Locker vom Hocker Irgendwann stellst du fest, dass dein bester Freund auch ein Vollverstärker sein kann … ANTHEM I225 • 1980 EURO TEXT: CHRISTIAN.BAYER @FIDELITY-MAGAZIN.DE BILDER: BRITTA BAUER, IS Rosine und Trüffel zugleich? Der „Kleine“ von Anthem [email protected] - www.testberichte.de VollVerstärker Z Zeit, dass ich mich oute: Ich liebe es, seltene, außergewöhnliche oder einfach obskure Gerätschaften aus dem Überangebot der HiFi-Welt „herauszutrüffeln“. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb macht es mir immer wieder einen Heidenspaß, wenn ich auf Mainstream-Produkte stoße (oder von der Redaktion gestoßen werde), die mich so überraschen wie der Anthem. Doch wenn ich es mir recht überlege, geht es auch hier ums „Heraustrüffeln“, um nichts anderes, als die Rosinen aus dem Mainstreamkuchen herauszupicken. Gute alte Boliden Mögen Sie Ihren Kaffee schwarz und stark? Dann ist der Vollverstärker I225 von Anthem genau das Richtige für Sie. Er beweist, dass schiere Kraft aus 225 Watt keineswegs ein Nachteil sein muss, und auch, dass US-Amps nicht unbedingt dampfwalzengleich über die Feinheiten in der Musik hinwegrumpeln müssen. Zur Nomenklatura: „I“ bedeutet „Integrated“, also Vollverstärker, „225“ steht für die angesprochene Leistung von 225 Watt Sinus an 8 Ohm, und „Anthem“ heißt auf Deutsch „Hymne, Lobgesang“. Verstehen Sie diesen Bericht also ruhig als echten Lobgesang auf universelle Vollverstärker mit Hubraum und Leistungsreserven in jeder musikalischen Lebenslage. Mit genau solchen Geräten bin ich aufgewachsen: fette Boliden mit Leistung und Ausstattung satt, die problemlos noch jede Membran zum Schwingen gebracht haben. All die Yamahas, Sansuis, Kenwoods oder Onkyos der 70er und 80er Jahre sind genau deswegen auf dem Gebrauchtmarkt als fähige Youngtimer auch heute noch sehr gesucht. Wie im Autoquartett haben wir technische Details verglichen: Meiner hat mehr Watt als deiner … aber dafür hat meiner zwei Phonoeingänge und VU-Meter … herrlich! Übrigens: Bis zum Eintreffen des I225 war mir der Firmenname „Anthem“ unbekannt. Von Sonic Frontiers jedoch habe ich schon viel Gutes gehört. Sie nicht? Zeit für etwas audiophilen Geschichtsunterricht. Hören mit röhren – und ohne 1988 gründeten Chris Jensen und Chris Johnson „The Parts Connection“, einen Versandhandel für audiophile Bauteile. Nach zwei Jahren brachten sie unter der Marke „Sonic Frontiers“ Bausätze für Röhrenverstärker auf den Markt. Kaum etabliert, stieg die Nachfrage nach Fertiggeräten derart an, dass man unter gleichem Namen Vor- und Endstufen, DACs und CD-Player herausbrachte, alle mit Röhren bestückt. Erinnern Sie sich jetzt? An all die vielen positiven Berichte, gerade auch in deutschen Magazinen? Genau. 1995 wurde dann eine Einsteigerserie mit Hybrid-Geräten (Röhren- und Transistortechnik in einem Gehäuse) unter dem Markennamen „Anthem“ vorgestellt, darunter auch erste Vollverstärker. 1999 schließlich wurde Sonic FIDELITY NR. 8 4/2013 [email protected] - www.testberichte.de 71 Frontiers von Paradigm Electronics gekauft. Paradigm ist ursprünglich ein großer Lautsprecherhersteller und verschob durch diese Übernahme den Fokus von Anthem in Richtung Heimkino. Man hatte recht schnell erkannt, dass genau dieser Markt wesentlich schneller als der traditionelle Zweikanal-Markt wächst. Aus dem gleichen pragmatischen Grund endete 2001 nicht nur die Produktion von Röhrengeräten, sondern auch die Geschichte von Sonic Frontiers. 2008 schließlich beschloss man dann doch die Rückkehr zum ZweikanalStereo-Geschäft, präsentierte den I225 aber als reines Transistorgerät. Dieser wird – wie die MRX-Linie der AV-Receiver auch – in Taiwan hergestellt, alle weiteren Anthem-Modelle in Nordamerika. Um sowohl den Preis als auch die markentypische Qualität zu halten, hat man ein Jahr lang an der Verfeinerung des Amps gearbeitet, bis man mit der Qualität hundertprozentig 72 zufrieden war. Das hat sich gelohnt: Kein Vollverstärker für knapp 2000 Euro, den ich kenne, bietet eine derart vollwertige Ausstattung und eine Leistung, die man sonst nur bei separaten Endstufen findet. Ich bin fast sicher, dass selbst die legendäre Wattfresserin Infinity Kappa angesichts der Potenz des Anthem einen höflichen Knicks machen und locker vom Hocker aufspielen würde. Der Anthem soll jedenfalls, so der Hersteller, praktisch jeden Lautsprecher des Weltmarkts problemlos antreiben können, was ihn in diesem Preissegment so gut wie konkurrenzlos macht. Die Frage bleibt natürlich, wie er sich dabei klanglich schlägt. Nur so viel vorab in aller Kürze: Er spielt saugut, besitzt jede Menge „Überholprestige“, legt aber keine Bodybuilder-Manieren an den Tag. Sie wissen schon: zu viele Muskeln, um eine Glühbirne eindrehen zu können … Nein, der dicke Schwarze kann flüstern, FIDELITY-MAGAZIN.DE [email protected] - www.testberichte.de 70 kg Musik: VollVerstärker wenn leise Töne gefragt sind, und er kann brüllen, wenn AC/DC „in richtig laut“ angesagt ist. Dazu später mehr. Das Rack für unsere ZETModelle Puristen – bitte weiterblättern Der Anthem I225 verkörpert so ziemlich das Gegenteil z. B. eines Lavardin IS. Er besitzt praktisch alles, was der Puristen-Gott verboten hat: nicht weniger als sieben Eingänge inklusive symmetrischem XLR-Eingang, Phono MM und einem Eingang auf der Front für iPod und Konsorten, dazu mehr als 200 Watt Dauerleistung pro Kanal an 8 Ohm, eine Fernbedienung und auch Klangregler. – Wie bitte? Böse Klangregler aus den Tiefen der highfidelen Vergangenheit? Ganz genau! Und auch dazu später ein bisschen mehr. Das Einzige, was dem I225 zur absoluten Vollausstattung – von Phono-MC einmal abgesehen – noch fehlen könnte, wäre eine Streaming-Option. Bob Gassel von Paradigm (International Sales) hat mir erklärt, warum der I225 kein Knöpfchen mit Köpfchen Klangregler für den Groove? [email protected] - www.testberichte.de RÄKE HIFI/VERTRIEB GMBH Irlenfelder Weg 43 51467 Bergisch Gladbach Telefon 02202/31046 Telefax 02202/36844 [email protected] www.transrotor.de Vollaustattung Sogar ein Phono-MM-Eingang ist dabei solches Feature besitzt. Die Programmierung für Streaming-Angebote sei ausgesprochen zeitaufwendig und von halbjährlichen Upgrade-Zyklen so durchsetzt, dass man davon die Finger lasse und lieber passende digitale Zusatzgeräte empfehle. Sehr schlau, finde ich. Zudem bietet Anthem ja auch mehr als genug Geräte, um auch gehobene digitale Bedürfnisse vollauf zu befriedigen. Daher kommt der 225er – abgesehen vom Frontanschluss für mobile Mediaplayer – im besten Sinne konservativ daher. Als einziger Kritikpunkt überhaupt fallen mir die rückwärtigen Cinchbuchsen ins Auge. Sie sind zwar vergoldet, wirken aber billig und sind wackelig. Gerade weil alles andere an diesem Verstärker so schön hochwertig wirkt, fällt dieser Schönheitsfehler, der sich für ein paar Euro extra leicht beheben ließe, bei der Verkabelung ins Auge. Der innere Aufbau des I225 ist aufgeräumt und lupenrein. Dafür spricht schon ein extrem guter Geräuschspannungsabstand von 105 dB. Um Übersprechen zwischen den Quellen zu verhindern, sind kritische Eingänge individuell gepuffert. Die Ausgangsstufe ist als bewährtes, vollsymmetrisches Class-AB-Design mit drei Paar Bipolar-Transistoren pro Kanal ausgeführt. Features wie früher Was mich endgültig für den Anthem eingenommen hat, ist seine Phonostufe oder besser: dass er überhaupt eine besitzt. Sie wurde speziell für aktuelle TopMM-Tonabnehmer ausgelegt und werkelt dabei aktiv im Bass und in den Mitten, wie es durch die RIAAKurve bestimmt wird. Ab 2122 Hz, ebenfalls RIAAkonform, geht es dann passiv weiter. So segeln die Rilleninformationen an der Originalkurve entlang, alle 74 wertvollen Details bleiben erhalten. Dazu tragen auch zwei ausgesuchte Op-Amps bei: Der erste sorgt für die Verstärkung und schützt das Feedback-Netzwerk vor Einflüssen des Tonabnehmers, um einen besonders exakten Frequenzgang zu erreichen. Der zweite agiert als Puffer und trennt das Filternetzwerk vom Lautstärkeregler, damit sich das Laut- und Leisestellen nicht negativ auf den Frequenzgang auswirkt. Klingt beeindruckend? Klingt beeindruckend! Kürzlich habe ich mir eine originale Blue Note Mono von Jimmy Smith aus dem Jahr 1961 gekauft (Jimmy Smith Vol. 3; BLP 1525). Hören Sie sich das an! Sie werden nie mehr bereuen, den Großmeister nicht live erlebt zu haben. Die Scheibe klingt über den totenstillen Phonoeingang des Anthem einfach herrlich: saftig, schnell, breitbandig – da fehlt nix. Jimmy Smith spielt hier nur für Sie und zieht sprichwörtlich alle Register! Der Anthem zieht ebenfalls alle Register, und zwar beim Bedienkomfort. So lässt sich die Lautstärke nicht nur am Gerät oder per Fernbedienung, sondern auch über eine RS-232-Schnittstelle steuern. Lässig. Und die Klangregler? Die sind hauptsächlich dafür da, mäßige Aufnahmen aufhübschen zu können. Sehr praktisch. In einem meiner Räume konnte ich damit zudem eine gewisse Bassüberhöhung ausgleichen – noch praktischer. Für Puristen sind die Klangregler natürlich auch abschaltbar. Wie bei der enormen Leistung des Anthem gilt auch in puncto Klangregler: nice to have. Und wie klingt er jetzt wirklich? Zunächst habe ich den Anthem mit meinen 98-dBHörnern gehört – das geht natürlich auch. Aber da wird die gebotene Leistung dann schnell zum Overkill. Das fühlt sich ein bisschen an wie Ferrari im Garten fahren. Doch wie es der redaktionelle Zufall so will (wieso Zufall? – Anm. CB), stehen seit einiger Zeit auch ein paar schmucke Focal Chorus 716 bei uns zum Hören und Staunen – und mit diesen Standlautsprechern habe ich nun schon viele Stunden Musik gehört. Wäre ich HiFi-Händler, würde ich diese Kombination liebend gerne im Dutzend verkaufen. Warum? Weil ich sie total stimmig finde. Weil sie zusammen keine 3000 Euro kostet. Und weil Sie sich für lange Zeit nichts anderes mehr kaufen müssten. Okay, das eine FIDELITY-MAGAZIN.DE [email protected] - www.testberichte.de Vollverstärker oder andere Quellgerät noch. Ach, das haben Sie schon? Perfekt. Ich habe beispielsweise meinen getunten Lenco, meinen gepimpten CD-Player, meinen Röhren-DAC und zwischendurch sogar mein gutes altes Tapedeck an den Integrierten angeschlossen – und alles hat gegroovt bis zum Abwinken. Kennen Sie Hakon Kornstad? Wenn Sie Saxofone, Loops und Stimme mögen und Ihnen vielleicht sogar noch Gato Barbieri und John Klemmer am Herz liegen – kaufen Sie sich Symphony In My Head (Jazzland 2786027/2011). So viel sinnliche Tiefe, Wildheit und Zärtlichkeit, solch stimmige melodische Improvisationen findet man selten in einem Solo-Album vereint. Der I225 reicht all das, was gerade gefragt ist, mit unaufdringlicher Lockerheit, unendlicher Sanftheit, mit brutaler Dynamik einfach durch, an welchen Lautsprecher auch immer. Er bringt mich dahin, wo ich am liebsten bin: in die bewertungsfreie Zone – frei von Gedanken an Equipment, an Röhren oder Transistoren, an Leistung oder Optik. Es spielt einfach nur Musik, und mehr kann ich mir von einer HiFi-Komponente kaum wünschen. Mit dem Anthem ist es wie mit Ihrem besten Freund: Sie wissen, dass Sie sich auf ihn verlassen können. Sollten Sie also demnächst mit dem Kauf eines klassischen, kräftigen und bestens ausgestatteten Vollverstärkers liebäugeln, packen Sie den Anthem I225 ganz nach oben auf Ihre Menü-Liste. Denn ganz nebenbei gehört er für mich auch zu den echten Trüffeln seiner Spezies. Anthem I225 Vollverstärker Leistung (8/4 Ω): 2 x 225/310 W Eingänge: 1 x Phono MM, 5 x Line In (Cinch), 1 x Line In symmetrisch (XLR) Ausgänge: 1 x Pre Out, 1 x Record Out (Cinch), 1 Paar Lautsprecher (Polklemmen) Besonderheiten: Fernbedienung, RS-232-Schnittstelle, 12-V-Trigger Ausführung: Schwarz Maße (B/H/T): 44/15/46 cm Gewicht: 19,4 kg Garantiezeit: 3 Jahre Preis: 1980 € Paradigm Audio Vertriebs GmbH Harderweg 1 22549 Hamburg Telefon 040 2785860 www.paradigm-audio.de [email protected] - www.testberichte.de
© Copyright 2024 ExpyDoc