Tragödie im Dithyrambos und des geistlichen Spiels in der Osterfeier besagt also letztlich gar nichts über die Vergleichbarkeit der attischen Tragödien des 5./4. Jahrhunderts v. Chr. und der spätmittelalterlichen Passionsspiele. Einen Unterschied zwischen dem Dithyrambos und der Osterfeier hebt Kühnel allerdings hervor, der für den Vergleich von Tragödie und Passionsspiel insofern relevant ist, als er das ihnen zugrundeliegende Zeitverständnis betrifft: Während Dionysos als Jahresdämon oder Fruchtbarkeitsgott in zyklischer Wiederholung jedes Jahr aufs neue stirbt und wiederaufersteht (sowohl im Bocks- oder Stieropfer als auch in den daran anschließenden Dithyrambos- bzw. Tragödienaufführungen), haben Christi Tod und Auferstehung in der linear gedachten Heilsgeschichte nur ein einziges Mal stattgefunden und werden lediglich zyklisch erinnert (in der Eucharistie zwar mit Christi Realpräsenz, aber unblutig-symbolisch, in der Osterfeier unblutig-symbolisch ohne Realpräsenz, in Passions- und Osterspiel ‚kunstblutig‘theatral).6 Ansätze, die sich beim Vergleich zwischen dem antiken und dem mittelalterlichen Theater nur oder vornehmlich auf die Ursprünge konzentrieren, können, wie gesagt, wenig zum Vergleich zwischen den konkreten Dramen bzw. Spielen beitragen. Bei Kühnel, der durchaus die jeweilige Entwicklung vom ‚Urdrama‘ zu den schriftlich überlieferten Großformen nachzeichnet, wird zudem deutlich, dass einem solchen Ansatz sogar die ins Auge springende Übereinstimmung in der Bedeutung der Mitleidserregung entgehen kann. I.1.2. Die Vatermord-These (Sigmund Freud) Sigmund Freuds Ansatz konzentriert sich ebenfalls auf den jeweiligen Ursprung des Theaters, verliert dabei aber nicht das Mitleid aus dem Blick, gibt ihm vielmehr eine überraschende Bedeutung. In ‚Totem und Tabu‘ (1912/13) versucht er, die griechische Tragödie und das mittelalterliche Passionsspiel zusammenzudenken und auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen: Waren speziell in der griechischen Tragödie die Leiden des göttlichen Bockes Dionysos und die Klage des mit ihm sich identifizierenden Gefolges von Böcken der Inhalt der Aufführung, so wird es leicht verständlich, daß das bereits erloschene Drama sich im Mittelalter an der Passion Christi neu entzündete.7 6 Vgl. ebd., S. 34f. 7 Freud 1912/13, S. 211f. 14 EINLEITUNG Die gemeinsame Wurzel wäre der kultur- und religionsstiftende Urmord der Brüderhorde an ihrem Vater: Dieser habe die Söhne dadurch unterdrückt, dass er allein über die Frauen der Horde verfügen konnte und sie den Söhnen verweigerte. Die Söhne stehen deshalb in einem ödipalen Verhältnis zu ihrem Vater, indem sie ihn einerseits lieben und bewundern, andererseits als den Besitzer der von ihnen begehrten Objekte hassen. Um sich von seiner Macht zu befreien und seine Stelle einzunehmen, töten sie ihn gemeinsam. Nach dem Mord jedoch bereuen sie ihre Tat, zumal keiner der Brüder sich an die Stelle des Vaters setzen kann. In ihrem Schuldbewusstsein und in daraus folgendem „nachträglichem Gehorsam“8 versagen sie sich nun selbst die Verfügung über die Frauen, so dass der Vater eine noch größere Macht über sie gewinnt als zuvor. Der ermordete Vater fungiert für die Gemeinschaft fortan als Totem bzw. als Gott; ihm zu Ehren finden regelmäßig rituelle Opferungen statt, die die Gemeinschaft feierlich an den Urmord zurückbinden. In einer solchen rituellen Wiederholung des Vatermordes habe die Tragödie ihren Ursprung, und hierin sieht Freud die Erklärung für das Schuldigwerden und Leiden des Helden: Er muß leiden, weil er der Urvater, der Held jener großen urzeitlichen Tragödie ist, die hier eine tendenziöse Wiederholung findet, und die tragische Schuld ist jene, die er auf sich nehmen muß, um den Chor von seiner Schuld zu entlasten. Die Szene auf der Bühne ist durch zweckmäßige Entstellung, man könnte sagen: im Dienste raffinierter Heuchelei, aus der historischen Szene hervorgegangen. In jener alten Wirklichkeit waren es gerade die Chorgenossen, die das Leiden des Helden verursachten; hier aber erschöpfen sie sich in Teilnahme und Bedauern, und der Held ist selbst an seinem Leiden schuld. Das auf ihn gewälzte Verbrechen, die Überhebung und Auflehnung gegen eine große Autorität, ist genau dasselbe, was in Wirklichkeit die Genossen des Chors, die Brüderschar, bedrückt. So wird der tragische Held – noch wider seinen Willen – zum Erlöser des Chors gemacht.9 Die Stärke dieser Tragödiendeutung liegt darin, dass sie den charakteristischen Ambivalenzen der Tragödie gerecht wird: 1. der Ambivalenz der Schuld: Der Held lädt Schuld auf sich, aber eine solche, die das Mitleid mit ihm nicht verhindert; die spezifisch tragische Schuld ist eine schuldlose Schuld;10 2. der Ambivalenz der Wirkung: Der Zuschauer leidet mit dem Helden mit, und doch scheint die spezifisch tragische Lust gerade darin zu liegen, dass der Held untergeht. 8 Ebd., S. 198. 9 Ebd., S. 211. 10 Dieses Schuld-Verständnis ist freilich mit einem spezifischen Tragikbegriff verknüpft, der erst im Deutschen Idealismus definiert wurde (vgl. Szondi 1961) und nicht an die Gattung Tragödie gebunden ist: Schuldlose Schuld kann in der griechischen Tragödie vorkommen, ist aber kein Gattungskriterium, weil der griechische Tragödienbegriff nicht durch den neuzeitlichen Tragikbegriff definiert ist. Nicht jede griechische Tragödie ist im neuzeitlichen Sinne tragisch. DIE BISHERIGEN ANSÄTZE 15 Das Mitleid, das der Chor äußert, und damit wohl auch das Mitleid, das der Zuschauer empfindet, wird von Freud als „raffinierte Heuchelei“ interpretiert. Das Mitleid mit dem vermeintlich Schuldigen dient nur als Maske für das Schuldbewusstsein der Gemeinschaft, die den Tod des Helden verlangt. Es verschleiert die Verschiebung der Schuld von der Gemeinschaft auf den Helden. Wenn Freud die theatrale Darstellung der „Leiden des göttlichen Bockes Dionysos“ neben diejenige der Passion Christi stellt, müssten seine auf die Tragödie bezogenen Beobachtungen auf das Passionsspiel übertragbar sein. Er geht zwar nicht näher auf das Passionsspiel ein, deutet aber das Christentum insgesamt als besonders überzeugenden Beweis für seine Vatermord-Theorie: So bekennt sich denn in der christlichen Lehre die Menschheit am unverhülltesten zu der schuldvollen Tat der Urzeit, weil sie nun im Opfertod des einen Sohnes die ausgiebigste Sühne für sie gefunden hat. (…) Mit der gleichen Tat, welche dem Vater die größtmögliche Sühne bietet, erreicht auch der Sohn das Ziel seiner Wünsche gegen den Vater. Er wird selbst zum Gott neben, eigentlich an Stelle des Vaters. Die Sohnesreligion löst die Vaterreligion ab. Zum Zeichen dieser Ersetzung wird die alte Totemmahlzeit als Kommunion wiederbelebt, in welcher nun die Brüderschar vom Fleisch und Blut des Sohnes, nicht mehr des Vaters, genießt, sich durch diesen Genuß heiligt und sich mit ihm identifiziert. (…) Die christliche Kommunion ist aber im Grunde eine neuerliche Beseitigung des Vaters, eine Wiederholung der zu sühnenden Tat.11 Allein im Christentum also scheint das Bestreben des vatermordenden Sohns zu gelingen, sich an die Stelle des Vaters zu setzen, dies aber nur um den Preis, dass er sich selbst zum Opfer bringt bzw. von seinen Mitbrüdern zum Opfer gebracht wird. Christus ist dann also nicht das unschuldige Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, sondern nimmt stellvertretend für seine Brüder, die zusammen mit ihm den Vater ermordet haben, die Schuld und die entsühnende Hinrichtung auf sich, erlöst seine Brüder auf diese Weise von ihrer Schuld. Nach seinem erlösenden Opfertod wird er von ihnen als Gott verehrt, und zwar insbesondere in Form der Kommunion, die Christi Erlösungstod immer wieder von neuem rituell vollzieht. Hier gibt es also eine Wiederholung der Abfolge Opferung–Vergöttlichung, was jedoch Freuds Deutung der Kommunion verunklärt: Wenn die Vergöttlichung des Geopferten sich immer aus dem nachträglichen Schuldbewusstsein der Opferer ergibt, dann müssten die Christen zu Christus im gleichen Verhältnis stehen wie der opfernde Sohn zum geopferten Vater, und die Kommunion wäre die rituelle Wiederholung der Opferung allein des Sohnes, nicht mehr des Vaters. Freud jedoch sieht in der Kommunion beide Morde ineinander geblendet. Das entspricht zwar durchaus der christlichen Aufspaltung in Gott-Vater und Gott-Sohn, bleibt aber erklärungsbedürftig, wo doch die Sohnesreligion die Vaterreligion ablösen soll. Wenn die Kommunion lediglich eine Totemmahlzeit darstellt, so erscheint sie doch als sehr spezieller Fall davon. 11 Freud 1912/13, S. 209. 16 EINLEITUNG Wie lässt sich diese totemistische Deutung des Christentums und insbesondere der Kommunion auf das Passionsspiel beziehen? Freud scheint die theatralen Darstellungsformen nicht als direkte Entsprechungen zu den jeweiligen Opferriten im eigentlichen Sinn zu verstehen. Wenn er die Tragödie als eine „Situation“ beschreibt, „welche auffällige Ähnlichkeiten und nicht minder tiefgehende Verschiedenheiten mit der (…) Szene der Totemmahlzeit zeigt“,12 dürfte er analog das Verhältnis zwischen der Kommunion und dem Passionsspiel bestimmen – was freilich nur so viel besagt, dass das Passionsspiel nicht mit dem Totemmahl der Kommunion ineinszusetzen ist, sondern lediglich seinen Ursprung darin hat. Ein Unterschied zwischen dem ursprünglichen Mord und der Tragödie lag in der von der Tragödie vollzogenen „zweckmäßigen Entstellung“ und „raffinierten Heuchelei“, die die Schuld von dem eigentlich mordenden Chor auf den zum Untergang bestimmten Helden verschiebt. Die Entstellung in Kommunion und Passionsspiel scheint in die gegensätzliche Richtung zu gehen: Der Sohn, der den Mord an seinem Vater verschuldet hat und mit seinem eigenen Tod dafür bezahlt, wird für unschuldig erklärt – das wäre die Entstellung des ursprünglichen Sachverhalts. Dagegen behält die Gemeinschaft, aus der er hervorgegangen ist, die Schuld am Vatermord; als eigentlich unschuldiger Stellvertreter für die schuldige Gemeinschaft erlöst der Sohn mit seinem Tod diese von ihrer Schuld am Vatermord. Wenn man hier eine Entstellung der Urszene sehen möchte, so erscheint die zumindest nicht als zweckmäßig hinsichtlich der Gruppe. Man könnte sagen, das, was in der Tragödie verdeckt geschieht – die Entlastung des Chors von seiner Schuld –, ist gerade die Außenseite der christlichen Riten. In beiden Fällen geht es um die Erlösung der Zelebranten. Die zweckmäßige Entstellung durch das Christentum läge darin, dass die Gemeinschaft, die letztlich sowohl den Tod des Vaters als auch den Tod des Sohnes zu verantworten hat, von letzterem dadurch entlastet wird, dass der Sohn erklärt, er gehe freiwillig in den Tod. Wenn das Mitleiden mit dem Helden bei der Tragödie die Verschiebung der Schuld verdecken sollte, welche Rolle spielt es dann beim Passionsspiel? Hier wäre es nicht geheuchelt, sondern der Ausdruck dafür, dass die Gemeinschaft um ihre Schuld am Vatermord weiß und die Sühneleistung ihres Stellvertreters wenigstens innerlich-affektiv mitvollzieht; das Mitleid wäre Ausdruck dieser Stellvertretungsbeziehung zwischen dem einen und der Gemeinschaft: Eigentlich müsste jeder aus der Gemeinschaft diese Sühneleistung erbringen. Christus büßt anstelle der Sünder; dafür versetzen die sich affektiv an seine Stelle. Wenn man Freuds Theorie auf diese Weise in Bezug auf das Passionsspiel weiterdenkt, kommt man zu erstaunlichen Übereinstimmungen mit der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit, so dass es wiederum fraglich wird, ob Freud selbst das Passionsspiel so interpretiert hätte. Da er den ursprünglichen Vatermord in seiner Erklärung des Christentums mitdenkt und da weder die Kommunion noch das Passionsspiel die für die Tragödie charakteristische Verschiebung der Schuld aufweist, muss man das Passionsspiel mit Freud auf die hier vorgestellte Weise deuten und so – zugleich mit und gegen Freud – von der Tragödie doch wieder ein Stück12 Ebd., S. 211. DIE BISHERIGEN ANSÄTZE 17 weit absetzen. Den Urmord könnte man als Hintergrund für beide Formen festhalten; ihre jeweilige Ausgestaltung ginge jedoch in unterschiedliche Richtungen. Das in beiden geforderte Mitleid hätte unterschiedliche Funktionen: bei der Tragödie die Verschleierung des wahren Schuldverhältnisses, beim Passionsspiel das Bekenntnis zur Stellvertretungsbeziehung. I.1.3. Die Sündenbock-These (René Girard, Rainer Warning) René Girard knüpft an Freuds Opfertheorie an, geht aber über sie hinaus und gelangt auf diesem Weg zu einer ähnlichen Gegensätzlichkeit zwischen antikem und christlichem Ritus wie der soeben aus Freud entwickelten. Anthropologisches Grundmerkmal ist Girard zufolge das „mimetische Begehren“, das für die Menschen zugleich immer eine Gefahr darstellt. Denn ihm unterworfen, begehrt der eine Mensch immer nach dem Objekt, das der andere Mensch hat oder begehrt, und zwar eben weil dieser es hat oder begehrt. Das Begehren des einen ist also nie nur auf das Objekt bezogen, sondern stets auch Nachahmung eines anderen Begehrenden. Das führt zu einer Verähnlichung der Menschen untereinander und damit zu allseitiger Rivalität und daraus folgender Gewalt, die eine Gemeinschaftsbildung und das Überleben der Menschen überhaupt bedroht. Da der Mensch, anders als das Tier, nicht instinktiv vor der Tötung seiner Artgenossen zurückschrecke, habe er Rituale nötig, die den Kampf aller gegen alle verhindern. Hierin sieht Girard die existentielle Bedeutung der Religion. Wie Freud stellt er an den Anfang jeder Religion einen Urmord; jedoch befreit er dieses Szenarium von der familialen und ödipalen Konstellation, in die Freud es gestellt hat, und erklärt es aus dem mimetischen Begehren. Die Gewalt aller gegen alle muss vereinheitlicht und abgeleitet werden gegen ein einziges Objekt; erst in einer solchen einmütigen Ausrichtung der Gewalt ist Gemeinschaft möglich. Es bedarf also eines bestimmten Aggressionsobjekts, eines Sündenbockes. Da dieser Sündenbock durch die Entladung der kollektiven Aggression gegen ihn die Gemeinschaft von ihrer Gewalt befreit, wird er von ihr nach seiner Ermordung als Erlöser verehrt und geheiligt. Um sich die eigene Gewalttätigkeit und Schuld nicht eingestehen zu müssen, erfindet die Gemeinschaft nachträglich Gründe dafür, warum es richtig war, den einen zu ermorden, und auf diese Weise entstehen die Mythen, die immer von einer Schuld, einer Hybris des Helden zu erzählen wissen. Girard deutet also, ähnlich wie Freud, die tragischen Mythen als Verschiebung des wahren Schuldverhältnisses. Von solcher Mythenbildung grenzt er jedoch die jüdisch-christliche Tradition scharf ab: Unweigerlich beruht auch sie auf dem Sündenbockritual; ja, das Christentum stellt es in Form des Kreuzes bewusst ins Zentrum, dies aber gerade zu dem Zweck, die Verlogenheit der heidnischen Religion zu entlarven. Das Christentum verkünde die Wahrheit in dem Sinne, dass es die schuldverschiebende Mythenbil- 18 EINLEITUNG dung nicht mitmache, sondern die Wahrheit jeder Religion, nämlich die Unschuld des Sündenbockes, vor aller Augen führe. Was bedeutet das für die jeweiligen Theaterformen und Mitleidsverständnisse? Girard deutet die Tragödie nicht einfach als theatrale Umsetzung des Sündenbockrituals, sondern als Ausdruck der „Krise des Opferkultes“: Die Krise des Opferkultes, d. h. der Verlust des Opfers, ist der Verlust der Differenz zwischen unreiner und reinigender Gewalt. Wenn diese Differenz verlorengeht, dann ist keine Reinigung mehr möglich, und die unreine, ansteckende, d. h. gegenseitige Gewalt breitet sich in der Gemeinschaft aus.13 Zur Zeit der attischen Tragödie ist die Bedeutung des ursprünglichen Sündenbockrituals schon so weit verschoben, dass sie kaum noch verstanden wird. Der von Aristoteles gebrauchte Begriff katharsis weist zwar auf die für die Gemeinschaft heilsame Wirkung des Sündenbockrituals zurück, doch ist es keineswegs nötig, daß Aristoteles den ursprünglichen Vorgang wahrnimmt, ja es ist sogar nötig, daß er ihn nicht wahrnimmt. Damit die Tragödie als eine Art Ritual funktionieren kann, muß sich ein der Opferung analoger Vorgang auch weiterhin hinter dem vom Philosophen beglaubigten dramatischen und religiösen Gebrauch verbergen, so wie er sich bereits hinter dem religiösen und medizinischen Gebrauch verbarg. Gerade weil Aristoteles das Geheimnis des Opfers nicht durchdringt, stellt seine tragische katharsis letztlich nur eine weitere opferkultische Verschiebung dar (…).14 Obwohl die Tragödie eine „opferkultische Verschiebung“ weg von der wahren Bedeutung des Sündenbockrituals darstellt, sie also ihren Ursprung, ihre ‚Wahrheit‘ verkennt, wagt sie sich doch weiter vor als alle sonstigen auf das ursprüngliche Opfer zurückgehenden Rituale, und zwar dadurch, dass sie die Teilnehmenden zu Mitleid mit dem Opfer zu bewegen sucht. Man könnte sagen, in diesem Mitleid liegt einerseits die größtmögliche Verkennung der Bedeutung des Sündenbockrituals – ist dieses doch für das Überleben, die Gemeinschaftsbildung, die Zivilisation unerlässlich –, andererseits die größtmögliche Annäherung an seine Wahrheit – zumindest affektiv versetzt sich der mitleidende Zuschauer an die Stelle des Sündenbockes. Gleichwohl geht die Tragödie nicht so weit, dass sie die Unschuld des Sündenbockes zur Darstellung brächte – das ist die letzte Grenze, die sie von der ‚Wahrheit‘ trennt: die tragische Schuld. Es muß (…) ein gewisses Maß an Schwäche, ein „tragischer Bruch“ vorhanden sein, der die „Güte“ des Helden schließlich unwirksam macht und dem Zuschauer erlaubt, ihn dem Grauen und dem Tod auszuliefern. (…) Die Tragödie stößt zur Wahrheit vor, indem sie sich der gegenseitigen Gewalt aussetzt und sich selbst als gegenseitige Gewalt darstellt; schließlich aber (…) weicht sie immer zurück. Der für einen Augenblick erschütterte mythische und rituelle Unterschied wird 13 Girard 1972, S. 76f. 14 Ebd., S. 428. DIE BISHERIGEN ANSÄTZE 19 in Form eines „kulturellen“ und „ästhetischen“ Unterschieds neu gestiftet. Die Tragödie ist also tatsächlich die Entsprechung der echten Riten: sie hat am Abgrund gestanden, von dem die Unterschiede verschlungen werden, und sie bleibt von dieser Prüfung gezeichnet.15 Über das Mitleid nähert sich der Zuschauer der Unschuld und damit der Wahrheit des Sündenbockrituals an. Das totale Mitleid würde die Wahrheit erkennen, doch wird es verhindert durch die Vorspiegelung einer tragischen Schuld, deretwegen sich der Zuschauer schließlich doch innerlich vom Opfer trennt und dessen Tod annimmt, ja wünschen muss. Insofern vollzieht er auf ästhetisch-theatralischer Ebene doch wieder ein echtes Sündenbockritual und erfährt auf diese vermittelte Weise die ursprüngliche katharsis.16 Da er den Untergang des Helden will und aus ihr die „tragische Lust“ gewinnt, versündigt er sich am ursprünglichen Opfer letztlich ebenso wie der ursprüngliche Lynchmob. In seiner „kritischen Apologie des Christentums“17 identifiziert Girard das mimetische Prinzip, das sowohl die „unreine“ als auch die „reinigende“ Gewalt verursacht, mit Satan. Wie die Kirchenväter muss er dann die antike Tragödie als satanisch brandmarken, aber nicht weil sie Theater ist, sondern weil sie den Mythos von der Schuld des Opfers fortschreibt. Wie verhält es sich bei der theatralen Darstellung des christlichen Sündenbockes? Da dessen Unschuld hervorgehoben wird, steht einem totalen Mitleid und damit einer affektiven Erkenntnis der ‚Wahrheit‘ nichts im Weg; das Passionsspiel wäre insofern ein nicht-satanisches Theater. Girard äußert sich nicht direkt zum Passionsspiel, aber wenn der entscheidende Unterschied zwischen dem mythischen und dem christlichen Denken in der Bewertung des Opfers als schuldig oder unschuldig besteht, dann kann man, Girards Überlegungen weiterführend, sagen, dass das Passionsspiel, wie die Tragödie, das ursprüngliche Sündenbockritual immer wieder neu inszeniert, dass es aber, weil es den Sündenbock von aller Schuld rein hält, den Zuschauern keine tragische katharsis erlaubt. Das Mitleid, das der Zuschauer mit dem Sündenbock empfinden soll, wird nicht gebrochen; der Zuschauer trennt sich innerlich nicht vom Opfer, sondern muss sich bis zum Schluss mit ihm identifizieren und sich an seine Stelle versetzen. Die Gruppe der Opferer muss dann eine andere sein als die der Zuschauer, und das sind im Falle des Passionsspiels die Juden. Die Menge um den Sündenbock herum teilt sich also auf in die Gruppe der ‚Erkennenden‘ und Mitleidenden (spielinterne gläubige Figuren und Zuschauer) und in die Gruppe der Opfernden (die spielinternen Juden). Da diejenigen, die das Sündenbockritual vollziehen, nur spielinterne Figuren sind, ist das Passionsspiel, anders als die Tragödie, ein nur gespieltes Sündenbockritual. Wie das Christentum das mythische Denken, entlarvt das Passionsspiel jede Form von mythischem, ‚satanischem‘ Theater. Das Passions- 15 Ebd., S. 429f. 16 Vgl. auch Girard 1999, S. 103. 17 So der deutsche Untertitel von Girard 1999. 20 EINLEITUNG spiel wäre demnach die ‚wahre‘ Tragödie.18 Im Mitleid mit dem Opfer erfährt der Zuschauer die ‚Wahrheit‘ der Religion. Doch obwohl das mittelalterliche Passionsspiel an der Unschuld des Opfers festhält und sich infolgedessen einer mythischen Verschiebung verweigert, scheint seine eigentliche Intention nicht unbedingt in der Erkenntnis der hinter jedem Sündenbockritual stehenden Wahrheit zu sein. Rainer Warning deutet, unabhängig von Girard, das Passionsspiel als gespieltes Sündenbockritual: Vorgeführt werde ein von den Juden an Jesus vollzogenes Sündenbockritual, dies jedoch in einer Form – dem rondeau triolet im französischen Passionsspiel –, die es nicht als spezifisch jüdisches Ritual ausweist, sondern auch bei Bestrafungsritualen etwa der Teufel gegen Satan eingesetzt werden kann. Wenn eine und dieselbe Form sowohl für gespielte Rituale, von denen sich der Zuschauer distanzieren, als auch für solche, an denen er innerlich teilnehmen soll, verwendet wird, dann bedeute das, dass es dem Passionsspiel eigentlich gar nicht um die Entlarvung, sondern gerade um den Vollzug eines Sündenbockrituals geht. Dabei sei es gar nicht entscheidend, ob das Opfer Satan oder Christus ist: Beide seien gleichwertige „Ersatzobjekte[]“19 zu dem alleinigen Zweck, dass man in christlicher Zeit überhaupt noch ein Sündenbockritual zelebrieren kann. Denn derartige archaisch-mythische Bräuche sind nach theologischem Verständnis durch Christi Kreuzestod ein für allemal hinfällig geworden. Dennoch gebe es weiterhin ein Bedürfnis der Menschen nach solchen Entlastungsritualen, das durch die offizielle Theologie und Liturgie nicht befriedigt werde und das sich deshalb andere Ausdrucksformen suche, wie etwa das Passionsspiel, welches auf diese Weise in Konkurrenz zur offiziellen Liturgie tritt. Das Passionsspiel vermittelt den Gläubigen, was die Liturgie ihnen vorenthält – Tod und Auferstehung des Corpus Christi, die in der Messe immer schon geschehen sind und auf symbolische, ‚unblutige‘ Weise kommemoriert werden, lassen sich im Passionsspiel sinnlich-körperlich erfahren – und holt herein, was die Theologie ausgrenzt – der Teufel, von der Theologie als entmachtet und für nichtig erklärt, von den Menschen aber nichtsdestoweniger als allmächtig erfahren, wird im mythischdualistischen Weltbild des Passionsspiels zu Christi Widerpart aufgebaut und damit die alte, den Teufel einbeziehende Deutung des Kreuzestodes als Redemption gegen die neue, den Teufel außen vor lassende Deutung als Satisfaktion re-etabliert. Das Passionsspiel falle also in mythische Denkmuster und Rituale zurück, die das Christentum gerade überwunden haben wollte. Der Unterschied zwischen Warning und Girard liegt darin, dass für Warning das Sündenbockritual überhaupt Kennzeichen des Mythischen, Vorchristlichen ist, während für Girard erst die Schuldverteilung über das Mythische oder Christliche eines Sündenbockrituals entscheidet. Da sie dem Christentum jeweils einen anderen Mythosbegriff entgegensetzen, führen ihre Überlegungen zu einer unterschiedlichen Einschätzung des mythischen Status des Passionsspiels und damit auch sei18 Diesen Anspruch erhebt der byzantinische Tragödien-Cento ‚Christos paschōn‘ tatsächlich; vgl. Kap. IV.2.1. 19 Warning 1974, S. 229. DIE BISHERIGEN ANSÄTZE 21 ner Vergleichbarkeit mit der Tragödie. Warning spricht sich für eine Vergleichbarkeit indirekt dadurch aus, dass er Freuds Tragödienerklärung, unter Hervorhebung einiger grundsätzlicher Bedenken gegenüber ‚Totem und Tabu‘, für seine Deutung des Passionsspiels heranzieht:20 Das Mitleid mit Christus versteht auch er als „raffinierte Heuchelei“: Die vorgeblich Mitleidenden lassen die spielinternen Juden das tun, was sie selbst gerne tun würden, und verschleiern diesen Wunsch durch ihr Mitleid. Man braucht (…) Freuds eigene Hypothese vom urzeitlichen Vatermord gar nicht zu übernehmen, um im spätmittelalterlichen Passionsspiel diesen Mechanismus, dieses Klischee zu erkennen. Die theologisch nicht geforderten und insofern motivationslos ausgespielten Grausamkeiten haben die latente Funktion eines Sündenbockrituals, das sich in höchst raffinierter Weise doppelt verschleiert: einmal durch die Projektion auf die Juden, die es vordergründig vollziehen, sodann durch typologische Deckung auch der brutalsten Details.21 Insgeheim vollziehen die Zuschauer zusammen mit den spielinternen Juden ein archaisch-mythisches Sündenbockritual. Dass Christus das Opfer ist, ist, wie gesagt, nebensächlich, da die christliche Einkleidung nur als Deckmantel für ein Ritual dient, das es in christlicher Zeit eigentlich nicht mehr geben kann und darf. Die vorgebliche, manifeste Funktion des Passionsspiels ist die didaktisch-erbauliche Erinnerung an die historisch einmalige Heilstat; seine eigentliche, latente Funktion aber ist der Vollzug eines Rituals, das eine Gemeinschaft konstituiert und sie mit ihrem Gott in Verbindung setzt. Als Beleg für diese latente Funktion führt Warning neben der „Maßlosigkeit der Grausamkeiten“22 an, dass die Spiele selbst beanspruchen, mehr zu sein als bloßes Theater, indem sie den Zuschauern für ihre Teilnahme an der Aufführung das Seelenheil versprechen.23 Gerade dieser Anspruch stellt die Konkurrenz von Spiel und Messe deutlich vor Augen. Des weiteren verweist Warning auf die „Zwieschlächtigkeit (…) der Aufführungssituation“: Natürlich wird die Zerreißung des Opfers, wird der sparagmós nicht real exekutiert, sondern als Spiel. Aber nicht in einem Spiel, dem die Gemeinde betrachtend beiwohnte, sondern in einem Spiel, dem nichts fremder wäre als „ästhetische Unterscheidung“. Die Gemeinde ist ‚mit im Spiel‘ – und dies ganz konkret in Gestalt der jüdischen Folterknechte. Auch hier wieder die Zwieschlächtigkeit: Man kann die Folterung gleichsam delegieren an die Juden und sich so als Christen schadlos halten, aber indem man ins Gewand der Juden schlüpft, kann man gleichwohl mithandeln.24 Es ist gerade die Aufführungssituation, die Performanz der Spiele, die die Gefahr des Rückfalls in mythische Muster erhöht im Vergleich mit anderen Formen des 20 21 22 23 24 Ebd., S. 202–204, 212. Ebd., S. 212. Warning 2004, S. 352. Warning 1974, S. 66. Warning 1997, S. 36f. 22 EINLEITUNG christlichen Passionsgedenkens wie Predigt oder Meditation. Warning hebt zu Recht die Ambivalenz der Aufführungssituation hervor, doch schwächt er damit seine eigene Argumentation. Das zeigt sich an folgender Aussage: Die Tatsache, dass das „mit mystischer Theologie unvertraute[] Laienpublikum“ direkt, ohne Vermittlung durch theologische Erklärungen mit der dargestellten Gewalt konfrontiert wurde, schloß compassio als moralische Identifikation mit dem Leidenden nicht aus, aber doch nur unter der Voraussetzung, daß sich diese compassio durchsetzte gegen die Verlockung emotioneller Identifikation mit dem blutigen Spiel. Gerade weil mit compassio nicht kontemplative Distanz, sondern Identifikation gefordert war, konnte solche Identifikation immer auch umschlagen in eine unreflektierte Lust an den inszenierten Grausamkeiten. Es ist also wiederum das Moment der Inszenierung, der handelnden Darstellung, die der Mystik von Haus aus fremd ist und die verbietet, die institutionelle Funktion dieser Spiele unbefragt mit ihrem offiziellen Selbstverständnis gleichzusetzen. Vielmehr ist damit zu rechnen, daß die Beliebtheit dieser Spiele weniger in ihrer manifesten Funktion moralischer Erbauung gründete, als vielmehr in der latenten Funktion spielerisch abgeführter Aggressivität.25 Im Grunde sind hier drei sich gegenseitig ausschließende Thesen ineinander geblendet: – Die Darstellung von Gewalt bewirkt eine unmittelbare Faszination und damit auch Identifikation mit den Gewalttätern, gegen die sich die Identifikation mit dem Opfer überhaupt erst durchsetzen muss (These Lust an der Gewalt); – die Identifikation mit dem Opfer ist vorgängig und kann qua Identifikation immer umschlagen in die Identifikation mit den Gewalttätern und eine Lust an der Gewalt (These „Kipp-Phänomen“26); – die latente Funktion des Spiels ist die Aggressionsabfuhr durch ein Sündenbockritual; die Identifikation mit dem Opfer ist nur der Deckmantel dafür und insofern „raffinierte Heuchelei“ (These Sündenbockritual). Es mag sein, dass das Passionsspiel bei den verschiedenen Zuschauern alle diese Reaktionen hervorrufen konnte, aber für Warnings Anliegen, das Passionsspiel als verschleiertes Sündenbockritual zu erweisen, sind die Punkte 1. und 2. verunklärend bzw. sogar hinderlich: Wenn die Darstellung von Gewalt eine eigene Faszination ausübt und eine Lust an der Gewalt provoziert, führt das nicht unmittelbar zur Vorstellung eines Sündenbockrituals, denn Lust an Gewaltdarstellung und Aggressionsabfuhr über einen Sündenbock sind unterschiedliche Phänomene (das eine ein ästhetisches, das andere ein rituelles); falls sie zusammengehören, müsste das zumindest aufgezeigt werden. Wenn dagegen die religiöse Identifikation mit dem Opfer die eigentliche Intention des Spiels ist und dabei immer in der Gefahr steht, in eine Lust an der Gewalt umzuschlagen, dann widerspricht das nicht nur 25 Warning 1979, S. 32. 26 So bezeichnet diesen Gedanken J.-D. Müller 2000, S. 72. METHODISCHE ZUSPITZUNG 23 der These vom Mitleid als „raffinierter Heuchelei“, sondern hat ebenfalls mit einem Sündenbockritual überhaupt nichts zu tun. Die beiden Punkte sind jedoch höchst naheliegend und relevant für die Interpretation des Passionsspiels und damit um so gefährlicher für die These vom Sündenbockritual. Auf sie konnte man sich auch in der Forschung nach Warning einigen,27 während die Sündenbockthese, so inspirierend und bahnbrechend sie war, nicht weiter verfolgt wurde. Ein Haupteinwand liegt in der Deutung des Mitleids als „raffinierter Heuchelei“, die die Sündenbockthese unweigerlich mit sich bringt, denn ihretwegen, so Walter Haug, muss Warning „die übrige Compassio-Literatur, insbesondere die Passionsmystik, nachdrücklich gegen das Passionsdrama abgrenzen. Das kann um so weniger überzeugen, als es konkrete Berührungen gibt, die Warning übrigens auch gar nicht verschweigt.“28 In diesem Punkt berufen sich sowohl Warning als auch Haug auf die Performanz: Während Warning, wie gesagt, die Ambivalenz und Präsenz der Aufführungssituation betont, hebt Haug den Als-ob-Charakter der theatralen Performanz hervor und setzt ihn gegen die „erschreckende Realität“29 mystischer Selbstquälereien ab. Das Problem der Diskussion liegt darin, dass beide mit ihrer jeweiligen Einschätzung der Performativität oder Theatralität Recht haben, weil eine theatrale Aufführung immer zwischen Präsenz und Repräsentation, Realität und Als-ob oszilliert,30 ganz besonders im Falle eines rituellen Theaters wie des Passionsspiels. Um so entscheidender ist es, die spezifische Performativität des Passionsspiels zu bestimmen und, für das hier verfolgte Ziel, sie ins Verhältnis zur Performativität der Tragödie zu setzen. Inwiefern es sich erlaubt, die compassio des Spiels von der compassio der Mystik und Passionsfrömmigkeit abzugrenzen, muss ebenfalls zunächst geklärt werden. Mit der Sündenbockthese lässt sich, wie gesehen, sowohl die Unterschiedlichkeit (Girard) als auch die Ähnlichkeit (Warning) von Tragödie und Passionsspiel begründen. Angesichts dieser Situation kann ein Vergleich der beiden Theaterformen über diese These zunächst nicht weiterführen. Dennoch vermag die Diskussion darum den Blick für die zentralen Vergleichs- und Überschneidungspunkte zu schärfen. I.2. Methodische Zuspitzung Man sieht, dass die bisherigen Versuche, Tragödie und Passionsspiel miteinander zu vergleichen, unbeweisbare Annahmen zu Hilfe nehmen mussten und/oder in Aporien führten. Man sieht außerdem, dass sie die konkreten überlieferten Texte 27 28 29 30 Vgl. J.-D. Müller 1998, 2000. Haug 2003, S. 659. Ebd. Vgl. Fischer-Lichte 2004a. 24 EINLEITUNG höchstens punktuell verwenden, ja sogar begründen, warum man dem Wortlaut gerade nicht trauen könne und die Texte, wenn überhaupt, ‚gegen den Strich‘ lesen müsse, und dass sie gezwungen sind, die Texte aus ihren historischen und kulturellen Kontexten zu lösen. Den jeweiligen Interpreten geht es meistens gar nicht um einen wirklichen Vergleich zwischen dem antiken und dem mittelalterlichen religiösen Theater, sondern vorwiegend um religions- und ritualhistorische oder anthropologische Fragestellungen. Von literaturwissenschaftlicher Seite aus werden in der Regel die alle Vergleichbarkeit ausschließenden Unterschiede zwischen Tragödie und Passionsspiel betont, wie jüngst durch Wolfgang Braungart, der in seinem „strukturgeschichtlichen Versuch“ die Tragödie mittels der Kategorien des Leidens (als „Herausforderung des Subjekts“31) und des Opfers (als „Sinngebungsstrategie des Leidens“32) beschreiben möchte: Wer das menschliche Leiden als imitatio Christi begreift, gibt ihm einen definitiven Sinn, eine Richtung, weil diese imitatio bedeutet, sich auf den Weg des Heils zu begeben. Das hebt das Tragische, das aus der unlösbaren Herausforderung des Leidens kommt, tendenziell auf. Darum kennt die christlich geprägte Literatur des Mittelalters keine Tragödie. Das mittelalterliche Passionsspiel ist in den liturgischen Zusammenhang eingelassen. Es ist Wiederholung dieser einen Leidens- und Opfer-Geschichte, die definitiv gültig sein will. (…) Die vollständige Rückbindung des theatralen Opferspiels an das religiöse Ritual macht die Tragödie unmöglich, weil hier ein Sinnhorizont für das Leiden und Sterben von vornherein mitgesetzt wird und das Leiden deshalb keine hermeneutische Herausforderung ist. Im als gültig akzeptierten religiösen Ritual ist das Subjekt nicht primär hermeneutisch, sinnverstehend und sinnkonstituierend, gefordert. Es muß das Ritual vielmehr korrekt und im Vertrauen auf dann gegebene Wirksamkeit vollziehen. Die auf Thomas von Aquin zurückgehende katholische Sakramentskonzeption des opus operatum rationalisiert diese Performativität und Wirkung des religiösen (Meß-)Rituals und der Sakramente theologisch.33 Die Unterschiedlichkeit zwischen Tragödie und Passionsspiel ergibt sich demzufolge zum einen daraus, dass das Leiden im Christentum und mithin im Passionsspiel keine „hermeneutische Herausforderung“ darstelle, weil die Frage nach dem Sinn von Leid von vornherein beantwortet sei: Der Sinn von Christi Leid ist die Erlösung der Menschheit; der Sinn von menschlichem Leid allgemein ist für jeden einzelnen Gläubigen, in der Nachfolge Christi das individuelle Heil zu erlangen. Leid ist also immer schon bewältigt – heilsgeschichtlich durch die Auferstehung Christi, hermeneutisch durch das Heilsversprechen. Dieses Argument steht der oft wiederholten Ansicht nahe, ein christlicher Kontext schlösse Tragik per se aus.34 31 32 33 34 Braungart 2007, S. 386. Ebd. Ebd., S. 379f. Vgl. u. a. Greiner 2012, S. 165–167. Zu dieser Ansicht und zur Kritik daran vgl. Toepfer 2013, S. 37–45. METHODISCHE ZUSPITZUNG 25 Zum andern unterscheidet sich laut Braungart das Passionsspiel dadurch von der Tragödie, dass es zu sehr an die Liturgie als ein in der Weise des opus operatum wirksames Ritual rückgebunden sei. Wenn die vorliegende Untersuchung demgegenüber eine Vergleichbarkeit von Tragödie und Passionsspiel behaupten möchte, muss sie also erstens zeigen, dass das dargestellte Leiden im Passionsspiel nicht immer schon hermeneutisch bewältigt ist, vielmehr einen Überschuss und eine nicht so leicht aufzulösende Komplexität aufweist,35 sowie im Gegenzug prüfen, inwiefern man das Leid der Tragödie pauschal als sinn-los verstehen darf. Zweitens muss gezeigt werden, dass das Passionsspiel keineswegs analog zu einem opus operatum funktioniert, sondern für seine rituelle Wirksamkeit gerade den subjektiven (intellektuellen und affektiven) Mitvollzug der Beteiligten erfordert. Im Hintergrund der Einschätzung Braungarts und vieler anderer stehen offenbar grundsätzliche Bedenken gegenüber der Möglichkeit, das Passionsspiel wie die vermeintlich ästhetisch freiere, ‚literarischere‘ Gattung der Tragödie mit Hilfe literaturwissenschaftlicher Methoden anzugehen. Einen Vorstoß in die Gegenrichtung hat Regina Toepfer unternommen, indem sie das Passionsspiel dezidiert als „tragisches Spiel“ verstehen und dies mittels dreier literaturwissenschaftlicher Kategorien (Rezeptionsästhetik, Handlungskonstellation, Figurenkonzeption) begründen möchte. Hinsichtlich der Rezeptionsästhetik sei es insofern tragisch, als es ein Äquivalent zur tragischen eleos-und-phobos-Forderung aufweise: Es suche beim Rezipienten Mitleid mit Christus bzw. Maria und Erschrecken vor der eigenen Sündhaftigkeit zu erregen.36 Eine tragische Handlung, genauer: ein tragischer Fehler (hamartia), lasse sich am Verrat des Judas erkennen.37 Die Figurenkonzeption des Gottmenschen enthalte eine unaufhebbare Widersprüchlichkeit, die an den Hegelschen Tragikbegriff erinnere und den tragischen Untergang Jesu unausweichlich mache.38 Das Passionsspiel mit Elementen der Tragik- und Tragödientheorie zu konfrontieren, ist ein innovativer und vielversprechender Ansatz, dem auch die vorliegende Untersuchung verpflichtet ist. Allerdings stellen sich gegenüber Toepfers Vorgehen Bedenken ein: Wenn der aristotelische phobos des Tragödienzuschauers um sich selbst bzw. um den tragischen Helden so weit umgedeutet wird, dass daraus ein Erschrecken des Sünders vor seiner eigenen Sündhaftigkeit wird, dann scheint die Unterschiedlichkeit zwischen Tragödie und Passionsspiel doch größer zu sein als ihre Ähnlichkeit. – Die hamartia des tragischen Helden muss Aristoteles zufolge solcherart sein, dass sie beim Zuschauer eleos für ihn hervorruft; ob die Judas-Figur einem mittelalterlichen Publikum tatsächlich mitleidswürdig erscheinen konnte, 35 Dies wird sich insbesondere an der großen dramaturgischen Bedeutung der leidenden Gottesmutter erschließen, aus deren Perspektive die Passion Christi zu einer echten hermeneutischen Herausforderung wird; vgl. Kap. IV.2. u. IV.3. 36 Toepfer 2009, S. 164–167. 37 Ebd., S. 167–169. 38 Ebd., S. 169–172. 26 EINLEITUNG bedarf ausführlicherer Überlegungen.39 Die vom Passionsspiel als Mitleidsobjekte ausgestellten Figuren Christus und Maria weisen gerade keine hamartia auf. – Die Anwendung eines neuzeitlichen Tragikbegriffs wie desjenigen Hegels setzt voraus, dass die Gattung Tragödie durch einen solchen Begriff definiert sei; das trifft jedoch höchstens auf die neuzeitliche Tragödie zu, nicht auf die antike; Konstellationen wie unaufhebbare Widersprüchlichkeit und schuldlose Schuld, die den seit dem Deutschen Idealismus definierten Tragikbegriff ausmachen,40 können in der griechischen Tragödie vorkommen – Aristoteles beschreibt die Peripetie sogar im Sinne einer solchen dialektischen Struktur41 –, sind aber nicht gattungskonstitutiv. Die Antike verband mit dem Begriff des Tragischen nicht eine solche dialektische Struktur, sondern lediglich etwas, was in Form (hoher Stil) oder Inhalt (Schmerzliches42) der Gattung Tragödie entspricht, und wenn man die dialektische Struktur zum Gattungskriterium erheben wollte, dürften so manche Dramen, die die Athener als Tragödien rezipierten und bewerteten, nicht als Tragödien bezeichnet werden. Aristoteles selbst nennt vier Arten von Tragödien, von denen drei nicht durch eine Peripetie gekennzeichnet sind, sondern dadurch, dass sie ein pathos (ein Beispiel sei der ‚Aias‘) oder einen Charakter vorführen oder in der Unterwelt spielen.43 Das heißt, die bloße Darstellung eines pathos könnte, solange sie nur eleos und phobos bewirkt, durchaus bereits ‚Tragödie‘ genannt werden. In diesem zwar sehr weiten, immerhin aber antiken Sinn dürfte man auch das mittelalterliche Passionsspiel als tragisch bezeichnen. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass es unnötig wäre, auf im neuzeitlichen Sinne tragische Elemente innerhalb des Passionsspiels zu achten: Allein weil sie auch in antiken Tragödien vorkommen, erlauben sie den Vergleich zwischen den beiden Theaterformen und widerlegen, so sie sich im Passionsspiel finden, das Vorurteil, im mittelalterlichen religiösen Kontext könne es keine Tragik geben. Insgesamt müsste bei den der Tragik- und Tragödientheorie entnommenen Kategorien zunächst geprüft werden, inwiefern sie den konkret überlieferten Tragödien überhaupt gerecht werden. Toepfer unterlässt dies, weil sie nicht einen Vergleich zwischen den griechischen Tragödien und den mittelalterlichen Passionsspielen anstrebt, sondern die Anwendbarkeit der genannten theoretischen Kategorien auf das Passionsspiel erprobt. Dass die Vergleichbarkeit bei genauerem Hinsehen doch eher problematisch erscheint, liegt nicht am Untersuchungsgegenstand, sondern am Einsatz der Untersuchungsmittel. Insofern soll Toepfers Frage nach tragischer bzw. tragödienhafter Rezeptionsästhetik, Handlungsmotivation und Figurenkonzeption in der vorliegenden Arbeit prinzipiell, wenn auch methodisch modifiziert, weiterverfolgt werden. 39 40 41 42 Vgl. dazu Kap. VI.2. Vgl. Szondi 1961. Vgl. Seidensticker 1992, 1996 mit Bezug auf Aristoteles, ‚Poetik‘, 9, 1452a4. Daher kann Aristoteles Euripides als den tragikōtatos der Tragiker bezeichnen (‚Poetik‘, 13, 1453a29f.). 43 Vgl. ebd., 18, 1455b33–1456a3. METHODISCHE ZUSPITZUNG 27 Im selben Jahr, als Toepfers Anwendung von Tragik- und Tragödientheorie auf das Passionsspiel erschien, veröffentlichte Karl Heinz Bohrer Überlegungen zur Tragödie, die diese gerade von aller traditionellen Tragik- und Tragödientheorie zu befreien beanspruchen: Nicht die Tragik, sondern „das Tragische“ steht hier titelgebend im Zentrum. In dezidierter Ablehnung historisierender, moralisierender, psychologisierender usw. Methoden versucht er, eine Ästhetik des Tragischen herauszuarbeiten, die er im wesentlichen als eine Ästhetik des Schreckens bestimmt. Der Schrecken werde in drei Formen ästhetisch gestaltet: als Erscheinung, d. h. als sprachlich evozierte Epiphanie von Leidensfigurationen;44 als Darstellung von (Erwartungs-)Angst;45 als Klage.46 Mit diesen Kategorien trifft Bohrer eine für die griechische Tragödie tatsächlich wesentliche Dimension, die in vielen anderen, eher figuren- und handlungsbezogenen Interpretationen vernachlässigt wird. Indem er jedoch bewusst darauf verzichtet, diese Kategorien kulturhistorisch zu kontextualisieren, und stattdessen eine ‚zeitlose‘ Ästhetik des Tragischen entwirft, geraten die Kategorien zum ästhetischen Selbstzweck, und Bohrers Tragödien-Interpretationen erschöpfen sich darin, aufzuzeigen, dass und wie Erscheinung, Pathos und Klage dargestellt werden, ohne zu fragen, welche Bedeutung diese Darstellung für die antiken Rezipienten vor ihrem spezifischen kulturellen Horizont haben konnte. Entsprechend liest er die Tragödien als Aneinanderreihungen von Erscheinungs-, Pathos- und Klageszenen, unter bewusster Ausblendung der von den Tragik- und Tragödientheoretikern ansonsten bevorzugt in den Blick genommenen Handlungsstrukturen (hamartia, Peripetie usw.). So wichtig Bohrers Fokussierung auf die rein ästhetische Dimension der Tragödien ist, wird er doch ihrer literarischen Komplexität, die eben auch in ihrer Handlungskomposition und Kontextualität liegt, nicht ganz gerecht. Die literarisch weniger ambitionierten mittelalterlichen Passionsspiele hingegen (die Bohrers höhenkammorientierter Blick außen vor lässt) sind kompositorisch tatsächlich am angemessensten als Aneinanderreihungen von Erscheinungs-, Pathos- und Klageszenen zu beschreiben. Sofern das Tragische in Bohrers Verständnis allein eine durch diese Elemente geprägte Ästhetik meint, unabhängig von allen kulturellen, religiösen, politischen usw. Implikationen, ist es erlaubt, ja sogar geboten, das Passionsspiel als in diesem Sinne „tragisches Spiel“ zu deuten.47 Die vorliegende Untersuchung wird bei beiden Theaterformen Strategien der Epiphanisierung und Präsenzerzeugung, die Zur-Schau-Stellung von Leid und die Darstellungsform der Klage in den Blick nehmen als Elemente einer beiden gemeinsamen, von Bohrer als 44 45 46 47 Bohrer 2009, v. a. S. 185–241. Ebd., S. 242–335. Ebd., S. 336–380. Bohrers eigenes Vergleichsobjekt für seine Ästhetik des Tragischen ist die Lyrik Charles Baudelaires (vgl. ebd., S. 35–175). Bohrer geht also nicht nur über Epochen-, sondern auch über Gattungsgrenzen locker hinweg, was zwar interpretatorisch durchaus befreiend wirkt, die Analysekategorien aber nur noch unpräziser macht. 28 EINLEITUNG „tragisch“ bezeichneten Ästhetik, wobei sie stärker als bei Bohrer im jeweiligen religiösen Kontext verortet und – ebenfalls in größerer Anlehnung an die jeweiligen zeitgenössischen Diskurse – auf den Rezipientenaffekt Mitleid bezogen werden sollen. Die genannten neueren literaturwissenschaftlichen Ansätze lassen das Bestreben erkennen, einerseits die Tragödie weniger tragik- und handlungstheoretisch, dafür eher ritualistisch (Braungart) und ästhetisch (Bohrer), andererseits das Passionsspiel nicht nur ritualistisch, sondern auch tragiktheoretisch zu fassen (Toepfer), also bei beiden Theaterformen Elemente in den Blick zu nehmen, die in ihnen tatsächlich enthalten sind, jedoch aufgrund forschungsgeschichtlicher Vorurteile zu selten berücksichtigt werden. Diese sind u. a. dem modernen Tragikbegriff geschuldet: Es verstellt den Blick auf die Texte, dass man glaubt, er eigne sich, weil er nach der Gattung Tragödie benannt wurde, besonders gut für ihre Analyse; ähnlich verhält es sich mit der aristotelischen Tragödientheorie. Weil der moderne Tragikbegriff gemeinhin als unvereinbar mit dem Christentum gilt, scheint ein von tragiktheoretischen Prämissen ausgehender Vergleich zwischen Tragödie und Passionsspiel von vornherein ausgeschlossen. Demgegenüber bedeuten alle drei genannten Ansätze eine erfreuliche methodische Öffnung, die einen Vergleich der beiden Theaterformen prinzipiell ermöglicht; allerdings bietet keiner von ihnen eine tragfähige Grundlage dafür: Braungart geht davon aus, das Passionsspiel sei zu wenig poetisch-frei, um mit der Tragödie verglichen werden zu können; Toepfer prüft nicht die Angemessenheit ihrer tragik- und tragödientheoretischen Kategorien für die Tragödien selbst; Bohrer bestimmt seine Ästhetik des Tragischen zu kulturellunspezifisch. Für die hier verfolgte Fragestellung muss also beim Passionsspiel neben der religiös-kultischen insbesondere die ästhetisch-literarische Dimension in den Blick genommen werden, und zwar zum einen bezüglich tragik- und tragödientheoretischer Aspekte (Rezeptionsästhetik, Handlungskonstellation, Figurenkonzeption), sofern die sich auch tatsächlich in den Tragödien nachweisen lassen, zum andern bezüglich derartiger Gestaltungsformen, wie sie Bohrer an den Tragödien aufzeigt (Erscheinung, Pathos, Klage). Bei der Tragödie wiederum soll die ästhetisch-literarische nicht unabhängig von der religiös-kultischen Dimension betrachtet werden. Zur Ästhetik sowohl der Tragödie als auch des Passionsspiels gehört darüber hinaus unbedingt ihre Performativität, das Charakteristikum, dass sie für die theatrale Aufführung bestimmt waren; die Wichtigkeit, dies zu berücksichtigen, ergab sich bereits aus der Diskussion um die Sündenbockthese.48 48 Vgl. Kap. I.1.3. METHODISCHE ZUSPITZUNG 29 I.2.1. Performativität Die Performativitätstheorie speist sich hauptsächlich aus drei Quellen, die auch für die folgenden Untersuchungen von großer Bedeutung sind: der Sprechakttheorie der Linguistik, der Theaterwissenschaft und der Ritualforschung.49 Die Sprechakttheorie, die von John L. Austin50 begründet und von John R. Searle51 weiterentwickelt wurde, untersucht sprachliche Ausdrucksformen nicht wie Semiotik und Semantik als Bedeutungsträger, die auf die Wirklichkeit nur verweisen, sondern als Mittel zur Beeinflussung, Gestaltung und überhaupt Konstitution der Wirklichkeit. Besonders deutlich wird das bei illokutionären Sprechhandlungen wie der Taufe, dem Ja-Wort bei der Eheschließung, Eiden, Verfluchungen usw., gilt aber auch für alle anderen Fälle, in denen ein Sprecher die Sprache pragmatisch einsetzt, um bei seinen Adressaten eine Wirkung zu erzielen. Dass solchen Ausdrucksformen wie Eiden, Flüchen usw. wirklichkeitskonstituierende Kraft zugeschrieben wird, kann man als Relikt magisch-animistischen, weiter gefasst: religiösen Denkens verstehen, was die Sprechakttheorie gerade für vormoderne, nicht-säkulare Kulturen hilfreich macht. Immerhin gibt es in Antike und Mittelalter bemerkenswerte Parallelen zur Sprechakttheorie: Der Redner und Sophist Gorgias beschreibt die Macht der Rede (logos), die Hörer in Affekte wie Mitleid, Furcht, Sehnsucht usw. zu versetzen, geradezu als unwiderstehliche Zauberkraft.52 In der Bibel erscheint der Prozess der Schöpfung als Sprechakt, da Gott die Welt durch sein Sprechen erschafft,53 und die Zentralgestalt des Christentums ist das fleischgewordene Wort (logos), durch das alles gemacht ist54 – der inkarnierte Sprechakt. Nicht zuletzt deshalb können christliche Mystiker und Meditierende die Sprache als ein Medium verstehen und verwenden, durch das sie sich zu Gott bewegen und transformieren lassen. Auf diese transformierende Kraft der Sprache, ob man sie rhetorisch-rational oder religiös-magisch beschreibt, kommt es beim Umgang mit den Tragödien und Spielen an: Die Worte, die die Bühnenfiguren sprechen, sind nie nur handlungsintern auf sie untereinander bezogen, sondern gleichzeitig immer auch und vor allem an den Rezipienten gerichtet, um in ihm bestimmte Wirkungen hervorzurufen. Wenn man bei den Gattungen Tragödie und Passionsspiel – im Unterschied zu anderen, ‚freieren‘ Gattungen wie z. B. dem Roman – von vornherein weiß, dass der intendierte Rezipientenaffekt vor allem das Mitleid ist, kann man die Figurenreden darauf hin untersuchen, mit welchen rhetorischen Strategien sie das Mitleid 49 50 51 52 53 54 Zum Folgenden vgl. ausführlicher: Barton/Nöcker 2015. Austin 1962. Searle 1969. Gorgias, ‚Enkomion auf Helena‘. 1. Mose 1,1–31. Joh 1,1–18. 30 EINLEITUNG des Rezipienten zu wecken, zu lenken oder zu verhindern suchen. Hier bieten sich rhetorische und rezeptionsästhetische Analysemethoden an. Für eine solche Interaktion zwischen Figuren und Rezipienten ist beim Medium Schauspiel die leibliche Ko-Präsenz von den die Figuren verkörpernden Darstellern und den Zuschauern von entscheidender Bedeutung, somit auch die Zeit- und Raumdimension, die jede Form von Aufführung ausmacht und sie von allen anderen literarischen Rezeptionssituationen abhebt. Darauf hat die Theaterwissenschaft seit ihrer Entstehung Anfang des 20. Jahrhunderts nachdrücklich hingewiesen. Nicht zufällig beschäftigte sich einer ihrer Begründer, Max Herrmann, besonders mit dem mittelalterlichen Theater. Dieses konnte für die neuzeitliche Dramenforschung, die Theaterstücke rein als Texte verstand und vor allem literaturästhetische Maßstäbe klassischen Zuschnitts an sie legte, nur uninteressant sein, weil die mittelalterlichen Spieltexte meist lediglich grobe Aufführungsskripte sind oder, falls sie auch als Lesetexte gebraucht wurden, einer klassischen Ästhetik nicht genügen. Die Gründung der Theaterwissenschaft richtete sich gegen die Textfixiertheit der herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Dramenforschung und nahm so auch ‚unliterarische‘ Theaterformen wie das mittelalterliche Schauspiel und ‚unliterarische‘ Aufführungsbedingungen wie Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Materialität (Bühnenform, Bühnenbild, Requisiten), Körperlichkeit (der Schauspieler und der Zuschauer) und, damit verbunden, Sinnlichkeit (Sehen, Hören, Riechen, Tasten) in den Blick. Das experimentelle Theater und die Performance-Kunst des 20. Jahrhunderts machten sich ihrerseits frei von jeglicher Textgebundenheit oder dem Anspruch, schriftlich vorgegebene Dramen nur zu re-präsentieren. Von solchen Theaterformen her, die z. T. mit ähnlichen Mitteln wie die mittelalterlichen Spiele arbeiten (direkten Publikumsappellen, ‚Illusionsbrüchen‘, Beteiligung der Zuschauer an der Aufführung), entwickelt Erika Fischer-Lichte ihre „Ästhetik des Performativen“.55 Hierbei bestimmt sie die Aufführung als Ereignis, was ihre Unwiederholbarkeit, ihre Gegenwärtigkeit im Hier und Jetzt, die Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern (beide sind sowohl Subjekt als auch Objekt der Wahrnehmung und damit gleichermaßen für das Gelingen und den Fortgang einer Aufführung verantwortlich) und auch ein transformatives Potential beinhaltet (die Beteiligten können Transformations- und Schwellenerfahrungen machen, indem sie sich selbst als Wahrnehmende, die Gegenwart als Gegenwart erfahren). All diese Phänomene sind tatsächlich wesentlich für die Performativität des Theaters; man kann sie jedoch höchstens dann beschreiben, wenn man selbst an einer konkreten Aufführung teilgenommen hat oder über ‚Augenzeugen‘-Berichte verfügt. Bei historischen Aufführungen, für die solche Berichte nicht überliefert sind, stellt sich die Frage, wie man sie performativ angemessen beschreiben kann. Fischer-Lichte unterscheidet zwischen ‚Aufführung‘ und ‚Inszenierung‘. Letztere definiert sie 55 Fischer-Lichte 2004a.
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