Von der Entdeckung zur Eroberung der beiden Amerikas- Das Beispiel Cortes M1 Aus einer aztekischen Chronik, die über die Begegnung zwischen dem spanischen Eroberer Hernán Cortes (1485–1547) und dem Aztekenherrscher Moctezuma II. (Reg. 1502– 1520) berichtet. Die Chronik entstand auf Veranlassung des Franziskaners Bernardino de Sahagún. Er ließ darin eingeborene Schüler in der ersten Hälfte des 16. Jh. Berichte über die Eroberung Mexikos in ihrer eigenen Sprache, dem Náhuatl, niederschreiben: 5 Als das Jahr „Dreizehn Kaninchen“ sich seinem Ende näherte, als es sich fast mit dem nächsten berührte, erschienen sie [d. h. Cortes mit seiner Schiffsflotte] wieder. Sie wurden wieder gesehen. Sogleich brachte man Moctezuma die Kunde, und er sandte sofort Boten aus, denn er dachte: „Nun ist unser Fürst Quetzalcóatl gekommen!“ In seinem Herzen fühlte er: Er ist erschienen, er ist zurückgekommen. Nun wird er wieder seinen Thron einnehmen, wie er versprochen hat, ehe er uns verließ. Moctezuma schickte fünf hohe Gesandte aus, die die Fremden begrüßen und ihnen Willkommensgeschenke bringen sollten. […] Moctezuma war sehr erstaunt und bestürzt über ihren Bericht und die Beschreibung der göttlichen Speise entsetzte ihn mehr als alles andere. Sie nährten sich nicht von Blut und menschlichen Herzen! Erschrocken hörte er auch davon, wie die Kanone brüllt, wie ihr Donner trifft, dass man taub und ohnmächtig wird. […] 10 15 20 25 Und die Gesandten berichteten weiter: „Ihre Kriegstracht und ihre Waffen sind ganz aus Eisen gemacht. Sie kleiden sich ganz in Eisen, mit Eisen bedecken sie ihren Kopf, aus Eisen sind ihre Schwerter, ihre Bogen, ihre Schilde und Lanzen. Sie werden von Hirschen auf dem Rücken getragen, wohin sie wollen. Herr, auf diesen Hirschen sind sie so hoch wie Dächer. […]“ Als Moctezuma diesen Bericht gehört hatte, griff die Furcht ihn an. Sie schwächte sein Herz bis zur Ohnmacht, es schrumpfte zusammen. Und die Verzweiflung eroberte ihn. Doch dann sandte er wieder Abgeordnete aus, er schickte seine klügsten Leute, die begabtesten Wahrsager und Zauberer, die er nur finden konnte, und die edelsten und tapfersten Krieger. […] Moctezuma schickte auch Gefangene mit. Sie waren für Opfer bestimmt, wenn es die Götter nach Menschenblut gelüstete. Die Gefangenen wurden vor den Fremden geopfert, doch als die Weißen das sahen, schüttelten sie sich vor Abscheu und Ekel. […] Moctezuma hatte die Magier beauftragt, auszuforschen, wer die Fremden wären. Zugleich sollten sie trachten, sie zu verzaubern, irgendein Unheil auf sie herabzuziehen: den bösen Wind gegen sie lenken, schlimme Geschwüre und Wunden aufbrechen lassen oder mit einem Zauberspruch Krankheit, Tod oder Umkehr der Fremden beschwören. Die Zauberer taten ihr Werk, sie besprachen die Fremden, aber die Wirkung blieb aus. Die Sprüche versagten, sie hexten den Fremden nichts an. Da kehrten die Zauberer eilig zurück und berichteten Moctezuma, wie stark und unverwundbar die Fremden wären. Sie sagten: „O Herr, wir sind ihnen nicht gewachsen. Vor ihnen sind wir wie nichts.“ […] Moctezuma war angsterfüllt und verwirrt; von Schrecken gepeinigt, verzweifelte er an der Zukunft seiner Stadt. Sein Volk war verwirrt wie er, beriet, besprach die Berichte. Man kam auf den Straßen zusammen, bildete Gruppen, Gerüchte verbreiteten Schrecken. Man weinte und klagte. […] 30 35 Nachdem die Fremden Cholula vernichtet hatten, machten sie sich auf den Weg nach der Hauptstadt Mexiko. Sie kamen in Schlachtordnung, als Eroberer, und der Staub stieg in Wirbeln über den Landstraßen auf. Ihre eisernen Stäbe glitzerten böse in der Sonne und die Fähnchen daran flatterten wie Fledermäuse. […] Einige waren von Kopf bis Fuß in blitzendes Eisen gekleidet. Diese glänzenden Eisenmänner erschreckten jeden, der sie sah. Moctezuma sandte noch einmal verschiedene Fürsten aus. […] Sie schenkten den Göttern goldene Banner und Fahnen aus Quetzalfedern und goldene Halsketten. Als sie das Gold in ihren Händen hatten, brach Lachen aus den Gesichtern der Spanier hervor, ihre Augen funkelten vor Vergnügen, sie waren entzückt. Wie Affen griffen sie nach dem Gold und befingerten es, sie waren hingerissen vor Freude. […] Sie rissen die goldenen Banner an sich, prüften sie Zoll für Zoll, schwenkten sie hin und her, und auf das unverständliche fremde Rauschen im Wind antworteten sie mit ihren wilden, barbarischen Reden. Miguel Leon-Portilla/Renate Heuer (Hg.), Rückkehr der Götter. Die Aufzeichnungen der Azteken über den Untergang ihres Reiches, Frankfurt/M. (Vervuert) 1986, S. 23–53. 1 M2 5 10 15 20 25 Cortes berichtet in einem Brief an Kaiser Karl V. über seine Begegnung mit Moctezuma Kurze Zeit nachher aber, nachdem alle meine Leute schon einquartiert waren, kehrte er [also Moctezuma/SWE] zurück mit vielen und mannigfaltigen Kleinodien von Gold und Silber und Federbüschen sowie mit fünf- bis sechstausend Stück baumwollenen Gewebes, sehr reich und in verschiedener Art gewoben und gearbeitet. Nachdem er mir das übergeben hatte, setzte er sich auf eine andere Estrade, die schnell für ihn neben der meinigen bereitet wurde, und sitzend redete er zu mir Folgendes: „Seit langer Zeit bereits besitzen wir durch unsere Urkunden von unseren Voreltern Kenntnis, dass weder ich noch alle jetzigen Einwohner dieses Landes Eingeborene desselben sind, sondern vielmehr Fremde, die aus sehr entfernten Gegenden stammen. Gleichfalls wissen wir, dass unser Geschlecht durch einen Herrn hierher geführt wurde, dessen Vasallen sie alle waren und der darauf nach seinem Geburtslande zurückkehrte, später aber wiederkam – doch erst nach so langer Zeit, dass sich die Zurückgebliebenen unterdessen schon mit eingeborenen Weibern verheiratet und viele Kinder erzeugt, auch neue Ortschaften gebildet hatten, wo sie lebten. Und als er sie wieder mit sich hinwegzuführen gedachte, wollten sie nicht folgen und ihn nicht einmal mehr als ihren Herren erkennen, und so entfernte er sich wieder. Wir aber haben stets dafür gehalten, dass jemand von seinen Nachkömmlingen dereinst erscheinen würde, um dieses Land zu unterjochen und uns wiederum zu ihren Vasallen zu machen. Und nach der Gegend, aus welcher Ihr gekommen zu sein versichert, das heißt vom Sonnenaufgange her, und nach Euren Erzählungen von jenem großen Herrn oder Könige, der Euch von dort gesendet hat, glauben wir und halten es für gewiss, dass derselbe unser angestammter Herrscher sei; besonders da Ihr sagt, dass auch er von uns seit langer Zeit schon Kunde besessen. Seid deshalb überzeugt, dass wir Euch gehorchen und Euch als als Gebieter und als Statthalter jenes großen Herrn anerkennen werden, von dem Ihr redet. […] Wohl mögt Ihr daher im ganzen Lande, soweit ich es zur Herrschaft besitze, nach Willkür befehlen […]. Und ich weiß wohl, dass die von Cempoal und Tlascaltecal Euch viel Übles von mir gesagt haben; glaubet aber nicht mehr davon, als Ihr mit eigenen Augen sehen werdet, besonders jenen nicht, die meine Feinde sind und zum Teil einst meine Vasallen waren, und die bei Eurer Ankunft gegen mich rebelliert und, nur um sich bei Euch in Gust zu setzen, Euch solches gesagt haben. […] Jetzt gehe ich in ein anderes Haus, wo ich wohne. Ihr werdet hier mit aller Notdurft für Euch und Eure Leute versorgt werden. Ihr braucht Euch um nichts zu kümmern, denn Ihr befindet Euch in Eurem Hause und Eurer Heimat.“ Ich antwortete nun auf alles, was er gesagt hatte, ihn überall befriedigend, wo es mir angemessen schien, und besonders ihn in seinem Glauben bestärkend, dass wirklich Ew. Majestät der längst von ihnen Erwartete sei. 30 Ernst Schultze (Hg.), Ferdinand Cortes. Die Eroberung Mexikos, Hamburg (Gutenberg) 1907, S. 199–222. M3 Amerikanische Bilddarstellung aus dem späten 16. Jhd.: Cortes verhandelt mit Moctezuma II. in Tenochtitlan. Aufgaben: 1. 2. 3. 4. Arbeiten Sie aus M 1 heraus, welchen Eindruck die Azteken von den Europäern hatten und wie sie auf deren Ankunft reagierten. Diskutieren Sie über die Frage, inwieweit die aztekische Chronik tatsächlich die Sicht der Azteken wiedergibt. Parallelberichte zu M 1 und M 2 verfassen: a) Beschreiben Sie aus der Sicht eines spanischen Soldaten den Zug nach Mexiko. b) Verfassen Sie den Bericht eines an der Expedition teilnehmenden Mönches an einen Ordensvorgesetzten. Vergleichen Sie. Rekonstruieren Sie eine Diskussion Moctezumas mit seinen Ratgebern über die Frage, wie man den „Fremden“ begegnen soll. 2 3
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