Seite 1/4 Famous German Biergarten Amanda trottete hinter ihm her. Das war ein schlechtes Zeichen. Ein Warnsignal, wie das gelbe Licht einer Ampel. Leuchtete es rot, war der Urlaubstag verloren. In guten Zeiten hielt Amanda mit ihm Schritt oder ging voran, mit federnden, fast hüpfenden Schritten. Er liebte diese Schritte. Ihr Pferdeschwanz wippte im Takt, und wenn sie sich drehte, leuchteten ihre Augen. Aiden riskierte einen Blick über die Schulter. Seine Freundin hielt den Kopf gesenkt und musterte ihre Sneaker, die am Asphalt zu kleben schienen. Schweiß hatte ein Dreieck zwischen ihre Brüste gezeichnet. Aiden verwarf die Idee, sie auf die erotischen Aspekte der Gluthitze hinzuweisen, in welcher die Stadt selbst jetzt, am frühen Abend, fieberte. Im Schatten einer Bushaltestelle blieb er stehen und zog den Stadtplan aus einer Seitentasche seiner Bermuda. Papier klebte an seinen Fingern. »Du hast keine Ahnung wo wir sind, Aiden.« »Ich habe eine Ahnung, wo wir sind.« »Das bedeutet, du weißt nicht, wo wir sind.« »Genau.« Sie zog eine Augenbraue hoch und tippte mit dem Fingernagel gegen das Metall des Haltestellenschildes. Tak, tak, tak, machte es. Aiden wischte mit der Schulter Schweiß aus seinen Augen und orientierte sich auf dem im Miniaturformat gedruckten Stadtplan. Tak, tak, tak. »Das hilft nicht, Amanda«, brummte er. »Es hätte geholfen, für zwei Euro fünfzig einen Stadtplan zu kaufen, anstatt ihn zu Hause aus dem Internet zu laden und in schwarz-weiß zu drucken. Mit halb leerer Tintenpatrone.« Aidens Adamsapfel hüpfte, als er seine Antwort schluckte. Hitze wogte über Asphalt, schwappte an Häuserfronten empor und drängte zurück auf die Straße. Mit spitzen Fingern zupfte Aiden sein nasses T-Shirt von der Haut. Er sank auf die Wartebank der Bushaltestelle. Tak, tak, tak. »Ich verstehe das nicht. Nach dem Reiseführer meiner Eltern sollte hier einer der schönsten Biergärten der Stadt sein. Ein echter Geheimtipp. Deshalb sind wir vom Hotel so weit gelaufen.« Er seufzte. Das tak, tak, tak erstarb. Amanda schob ihre zierliche Hand über seine Hose. Sie wirkte auf seinem massigen Oberschenkel so verloren wie das Paar an der Bushaltestelle. »Wie alt bist du, Sweetheart?«, hauchte sie in sein Ohr. Trotz der Hitze stellten sich feine Haare in seinem Nacken auf. »Zweiundzwanzig.« »Warst du mit deinen Eltern jemals in Deutschland?« Er durchschaute ihre Frage, wagte aber nicht zu schweigen. »Nein.« »Wie alt ist dann der Reiseführer, der in unserem Hotelzimmer liegt?« Jetzt schwieg er. Seite 2/4 Ein Mann keuchte auf dem Radweg an ihnen vorüber. Im Fahrradanhänger schrie ein Kind. »Gib mir noch eine Chance«, bettelte Aiden. »Eine einzige Chance.« Er wich dem Blick ihrer grünen Augen aus und breitete den Stadtplan gleich einer Decke über ihre Beine. Die einzelnen Seiten waren mit Tesafilm aneinander geklebt. Er ignorierte Amandas Zischen. »Es kann sein, dass wir eine Straße zu früh rechts abgebogen sind. Das bedeutet«, er verfolgte ihren Laufweg mit seinem Finger, »dass wir jetzt hier sind. Lass uns bis ans Ende der Straße gehen«, er beugte sich vor, »du kannst es schon sehen – und an der Kreuzung nach dem Biergarten suchen. Wenn meine Vermutung richtig ist, haben wir den Weg nicht umsonst gemacht.« Amanda sprang auf und ging voran, ohne ein Wort zu sagen. Aiden wusste, dass ihre Ampel auf rot springen würde, wenn an der Straßenkreuzung kein Biergarten erschien. Zweimal verfehlte er sein eigenes Faltmuster, bevor er den Plan zusammenlegte und seiner Freundin nacheilte. Er tauchte aus dem Halbschatten in gleißende Sonne und schnappte nach Luft. Amanda stürmte voran. Aiden knetete den Schirm seiner Kappe. Erst jetzt, ohne schützenden Blick auf den Stadtplan, wurde ihm bewusst, in welche Gegend er sie geführt hatte. Putz blätterte von feuchtem Mauerwerk, Fenster starrten blind aus den Rahmen und trotz Freibadwetters war die Straße menschenleer. Aiden trat eine leere Coladose über den Gehsteig. Plastiktüten und Fast-FoodVerpackungen schwitzten in der Sonne. Amanda hatte die Straßenkreuzung erreicht und war stehen geblieben. Er schloss zu ihr auf. »Und?« Sie antwortete nicht. Die Querstraße markierte einen Übergang der Stadt von vernachlässigt zu schäbig. Das dahinter liegende Viertel wirkte selbst in der Abendsonne bedrohlich und abweisend. Aus einem Kofferradio hallte scheppernder Punkrock. Daneben döste ein Mann im Halbschatten des Maschendrahtzauns. »Famous German Biergarten«, sagte Amanda. Aiden knetete weiter den Schirm seiner Kappe. »Vielleicht könnten wir …«, setzte er an. »Wir können gar nichts, Aiden!«, schnappte Amanda. Ihre ohnehin hohe Stimme glich dem Piepsen einer Maus. »Von mir aus lauf durch die ganze verdammte Stadt und verdurste in ihrer Wüste. Ich kaufe mir da vorne eine Coke und setze mich in den Schatten!« Sie kreuzte die Straße und ignorierte das Hupen eines Autofahrers, der ihretwegen bremsen musste. Die Ampel leuchtete rot. Aiden wagte einen Schritt in Richtung des vermuteten Biergartens. Er presste die Lippen aufeinander. Dann zog er die Kappe über schweißnasse Haare und stapfte hinter Amanda her. Seite 3/4 Der Imbisswagen stand auf brachliegendem Baugrund. Von den Nachbarhäusern griffen durchtrennte Stahlmatten mit spitzen Fingern in die Luft. Es roch nach Staub und Hydraulik. In der Ecke wartete ein Bagger auf Arbeit. »Eine Coca-Cola bitte.« Der Verkäufer blinzelte aus seinem Verschlag. Frittierkörbe hingen über erkaltetem Fett, zwei Bratwürste trockneten auf der Warmhalteplatte. Ohne von seinem Klappstuhl aufzustehen, langte der Mann neben sich und schob eine Dose über die Theke. »Ist leider warm. Den Kühlschrank brauche ich fürs Bier«, sagte er und händigte Wechselgeld aus. Aiden verstand nichts außer »warm« und »Bier« und trabte auf die verlassene Baustelle zu. Unter ausgeblichenen Sonnenschirmen standen Bierzeltgarnituren im Staub. Amanda hockte alleine am vorderen der beiden Tische, bewundert von vier Männern in Arbeitskleidung, die am hinteren Tisch ihr Feierabendbier tranken. Aiden setzte sich neben seine Freundin, öffnete die Dose und trank. Er hustete. »Nie in meinem Leben habe ich wärmere Cola getrunken«, fluchte Aiden. »Hey ihr beiden, habt ihr euch verlaufen?«, fragte einer der Männer vom Nebentisch auf Englisch. Aiden setzte zu einer Antwort an, doch Amanda kam ihm zuvor. Sie sprach offenbar lieber mit fremden Bauarbeitern als mit ihm. »Ja, das haben wir. Aber mein Freund ist zu stolz es zuzugeben. Wir laufen seit drei Stunden durch die Stadt und suchen den Famous German Biergarten aus dem Reiseführer seiner Eltern.« Die Männer lachten. Der älteste von ihnen, mit grauen Haaren und Lachfältchen, zwirbelte seinen Schnauzbart. »Dafür kommt ihr fünfzehn Jahre zu spät.« Seine jüngeren Kollegen sahen ihn an. »Einen Steinwurf von hier, Kastanienstraße, war einer der besten Biergärten der Stadt.« Er bemerkte die Blicke seiner Kollegen. »Seht mich nicht so an – zu der Zeit habt ihr noch Milch von Mama getrunken!« Ihr Lachen hallte über den Platz, und der Mann im Imbisswagen stieß seine Türe auf. »Ohne mich hat hier keiner Spaß!«, rief er. »Erinnerst du dich an den Biergarten Kastanienstraße, Franz?«, fragte der Arbeiter. »Natürlich!«, Franz hieb auf seine Schenkel, »das waren Zeiten! Jeden Abend war ich da, und jeden Abend mit einer anderen Frau!« »Hat wohl keine lange mit dir ausgehalten«, warf einer der Jüngeren ein, doch Franz sah in den blauen Abendhimmel. »Im Schatten der Bäume, ein kühles Bier in der einen und eine heiße Frau an der anderen Hand … Wen eine Kastanie erwischte, der musste ne Runde geben. Herrlich war’s!« »Die beiden«, der Mann mit Schnauzbart deutete auf Amanda und Aiden, »wollten dahin.« Franz streifte die warmen Coladosen mit einem Blick. »Wartet mal«, murmelte er und rumpelte Seite 4/4 in seinen Imbisswagen. »Markus, Jonas, tragen helfen!«, tönte es blechern. Zwei junge Männer sprangen auf und kehrten mit sieben Bierflaschen zurück, von deren Hälsen Kondenswasser perlte. »Franz gibt einen aus! Macht ein rotes Kreuz im Kalender«, lachten sie. Schnauzbart stand auf und lächelte. »Gebt mir zwei Minuten. Ich wohne gleich ums Eck«, sagte er und staubte von der Baustelle. Aus zwei Minuten wurden fünf, in denen Amanda und Aiden erfuhren, dass ihre neuen Bekannten auf Montage mehr Städte in Amerika gesehen hatten als sie selbst. Aiden spürte, wie Amandas Hand unter dem Biertisch in seine glitt. Ihre grünen Augen funkelten und ihr Pferdeschwanz wippte, als sie sprach. »Weshalb ist euer Freund nach Hause gelaufen?«, fragte sie. Jonas antwortete mit einer Geste, die einen Sonnenstich andeutete, als Schnauzbart über den Hof kam und sieben Krüge auf den Tisch hämmerte. In jeden Krug war das Bild eines Kastanienbaums eingeprägt. »Und das ist noch nicht alles«, lächelte er. Hinter ihm erschien der Punker vom Maschendrahtzaun. Sein Kofferradio spielte Volksmusik. »Famous German Biergarten«, lächelte Amanda. Aiden legte einen Arm um seine Freundin.
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