FIDELITY-4-2013-Juli-August-Locker-vom

Locker
vom
Hocker
Irgendwann stellst du
fest, dass dein bester
Freund auch ein Vollverstärker sein kann …
ANTHEM I225 • 1980 EURO
TEXT: CHRISTIAN.BAYER
@FIDELITY-MAGAZIN.DE
BILDER: BRITTA BAUER, IS
Rosine und Trüffel zugleich?
Der „Kleine“ von Anthem
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VollVerstärker
Z
Zeit, dass ich mich oute: Ich liebe es, seltene, außergewöhnliche oder einfach obskure Gerätschaften aus
dem Überangebot der HiFi-Welt „herauszutrüffeln“.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb macht es mir
immer wieder einen Heidenspaß, wenn ich auf Mainstream-Produkte stoße (oder von der Redaktion gestoßen werde), die mich so überraschen wie der Anthem.
Doch wenn ich es mir recht überlege, geht es auch hier
ums „Heraustrüffeln“, um nichts anderes, als die Rosinen aus dem Mainstreamkuchen herauszupicken.
Gute alte Boliden
Mögen Sie Ihren Kaffee schwarz und stark? Dann ist
der Vollverstärker I225 von Anthem genau das Richtige für Sie. Er beweist, dass schiere Kraft aus 225 Watt
keineswegs ein Nachteil sein muss, und auch, dass
US-Amps nicht unbedingt dampfwalzengleich über
die Feinheiten in der Musik hinwegrumpeln müssen.
Zur Nomenklatura: „I“ bedeutet „Integrated“, also
Vollverstärker, „225“ steht für die angesprochene Leistung von 225 Watt Sinus an 8 Ohm, und „Anthem“
heißt auf Deutsch „Hymne, Lobgesang“. Verstehen Sie
diesen Bericht also ruhig als echten Lobgesang auf universelle Vollverstärker mit Hubraum und Leistungsreserven in jeder musikalischen Lebenslage. Mit genau
solchen Geräten bin ich aufgewachsen: fette Boliden
mit Leistung und Ausstattung satt, die problemlos
noch jede Membran zum Schwingen gebracht haben.
All die Yamahas, Sansuis, Kenwoods oder Onkyos der
70er und 80er Jahre sind genau deswegen auf dem Gebrauchtmarkt als fähige Youngtimer auch heute noch
sehr gesucht. Wie im Autoquartett haben wir technische Details verglichen: Meiner hat mehr Watt als deiner … aber dafür hat meiner zwei Phonoeingänge und
VU-Meter … herrlich!
Übrigens: Bis zum Eintreffen des I225 war mir der
Firmenname „Anthem“ unbekannt. Von Sonic Frontiers jedoch habe ich schon viel Gutes gehört. Sie nicht?
Zeit für etwas audiophilen Geschichtsunterricht.
Hören mit röhren – und ohne
1988 gründeten Chris Jensen und Chris Johnson „The
Parts Connection“, einen Versandhandel für audiophile Bauteile. Nach zwei Jahren brachten sie unter der
Marke „Sonic Frontiers“ Bausätze für Röhrenverstärker auf den Markt. Kaum etabliert, stieg die Nachfrage
nach Fertiggeräten derart an, dass man unter gleichem
Namen Vor- und Endstufen, DACs und CD-Player
herausbrachte, alle mit Röhren bestückt. Erinnern Sie
sich jetzt? An all die vielen positiven Berichte, gerade auch in deutschen Magazinen? Genau. 1995 wurde
dann eine Einsteigerserie mit Hybrid-Geräten (Röhren- und Transistortechnik in einem Gehäuse) unter
dem Markennamen „Anthem“ vorgestellt, darunter
auch erste Vollverstärker. 1999 schließlich wurde Sonic
FIDELITY NR. 8 4/2013
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Frontiers von Paradigm Electronics gekauft. Paradigm
ist ursprünglich ein großer Lautsprecherhersteller und
verschob durch diese Übernahme den Fokus von Anthem in Richtung Heimkino. Man hatte recht schnell
erkannt, dass genau dieser Markt wesentlich schneller
als der traditionelle Zweikanal-Markt wächst. Aus dem
gleichen pragmatischen Grund endete 2001 nicht nur
die Produktion von Röhrengeräten, sondern auch die
Geschichte von Sonic Frontiers. 2008 schließlich beschloss man dann doch die Rückkehr zum ZweikanalStereo-Geschäft, präsentierte den I225 aber als reines
Transistorgerät. Dieser wird – wie die MRX-Linie der
AV-Receiver auch – in Taiwan hergestellt, alle weiteren
Anthem-Modelle in Nordamerika. Um sowohl den
Preis als auch die markentypische Qualität zu halten,
hat man ein Jahr lang an der Verfeinerung des Amps
gearbeitet, bis man mit der Qualität hundertprozentig
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zufrieden war. Das hat sich gelohnt: Kein Vollverstärker für knapp 2000 Euro, den ich kenne, bietet eine
derart vollwertige Ausstattung und eine Leistung, die
man sonst nur bei separaten Endstufen findet.
Ich bin fast sicher, dass selbst die legendäre Wattfresserin Infinity Kappa angesichts der Potenz des Anthem
einen höflichen Knicks machen und locker vom Hocker aufspielen würde. Der Anthem soll jedenfalls, so
der Hersteller, praktisch jeden Lautsprecher des Weltmarkts problemlos antreiben können, was ihn in diesem Preissegment so gut wie konkurrenzlos macht.
Die Frage bleibt natürlich, wie er sich dabei klanglich
schlägt. Nur so viel vorab in aller Kürze: Er spielt saugut, besitzt jede Menge „Überholprestige“, legt aber
keine Bodybuilder-Manieren an den Tag. Sie wissen
schon: zu viele Muskeln, um eine Glühbirne eindrehen
zu können … Nein, der dicke Schwarze kann flüstern,
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70 kg Musik:
VollVerstärker
wenn leise Töne gefragt sind, und er kann brüllen, wenn
AC/DC „in richtig laut“ angesagt ist. Dazu später mehr.
Das Rack für
unsere ZETModelle
Puristen – bitte weiterblättern
Der Anthem I225 verkörpert so ziemlich das Gegenteil z. B.
eines Lavardin IS. Er besitzt praktisch alles, was der Puristen-Gott verboten hat: nicht weniger als sieben Eingänge
inklusive symmetrischem XLR-Eingang, Phono MM und
einem Eingang auf der Front für iPod und Konsorten, dazu
mehr als 200 Watt Dauerleistung pro Kanal an 8 Ohm, eine
Fernbedienung und auch Klangregler. – Wie bitte? Böse
Klangregler aus den Tiefen der highfidelen Vergangenheit?
Ganz genau! Und auch dazu später ein bisschen mehr.
Das Einzige, was dem I225 zur absoluten Vollausstattung
– von Phono-MC einmal abgesehen – noch fehlen könnte, wäre eine Streaming-Option. Bob Gassel von Paradigm
(International Sales) hat mir erklärt, warum der I225 kein
Knöpfchen mit Köpfchen
Klangregler für den Groove?
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Vollaustattung Sogar ein
Phono-MM-Eingang ist dabei
solches Feature besitzt. Die Programmierung für Streaming-Angebote sei ausgesprochen zeitaufwendig und
von halbjährlichen Upgrade-Zyklen so durchsetzt,
dass man davon die Finger lasse und lieber passende
digitale Zusatzgeräte empfehle. Sehr schlau, finde ich.
Zudem bietet Anthem ja auch mehr als genug Geräte,
um auch gehobene digitale Bedürfnisse vollauf zu befriedigen. Daher kommt der 225er – abgesehen vom
Frontanschluss für mobile Mediaplayer – im besten
Sinne konservativ daher. Als einziger Kritikpunkt
überhaupt fallen mir die rückwärtigen Cinchbuchsen
ins Auge. Sie sind zwar vergoldet, wirken aber billig
und sind wackelig. Gerade weil alles andere an diesem Verstärker so schön hochwertig wirkt, fällt dieser
Schönheitsfehler, der sich für ein paar Euro extra leicht
beheben ließe, bei der Verkabelung ins Auge.
Der innere Aufbau des I225 ist aufgeräumt und lupenrein. Dafür spricht schon ein extrem guter Geräuschspannungsabstand von 105 dB. Um Übersprechen
zwischen den Quellen zu verhindern, sind kritische
Eingänge individuell gepuffert. Die Ausgangsstufe ist
als bewährtes, vollsymmetrisches Class-AB-Design mit
drei Paar Bipolar-Transistoren pro Kanal ausgeführt.
Features wie früher
Was mich endgültig für den Anthem eingenommen
hat, ist seine Phonostufe oder besser: dass er überhaupt eine besitzt. Sie wurde speziell für aktuelle TopMM-Tonabnehmer ausgelegt und werkelt dabei aktiv
im Bass und in den Mitten, wie es durch die RIAAKurve bestimmt wird. Ab 2122 Hz, ebenfalls RIAAkonform, geht es dann passiv weiter. So segeln die Rilleninformationen an der Originalkurve entlang, alle
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wertvollen Details bleiben erhalten. Dazu tragen auch
zwei ausgesuchte Op-Amps bei: Der erste sorgt für die
Verstärkung und schützt das Feedback-Netzwerk vor
Einflüssen des Tonabnehmers, um einen besonders
exakten Frequenzgang zu erreichen. Der zweite agiert
als Puffer und trennt das Filternetzwerk vom Lautstärkeregler, damit sich das Laut- und Leisestellen nicht
negativ auf den Frequenzgang auswirkt. Klingt beeindruckend? Klingt beeindruckend!
Kürzlich habe ich mir eine originale Blue Note Mono
von Jimmy Smith aus dem Jahr 1961 gekauft (Jimmy
Smith Vol. 3; BLP 1525). Hören Sie sich das an! Sie
werden nie mehr bereuen, den Großmeister nicht live
erlebt zu haben. Die Scheibe klingt über den totenstillen Phonoeingang des Anthem einfach herrlich: saftig,
schnell, breitbandig – da fehlt nix. Jimmy Smith spielt
hier nur für Sie und zieht sprichwörtlich alle Register!
Der Anthem zieht ebenfalls alle Register, und zwar
beim Bedienkomfort. So lässt sich die Lautstärke nicht
nur am Gerät oder per Fernbedienung, sondern auch
über eine RS-232-Schnittstelle steuern. Lässig. Und die
Klangregler? Die sind hauptsächlich dafür da, mäßige
Aufnahmen aufhübschen zu können. Sehr praktisch.
In einem meiner Räume konnte ich damit zudem eine
gewisse Bassüberhöhung ausgleichen – noch praktischer. Für Puristen sind die Klangregler natürlich auch
abschaltbar. Wie bei der enormen Leistung des Anthem
gilt auch in puncto Klangregler: nice to have.
Und wie klingt er jetzt wirklich?
Zunächst habe ich den Anthem mit meinen 98-dBHörnern gehört – das geht natürlich auch. Aber da
wird die gebotene Leistung dann schnell zum Overkill.
Das fühlt sich ein bisschen an wie Ferrari im Garten
fahren. Doch wie es der redaktionelle Zufall so will
(wieso Zufall? – Anm. CB), stehen seit einiger Zeit auch
ein paar schmucke Focal Chorus 716 bei uns zum Hören und Staunen – und mit diesen Standlautsprechern
habe ich nun schon viele Stunden Musik gehört.
Wäre ich HiFi-Händler, würde ich diese Kombination
liebend gerne im Dutzend verkaufen. Warum? Weil
ich sie total stimmig finde. Weil sie zusammen keine 3000 Euro kostet. Und weil Sie sich für lange Zeit
nichts anderes mehr kaufen müssten. Okay, das eine
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Vollverstärker
oder andere Quellgerät noch. Ach, das haben Sie schon? Perfekt.
Ich habe beispielsweise meinen getunten Lenco, meinen gepimpten CD-Player, meinen Röhren-DAC und zwischendurch sogar
mein gutes altes Tapedeck an den Integrierten angeschlossen –
und alles hat gegroovt bis zum Abwinken.
Kennen Sie Hakon Kornstad? Wenn Sie Saxofone, Loops und
Stimme mögen und Ihnen vielleicht sogar noch Gato Barbieri
und John Klemmer am Herz liegen – kaufen Sie sich Symphony In My Head (Jazzland 2786027/2011). So viel sinnliche Tiefe,
Wildheit und Zärtlichkeit, solch stimmige melodische Improvisationen findet man selten in einem Solo-Album vereint. Der
I225 reicht all das, was gerade gefragt ist, mit unaufdringlicher
Lockerheit, unendlicher Sanftheit, mit brutaler Dynamik einfach
durch, an welchen Lautsprecher auch immer. Er bringt mich dahin, wo ich am liebsten bin: in die bewertungsfreie Zone – frei
von Gedanken an Equipment, an Röhren oder Transistoren, an
Leistung oder Optik. Es spielt einfach nur Musik, und mehr kann
ich mir von einer HiFi-Komponente kaum wünschen.
Mit dem Anthem ist es wie mit Ihrem besten Freund: Sie wissen,
dass Sie sich auf ihn verlassen können. Sollten Sie also demnächst
mit dem Kauf eines klassischen, kräftigen und bestens ausgestatteten Vollverstärkers liebäugeln, packen Sie den Anthem I225
ganz nach oben auf Ihre Menü-Liste. Denn ganz nebenbei gehört
er für mich auch zu den echten Trüffeln seiner Spezies.
Anthem I225
Vollverstärker
Leistung (8/4 Ω): 2 x 225/310 W
Eingänge: 1 x Phono MM,
5 x Line In (Cinch), 1 x Line In
symmetrisch (XLR)
Ausgänge: 1 x Pre Out, 1 x Record
Out (Cinch), 1 Paar Lautsprecher
(Polklemmen)
Besonderheiten: Fernbedienung,
RS-232-Schnittstelle, 12-V-Trigger
Ausführung: Schwarz
Maße (B/H/T): 44/15/46 cm
Gewicht: 19,4 kg
Garantiezeit: 3 Jahre
Preis: 1980 €
Paradigm Audio Vertriebs GmbH
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