Wie den ,Westen` verteidigen? - Alfred Herrhausen Gesellschaft

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Keynote der
Bundesministerin der Verteidigung
Dr. Ursula von der Leyen
„Wie den ,Westen‘ verteidigen?“
anlässlich der
„Denk-ich-an-Deutschland“-Konferenz
der Alfred Herrhausen Gesellschaft
und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
„Die Welt aus den Fugen –
Auf der Suche nach neuen Gewissheiten“
am 18. September 2015
im Atrium der Repräsentanz
der Deutschen Bank
in Berlin
Sehr geehrter Herr Matussek,
sehr geehrter Herr Kohler,
sehr geehrter Herr Achleitner,
sehr geehrter Herr Winkler,
meine Damen und Herren!
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Kaum jemand ist in der deutschen Literatur durch seine Schlaflosigkeit so populär
geworden wie Heinrich Heine. Doch Heine litt nachts sicher nicht an Liebeskummer.
Er litt auch nicht an der Angst, dass seine Welt aus den Fugen geraten sei. Sondern
er litt im Gegenteil daran, dass seine Welt fest gefügt war – zu fest gefügt. Und
dieses wunderbare Gedicht über seine Mutter, die alte Frau in Deutschland, endet
dann ja in einer Begeisterung für sein junges „Weib“, das ihn des Morgens
wachküsst, aus Frankreich kommend. Heines Leid war der erzkonservative
Gendarmerie-Staat; mit seiner Zensur, seiner Verfolgung der Demokraten, seinem
weithin geduldeten Antisemitismus. Heine wollte und hoffte, dass in seiner Zeit die
Fugen sich dehnen, dass Gewissheiten hinterfragt werden. Damit die Freiheit sich
Bahn brechen könnte.
Zu sagen, die Welt habe sich seitdem gewandelt, wäre eine grobe Untertreibung.
Schauen wir mit Heines Blick auf Deutschland, gibt es sicherlich keinen Grund mehr,
ängstlich wach zu liegen. Bundespräsident Gauck hat dies in seiner Rede auf der
Münchner Sicherheitskonferenz 2014 zum Ausdruck gebracht, als er sagte: „Dies ist
ein gutes Deutschland, das beste, das wir jemals hatten.“ Und das gute Deutschland
wird in diesen Tagen auf Herz und Nieren geprüft. Das beste Deutschland ist kein
Geschenk, das ewig währt. Heute dehnen sich unsere Fugen, und liebgewonnene
Gewissheiten drohen Ihre Gültigkeit zu verlieren. Die Schlagzeilen dazu lauten: Die
Annexion der Krim und die Aufkündigung der europäischen Sicherheitsarchitektur
durch den Kreml. Die Krise in der Ukraine und die Rückkehr des Krieges nach
Europa. Die neuen Dimensionen sicherheitspolitischer Bedrohungen durch Hybride
Kriegführung und Cyberangriffe. Der blutige Aufstieg des IS und die Metastasierung
des jihadistischen Terrors. Die Instabilität weiter Teile Afrikas und ein Europa, in dem
scheinbar mehr gezankt als gemeinsam gestaltet wird. Dann der dramatische
Anstieg der Flüchtlingsströme.
Und Sie haben die Schlagzeilen der letzten Tage gelesen: „Wir schaffen das!“
[unsere Bundeskanzlerin], „Deutschland schafft das nicht allein“ [der Außenminister],
„Wir schaffen es doch nicht“ [Stefan Cornelius in der SZ]. Und geht man diese
Schlagzeilen durch, können sie einem zumindest eine unruhige Nacht bescheren.
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Was steht eigentlich auf dem Spiel, meine Damen und Herren?
Eines haben wir hier im Raum gemeinsam: Wir sind alle fest verwurzelt in einer
offen, demokratischen Gesellschaft. Wir schätzen eine Welt voller dynamischer
Netzwerke zwischen Ländern, Wirtschaftssektoren und Gesellschaften. Wir
verlassen uns auf ein nie dagewesenes Maß an Mobilität. Güter sind überall und zu
jeder Zeit abrufbar. Wir genießen eine überwältigende Geschwindigkeit und Masse
an Informationen. In der Summe wissen wir, dass unsere Offenheit
Grundvoraussetzung für die Entwicklung unserer Gesellschaft ist.
Diese Möglichkeiten bergen aber auch Risiken in sich. Die größte Herausforderung
für unsere offene Gesellschaft in Krisen und Konflikten ist es, unter Druck nicht die
eigenen Prinzipien über Bord zu werfen. Ich höre so oft die kritischen Fragen: Ist die
Entscheidung der Bundesregierung auch vom Ende her gedacht? Ist es nicht
angesichts der nicht enden wollenden Flüchtlingsströme verlockend, gewissermaßen
einen Zaun um Europa zu ziehen – um den Strom zu stoppen? Ist es in der Eurokrise
nicht verführerisch, sich das Griechenlandproblem durch einen Grexit vom Hals zu
schaffen? Ist es nicht einfacher, die von Präsident Putin auf der Krim und in der
Ukraine geschaffenen Fakten zu akzeptieren und ihm seine Einflusszone
zuzubilligen? Immerhin sind die Ukraine und Georgien weder in der Europäischen
Union noch in der NATO. Nun, die Wahrheit ist, wenn wir so handeln würden, würden
wir nicht nur die Flüchtlinge, Griechenland und die Ukraine im Stich lassen, sondern
unsere wesentlichen Werte verraten und damit unsere offene Gesellschaft auf Spiel
setzen.
Nehmen wir die Flüchtlinge. Wir haben heute Bilder, von denen wir glaubten, dass
wir sie nie wieder in Europa sehen müssten. Ungarn – das 1989 als das erste Land
noch die Grenze aufgemacht hatte – schottet sich nun wieder ab und setzt
Wasserwerfer und Tränengas ein. Binnen 24 Stunden sind über 5000 Flüchtlinge
nach Kroatien eingereist, weitere 4000 werden in diesen Tagen erwartet. An der
deutsch-österreichischen Grenze stoppt die Bundespolizei 4600 Asylsuchende an
einem Tag. Am selben Tag verdoppelt sich in Deutschland die Zahl der illegal
eingereisten Flüchtlinge, auf fast 7300. Die Vereinten Nationen schätzen, dass seit
Jahresbeginn mehr als 300.000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa gelangt
sind; Tausende haben es nicht überlebt.
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Warum machen sich diese Menschen auf diesen Weg?
Weil ihr Leben von Terror, Krieg und Bürgerkrieg bedroht ist. Ich meine damit nicht
die Menschen aus den sicheren Herkunftsländern, sondern zum Beispiel jene aus
Syrien. Warum suchen die Flüchtlinge nicht Zuflucht in Russland oder China oder
den reichen arabischen Ländern? Sie wollen nach Europa, nach Kanada oder in die
USA, nach Australien oder Neuseeland, weil hier ihre Würde als Mensch geachtet
wird. Das ist – bei aller großen Belastung für uns – eine großartige Betätigung der
westlichen Werte.
Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, das steht eben nicht nur im
Grundgesetz, sondern auf genau diesem Pfeiler haben wir Europa gebaut. Und
deswegen muss für Europa gelten: Wer Asyl braucht, wird Schutz erhalten. Auch
dass wir jetzt vorübergehend Grenzkontrollen einführen, ist kein Bruch, sondern zeigt
nur, dass wir ernsthaft nach Wegen suchen, diesem Anspruch gerecht zu werden.
Die unbedingte Achtung der Würde des Menschen – das ist es doch, was uns im
Westen im Kern stark gemacht hat und uns zusammenhält. Wie schwer das
tatschlich zu leben ist, wenn die Probleme akut werden, zeigt uns das Ringen der
Europäer um eine gemeinsame Linie in der Asylpolitik. Aber die Richtung, in die wir
uns jetzt bewegen, ist die richtige; nämlich dass wir zu unseren Prinzipien stehen und
gemeinsam Lösungen erarbeiten.
Die Entscheidungen sind weitreichend – für uns, aber auch für die anderen
Europäer. Viele Länder haben seit dem Fall des Eisernen Vorhangs einiges auf sich
genommen, um sich der EU anzuschließen. Sie haben gekämpft, weil sie eine
Gemeinschaft erreichen wollten, in der die Werte Freiheit, Frieden und freie
Entfaltung zählen. Mit denselben Motiven kommen heute viele Flüchtlinge nach
Europa. Unabhängig davon, ob sie auf Dauer bleiben wollen oder können: Diese
Menschen haben das Recht, menschenwürdig behandelt zu werden. Und zwar in
jedem der europäischen Mitgliedsländer.
Damit das auch klar wird: Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass es einer
gewaltigen Integrationsleistung bedarf – für uns und für die Flüchtlinge. Wir werden
auf diesem Weg Frustration erleben, wir werden Skepsis erleben, es wird gewiss
auch Rückschläge geben. Wir werden viel investieren müssen in ihre Bildung,
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Sprache, Arbeitsfähigkeit. Wir werden gut darauf achten müssen, dass kein Zweifel
besteht, dass bei unserem Zusammenleben hier unsere Regeln für alle gelten. Aber
ich bin fest davon überzeugt – wenn wir es richtig machen –, dass wir, wenn wir in 20
Jahren einmal zurückblicken, sagen werden: Dies war eine enorme Bereicherung für
unsere offene Gesellschaft, übrigens gerade für unsere alternde Gesellschaft; für die
Offenheit unserer Gesellschaft. Dies kann ein großer Gewinn für den Arbeits- und
insbesondere Ausbildungsmarkt sein, der jetzt ja schon verzweifelt nach jungen
Menschen sucht. Wenn wir es richtig machen, werden diese Zeiten zum lebendigen
Beweis werden, wozu offene, demokratische Gesellschaften fähig sind.
Wer es in der globalisierten Welt nicht schafft, Offenheit zu üben, sondern
weitgehend den Blick nach innen oder rückwärts richtet, der droht in allzu festen
Fugen zu erstarren und im Sog der Selbstbeschäftigung zu versteinern; der verliert
den Blick und die Kraft für Neues. Lassen Sie uns nur den Blick nach Russland
werfen. Wenn wir ehrlich sind: Vor zwei Jahren hätte doch keiner von uns mehr
geglaubt, dass nach dem Fall der Mauer in Europa Grenzen noch in Frage gestellt
und gewaltsam verschoben werden. Tatsache ist, dass Russland uns auf vielfältige
Weise in unserer Offenheit herausfordert. Den Wettbewerb um die Attraktivität des
Systems hat der Kreml allerdings schon verloren. Denn die Stärke der offenen, einer
demokratischen Gesellschaft ist ihre Überzeugungskraft und ihre Anziehungskraft.
Warum haben sich denn die baltischen Länder und Polen der Europäischen Union
angeschlossen? Warum haben denn Georgien oder die Ukraine versucht, sich dem
Westen zuzuneigen? Sie sind doch nicht dazu gezwungen worden! Im Gegenteil.
Sie haben das aus freien Stücken getan, weil die Unveräußerlichkeit der
Menschenrechte, die Gewaltenteilung, die Demokratie, der freie Handel, die freie
Entfaltung der Persönlichkeit, die Unbestechlichkeit des Rechtsstaates so anziehend
sind. Und die beiden Letztgenannten, Georgen und die Ukraine, mussten das
bezahlen mit dem Verlust ihrer Integrität.
Auch in Russland selbst ist die offene Gesellschaft letztlich des Kremls gefährlichster
Gegner. Und so verliert er in der Bevölkerung genau das Segment, dass er eigentlich
für die Modernisierung der Gesellschaft dringend bräuchte: nämlich diejenigen, die
weltoffen sind, die den Wettbewerb des besseren Gedankens suchen, die auf der
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Suche nach neuen Ufern sind. Und das erklärt auch, warum wir in diesem Konflikt
auf eine hybride Kriegsführung nicht mit hybriden Kriegselementen antworten,
sondern mit Sanktionen.
Und warum sind die Sanktionen wirksam? Weil Russland in einem unlösbaren
Dilemma steckt. Russland hat in der letzten Dekade gewaltige Überschüsse durch
seine Energieexporte erzielt. Russland hätte in dieser Zeit seine Wirtschaft
modernisieren und vor allem diversifizieren müssen. Das hätte aber bedeutet:
Investitionen von außen zulassen, Investoren, die darauf pochen, dass der
Rechtsstaat verlässlich ist und eingehalten wird, junge Menschen zum Austausch in
die Welt schicken, andere wieder hereinlassen, neue Ideen in das Land
hineinbringen. Genau das hätte aber bedeutet, dass westliche Einflüsse zugelassen
worden wären, mit allen „Risiken“: Fragen und Kritik, Forderung nach mehr Freiheit,
Transparenz… Das ist nicht oder zumindest nicht zur Genüge geschehen.
Die Folge ist eine russische Wirtschaft, die in hohem Maße abhängig ist von
Importen und Energieüberschüssen durch den Energieexport. Jetzt sinkt der Ölpreis,
die Einnahmen bleiben aus, die Sanktionen wirken. Und so zeigt sich, dass die
Vernetzung unserer Welt unumkehrbar und vor allem unteilbar ist. Man kann nicht in
der Ukraine die Regeln brechen und mit dem Rest der Welt business as usual
machen.
Über die kleinen grünen Männchen in der Ostukraine ist viel geschrieben worden.
Neu ist in diesem hybriden Krieg, wie der Kreml seine strategische Kommunikation
hochprofessionell in den neuen Medien verbreitet, um die öffentliche Meinung in
Europa zu beeinflussen. Gerade in den baltischen Ländern ist zu beobachten,
wie präzise in die russischsprachige Gesellschaft hineingewirkt wird. Dasselbe
geschieht bei uns, das können wir jeden Tag beobachten in Blogs, Kommentaren
und sozialen Medien. Absurderweise sind das genau jene Plattformen, die ja
geradezu das Symbol der freien Meinungsäußerung und der freien Presse sind.
Der Kreml – und übrigens auch der IS – benutzen somit genau das, was sie der
eigenen Bevölkerung vorenthalten. Und hier kann und muss die Stärke der offenen
Gesellschaft ansetzen. Aber gerade nicht durch Gegenpropaganda. Das ist nicht das
Mittel, das zu einer offenen Gesellschaft gehört.
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Die offene Gesellschaft hat die freie Presse; sie hat die freie Meinung, die hinterfragt,
die kontrovers diskutiert, enthüllt. Sie lebt eine Diskussions-Kultur, die die Argumente
dreht und wendet und damit schärft, sie gegeneinanderstellt und damit abklopft auf
ihre Validität. Sie hat eine heterogene, vielfältige Presselandschaft. Und es ist genau
diese Stärke, der freien Meinungsäußerung, der lebendigen Diskussionskultur, der
freien Presse, die die Kraft hat, Propaganda dann als solche zu enttarnen.
Auch über den IS und seinen brutalen Krieg in Syrien und im Irak ist viel geschrieben
worden. Wir tun in der breiten Allianz viel, um ihn zu stoppen und hoffentlich
zurückschlagen zu können. Und wir müssen dort in aufeinander aufbauenden
Schritten vorgehen – wissend, dass sich dort auch die Frage nach den
Fluchtursachen beantwortet.
Sie beantwortet sich aber genauso in den Flüchtlingslagern: zwei Millionen
Menschen in der Türkei, anderthalb Millionen Menschen im Libanon, anderthalb
Millionen in Jordanien. Für diese Menschen hatten das World Food Programme und
der UNHCR noch vor einigen Monaten pro Flüchtling pro Monat etwa 28 Dollar zur
Verfügung. Die Mittel dieser beiden Hilfsorganisationen sind aber so knapp
geworden, dass sie heute nur noch 13,50 Dollar pro Flüchtling pro Monat haben.
Umgehend muss also auch in diesen Flüchtlingscamps geholfen werden – eine
Aufgabe, die uns alle angeht.
Selbstverständlich geht es auch darum, in Syrien und im Irak einen politischen
Rahmen zu schaffen, mit den umgebenden beteiligten Kräfte der Region einen
Minimalkonsens zu vereinbaren: Wen unterstützen wir, und wen bekämpfen wir? Das
ist zwingend nötig, bevor man mit den notwendigen Mitteln in Syrien und im Irak
operativ tätig werden würde.
Hätte man vorher nicht den politischen Konsens, dann würde man immer die
Falschen treffen – in einem Land, in dem Hunderte verschiedene Gruppen
gegeneinander kämpfen; man würde zwischen die Mühlsteine des Assad-Regimes
und des IS geraten. Insofern ist große Hoffnung und Erwartung auf den Gipfel der
Vereinten Nationen Ende September gerichtet: Dass hier dieser Konsens erreicht
wird und dann auch die weiteren Schritte gegangen werden können.
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Der IS ist aber noch viel breiter tätig. Denn was uns die Attentate von Paris, Ottawa
und Tunesien gezeigt haben, ist, dass es dem IS auch und vor allem darum geht,
unsere Gesellschaft in ihrer Offenheit und in ihrer Pluralität zu treffen. Deshalb ist
auch unsere Solidarität mit Charlie Hebdo so wichtig gewesen. Oder die
Unterstützung der jungen verletzlichen Demokratie in Tunesien; einer Demokratie,
wo Muslime den Mut haben, sich gegen den Absolutheitsanspruch des IS zu stellen,
wo eine muslimische Partei den Mut hat, Teil einer jungen demokratischen
Regierung zu sein.
Insofern ist es klug und richtig, was mir der jordanische König Abdullah vor kurzem
gesagt hat: „Dies ist nicht euer Kampf, das ist unser Kampf. Wir müssen dafür
sorgen, dass wir den richtigen Islam definieren. Wir müssen dafür sorgen, dass wir
unsere Identität wiederbekommen. Der Westen kann helfen, aber wir müssen diesen
Kampf führen.“ Und wenn der jordanische König das sagt, dann tut er das auch für
einen Islam der Toleranz.
Wenn wir uns heute diese Frage stellen über die offene Gesellschaft in Deutschland:
Führen oder folgen? Dann geht es um alle diese Aspekte und Themen. Dann geht es
eben nicht nur um Europa, sondern es geht um den Westen. Europa wird
durchgeschüttelt von allen drei Krisen gleichzeitig: Flüchtlinge, Ukraine, IS. Allein 730
foreign fighters sind aus Deutschland im Augenblick im Kampf des IS gegen den
Westen und gegen die muslimisch-arabische Welt unterwegs.
Gleichzeitig ist die Eurokrise noch nicht bewältigt. Um hier zu bestehen, braucht
Europa zuvorderst Einigkeit und Solidarität. Griechenland in der Eurozone zu halten,
ist somit mehr eine Frage des politischen Imperativs als ein rein ökonomisches
Kalkül. Griechenland hält gerade mal zwei Prozent des europäischen
Bruttoinlandproduktes – man ist fast versucht zu sagen: une quantité négligeable.
Aber es ist eben weit mehr als das.
Es geht um die Fähigkeit Europas, seine Probleme gemeinsam zu lösen. Eigentlich
sind wir dieser Tage wieder bei der Diskussion um den Wesenskern Europas
angelangt. Ich bin vor ein paar Tagen von einem kanadischen Industriellen nach
einer langen, intensiven Diskussion gefragt worden: „Was ist eigentlich Europa?“
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Mir sind die Worte von Jean Monnet wieder eingefallen, der gesagt hat: „Europa ist
ein Beitrag zu einer besseren Welt.“ Ein Satz, der nichts von seiner Aktualität
verloren hat. Er bedeutet auch, dass die Idee von Europa ist, gemeinsam Probleme
zu meistern, die kein Mitgliedsstaat alleine bewältigen kann.
Das alles verlangt viel von Deutschland – auch Führung. Es verlangt das ständige
Bemühen, die anderen zu überzeugen und mitzunehmen. Nicht aus Prinzip
vorneweg zu stürmen oder verschämt zurückzubleiben, sondern mit dem Anspruch,
aus der Mitte zu führen – und den Sinn, die Werte und die Relevanz Europas
voranzubringen. Dies begründet sowohl unsere Ukrainepolitik wie unser Engagement
bei den Flüchtlingen, in der Eurozone und im Kampf gegen den IS. Führen aus der
Mitte ist keine Vision mehr, es ist inzwischen eine Ist-Beschreibung geworden.
Führen aus der Mitte ist keine Frage mehr des Ob, sondern des Wie.
Wenn es uns gelingt, die Eurozone zu modernisieren in all seinen Facetten,
einschließlich Griechenlands.
Wenn die Integration von Flüchtlingen nicht zur Zerreißprobe wird, sondern zu einem
Gewinn für beide Seiten.
Wenn wir uns durch Terror nicht einschüchtern und durch Propaganda nichts
einreden lassen, sondern Resilienz entwickeln.
Wenn die unteilbare Menschenwürde unser Maßstab bleibt und die offene,
demokratische Gesellschaft unser Zuhause;
dann bin ich – denk ich an Deutschland in der Nacht – nicht mehr um meinen Schlaf
gebracht.