M 01.09.54 Umwandlungsantrag von Kurzzeit- auf Langzeittherapie 0. Angaben zur Person Zu Beginn der Therapie ist der Patient 49 Jahre alt. Von Beruf ist er Abteilungsleiter in einer Chemiefabrik (erlernter Beruf: Diplom-Chemiker). Herr M. ist geschieden und hat einen Sohn (12 Jahre alt) und eine Tochter (9 Jahre alt). 1. Spontan erfragte und berichtete Symptomatik Der Patient klagt zu Beginn über Minderwertigkeitsgefühle, depressive Gefühle, phobische Ängste und Angstattacken. Zudem habe er starke Selbstzweifel und Selbsthaß. Er fühle sich minderwertig ("ich bin nichts mehr wert, ich kann nichts, ich habe mir mein ganzes Leben etwas vorgemacht"). Seine Selbstunsicherheit versuche er beispielsweise durch überstarke berufliche Leistungen zu überdecken ("ich muß es allen beweisen, daß ich leistungsfähig und kein Dummkopf bin"). Oft ziehe er sich auch vor anderen Menschen zurück ("ich kann die Nähe anderer kaum noch ertragen und möchte nur noch für mich sein"). Auch werde er dann oftmals aggressiv, wenn er "den Menschen nicht entfliehen" könne. Ferner leide er unter Freudlosigkeit, Kontaktschwierigkeiten, Aggressivität, innerer Leere und Schüchternheit. An somatischen Symptomen berichtet der Patient über Erschöpfungszustände, feuchte Hände, Gedächtnisstörungen, Anspannung, Durchfall, Ein- und Durchschlafstörungen, Bauchschmerzen, Druckgefühl auf der Brust und Herzrasen. Am stärksten belasten würden ihn seine zunehmende körperliche Erschöpftheit. Die aktuelle Problematik bestehe nun seit ca. vor 10 Jahren. Der Patient komme auf eigenen Wunsch in die Therapie. 2. Lebensgeschichtliche Entwicklung und Krankheitsanamnese Die Mutter (1938 geboren, von Beruf Putzfrau) wird vom Patienten als depressiv, gutmütig, konfliktvermeidend und schüchtern charakterisiert. Die Mutter sei im Gegensatz zum Vater sehr zurückhaltend. Sie sei das "Rückzugsgebiet" des Patienten gewesen, wenn der Vater "einmal wieder besoffen nach Hause gekommen und gewalttätig geworden sei". Den Vater (1928 geboren, von Beruf Maurer) beschreibt der Patient als dominant, ehrgeizig, gewalttätig und cholerisch. Den Vater charakterisiert der Patient als einen Menschen, der immer versucht habe, erfolgreich zu sein. Hierfür sei er "über Leichen" gegangen. Er sei zudem sehr jähzornig und distanziert gewesen, was der Patient oftmals im Umgang mit ihm sehr verunsichert habe. Auch ihm gegenüber habe der Patient immer versucht, möglichst unterwürfig zu sein um ihm zu gefallen. Trotzdem habe er der Patient und seine Geschwister in der Kindheit oftmals verprügelt. Die Atmosphäre im Elternhaus charakterisiert der Patient als streng und leistungsorientiert. Beide Elternteile hätten schon immer hohe Erwartungen an den Patienten gestellt, seit er ein Kind gewesen sei. Diesen Erwartungen habe er nie entsprechen können, was die Eltern oftmals sehr enttäuscht hätte. Dies hätte er ihm offen gezeigt. Überhaupt habe er seine Achtung nur durch Leistung, Korrektheit und Pünktlichkeit erhalten können. Der Patient hat keine Geschwister. Seine Kindheit beschreibt er als geprägt von Stottern, Nägelkauen und ins Bett machen. Er habe in der Kindheit immer schon die Angst gehabt, anderen Menschen nicht zu gefallen. Seinen Mitschülern gegenüber habe er sich immer unterlegen gefühlt. Seine einzige "Waffe" sei es gewesen, möglichst gut in der Schule zu sein. Hierdurch habe er aber zugleich als Streber gegolten. Zudem sei er der Klassenclown gewesen, da er "nur so die Achtung der Mitschüler erhalten" konnte. Erwähnenswert ist noch, daß der Patient bis zu einem Alter von ungefähr 8 Jahren eingenässt habe. Auch habe er noch lange Zeit gestottert. Bereits in seiner Schul- und Ausbildungszeit sei Herr M. ein unbeliebter Mitschüler und Außenseiter gewesen. Um seinen Eltern, insbesondere seinem Vater, zu gefallen, habe er während seiner Ausbildungszeit "immer alles daran gesetzt, möglichst der Beste zu sein". Sein Vater habe ihn nur dann gelobt und nicht als "Versager tituliert, wie er es sonst immer tat". Dies sei auch heute noch so. In seinem beruflichen Umfeld sei er auch heute ein Außenseiter. Nach dem Erreichen der Fachhochschulreife 1980 habe der Patient eine betriebliche Ausbildung zum Diplom-Chemiker absolviert. Seite - 1- M 01.09.54 In diesem Beruf sei er auch heute noch tätig, sei jedoch mit dieser Tätigkeit unzufrieden. Auf der Arbeit fühle er sich immer von den Kollegen bewertet und beobachtet, was ihn stark unter Druck setze. Da er als Vorgesetzter für ca. 40 Mitarbeiter verantwortlich sei, könne er sich keine Schwäche erlauben. Er bleibe auch immer am längsten in der Firma "da man als Führungsperson am meisten leisten muß, wenn man in meinem Alter nicht abgesägt werden will". Der Patient ist seit 1999 geschieden (kennen gelernt: 1974; Heirat: 1976). Seine Ex-Ehefrau (45 Jahre alt und von Beruf Diplom-Chemikerin) charakterisiert er als ruhig, vertrauensvoll und zurückgezogen. Der Patient beschreibt seine Ehe als sehr schlecht. Die Partnerin habe ihn verlassen, als der pflegebedürftige Vater in die gemeinsame Wohnung eingezogen sei. Die Beziehung sei jedoch schon "Jahre vorher" zunehmend schlechter geworden. Man habe sich am Schluß "gar nichts mehr zu sagen" gehabt. Gegenwärtig nimmt der Patient Antidepressiva (Saroten) zur Behandlung seiner psychischen Beschwerden ein. 3. Psychischer Befund zum Zeitpunkt der Antragstellung Der groß gewachsene und sehr schmächtige Patient erscheint im ersten Gespräch von der äußeren Erscheinung her sehr gepflegt. Im therapeutischen Gespräch zeigt Herr M. ein seinem Bildungsstand entsprechend gutes Intelligenzniveau, eine gute Auffassungsgabe und eine eingeschränkte emotionale Schwingungsfähigkeit. Die verbale Ausdrucks- und Verständnisfähigkeit kann als sehr gut bezeichnet werden. Im therapeutischen Gespräch wird die geringe Selbstsicherheit des Patienten, welche er durch ein deutlich aufgesetztes "selbstsicheres" Verhalten zu überdecken sucht, schnell deutlich. Nachdem er ein erstes Vertrauen zum Therapeuten gefaßt hat, gibt er sich zunehmend offener und läßt seine "Fassade" fallen. 4. Somatischer Befund Siehe Konsiliarbericht 5. Verhaltensanalyse Aufbauend auf den familiären Lernbedingungen erlernte der Patient im Laufe seines weiteren Lebens die Systemregel, daß er nur bestehen und akzeptiert werden kann, wenn er überdurchschnittlich hohe Leistungen zeigt. Dieses Prinzip habe er schon in der Schule und insbesondere seit seiner Ausbildungszeit verfolgt, wo er immer der Klassen- bzw. Ausbildungsbeste gewesen sei. Nur hierdurch habe er die Achtung seiner Eltern erhalten können. SD Plus: Zu einer Verstärkung des Problemverhaltens komme es immer dann, wenn der Patient sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sehe und er dann "sofort und automatisch versuche die Situation zu meistern". SD Minus: Zu einer Verringerung des Problemverhaltens kommt es hingegen dann, wenn der Patient sich nicht bewertet und beobachtet fühlt (nur bei sehr guten Freunden). Organismusvariable: keine O-Variable eruierbar UCS: Aufgrund eines beruflichen Aufstiegs zum Posten des Abteilungsleiters mit entsprechender Verantwortung fühle er sich zunehmend überlastet. Weiterhin müsse er sich seit ca. 3 Jahren um den pflegebedürftigen Vater kümmern. CS: Situationen, in welchen der Patient sich minderwertig fühlt bzw. sich den Anforderungen nicht gewachsen fühlt (hauptsächlich berufliche Anforderungen, aber auch Anforderungen seitens des Bekanntenkreises; "Schwächen werden nicht toleriert"). UCR: Seite - 2- M 01.09.54 Verhalten: Unmittelbar nach der beruflichen Beförderung habe er sich einem Konkurrenzkampf ausgesetzt gefühlt und damit begonnen, besonders auf sein Auftreten und seine Arbeitsleistung zu achten. Kognition: "Nur wenn ich beste Leistungen bringe, ist mein Chef mit mir zufrieden und akzeptieren mich die Mitarbeiter". Physiologie: hohe körperliche Anspannung Emotion: starke Angst, seine neue Anstellung nicht behalten zu können CR: Verhalten: Versuch, möglichst "kompetent und wissend" zu erscheinen. Hierdurch hoher Leistungsdruck. Kognition: Sofort fühle er sich unter Druck, er müsse "Bestleistungen" bringen. Gleichzeitig starke Selbstabwertung, "wenn ich das Gefühl bekomme, die anderen haben etwas an meinem Verhalten auszusetzen". Physiologie: siehe oben Emotion: Angstzustände, Zunehmende depressive Verstimmung, Gefühle der Überforderung Kontingenzen: Immer wenn der Patient sich in Situationen bewertet fühlt, reagiert er mit großer Aktivität und dem Versuch, "als Macher darzustehen". C langfristig: Langfristig jedoch wird das Problemverhalten hierdurch jedoch aufrecht erhalten und sogar verstärkt, da sich der Patient fortgesetzt selbst massiv unter Druck setzt. C kurzfristig: Kurzfristig führt das Problemverhalten zu einem Abbau der Angst, negativ bewertet zu werden. 6. Diagnose Nach ICD-10: Hauptdiagnose: Erschöpfungsdepression (F32.9) Zusatzdiagnose: Selbstunsichere Persönlichkeitsstruktur (F69) 7. Therapieziele und Prognose * Der Patient weist stark dysfunktionale Kognitionen beispielsweise dahingehend auf, daß er ein stark dysfunktionales Selbstbild zeigt und auch die antizipierte Bewertung seiner Person durch andere Menschen stark verzerrt ist. So sieht er sich z. B. nur als wertvoll an, wenn er Leistungen erbringt. Er sieht sich sofort in der Defensive und "als Verlierer durchschaut", wenn er "das Handlungskonzept" aus der Hand gibt. Es ist hier also notwendig, mit dem Patienten diese Schemata zu hinterfragen und eine angemessene Bewertung der eigenen Person, eine differenziertere Sichtweise der möglichen Bewertungen durch andere sowie eine Aufweichung des dysfunktionalen Leistungsschema zu erreichen. Ferner soll auch das hohe Verantwortungsbewußtsein, daß der Patient seinem pflegebedürftigen Vater gegenüber zeigt, und welches ihn dazu zwingt, sich durch die alleinige Pflege des Vaters noch zusätzlich aufzureiben, hinterfragt und korrigiert werden. Letztendlich soll der Patient hierdurch auch dazu ermutigt werden, sich durch die Inanspruchnahme einer externen Pflegehilfe Entlastung zu verschaffen. * Weiterhin ist es bei dem Patienten notwendig, seine sozialen Kompetenzen zu verbessern. Oftmals vermag er sein Selbstbild nur durch "möglichst offensives und von Leistung geprägtes Handeln" aufrechtzuerhalten bzw. seine Angst vor Abwertung durch seine Umwelt hierdurch zu kontrollieren. Mittels sozialer Kompetenztrainings soll hingegen ein Ausbau angemessener Verhaltensweisen erreicht werden. Gedacht wird hierbei etwa an Elemente des ATP nach ULLRICH & ULLRICH DEMUYNCK, Selbstsicherheitstrainings (MEICHENBAUM), etc. * Auch ist es sinnvoll, mit dem Patienten im Rahmen des in einer VT möglichen, Entspannungsverfahren einzuüben, bzw. ihn zum Erlernen eines solchen Verfahren zu ermutigen, da er eine zu hohe Grundanspannung und starke somatische Anspannungssymptome zeigt. Gedacht wird hierbei je nach therapeutischer Ansprechbarkeit an PMR nach JACOBSON oder AT nach SCHULZ. * Ferner ist es sehr sinnvoll, dem Patienten einen besseren Zugang zu seinen eigenen Emotionen zu verschaffen sowie seine emotionale Ausdrucksfähigkeit zu verbessern. Bisher ist der Patient nur in der Seite - 3- M 01.09.54 Lage, Gefühle wie Angst, Anspannung oder Wut zu verspüren. Angenehme Gefühle versagt er sich vollkommen. Gedacht wird in diesem Zusammenhang z. B. an Verfahren in Anlehnung an RAMSAY. Weiterhin können in diesem Bereich auch Techniken wie beispielsweise Genußtrainings eingesetzt werden. Bisher wurden mit dem Patienten 48 reguläre Sitzungen (inklusive 5 probatorischer Sitzungen) durchgeführt. Der Patient zeigt einen ausgeprägten Leidensdruck. Seine Compliance kann als zufriedenstellend bezeichnet werden. Insgesamt zeigt der Patient bereits deutliche Schritte in der Verbesserung seiner Symptomatik. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist natürlich noch bei weitem kein stabiles psychisches Funktionsniveau erreicht. Es ist deshalb dringend notwendig, die Therapie weiterzuführen. Gegen Ende des Behandlungskontingentes soll die Behandlungsfrequenz hierbei ausschleichend gestaltet werden. Es kann somit von einer zufriedenstellenden Prognose für die hiermit beantragten weiteren 20 Therapiestunden ausgegangen werden. Die Behandlung soll dabei ca. einmal pro Woche und gegen Ende der Therapie entsprechend eines ausschleichenden Therapiesettings in größeren Abständen erfolgen. Es soll jedoch bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß eventuell eine Verlängerung der Therapie über das beantragte Stundenkontingent hinaus notwendig werden wird. 8. Behandlungsplan Folgende verhaltenstherapeutische Methoden wurden bereits eingesetzt oder sollen noch zum Einsatz kommen: * RET (ELLIS) zur Aufdeckung und Modifikation der unangemessenen Systemregeln (Leistungsdenken, dysfunktionales Verantwortungsbewußtsein dem Vater gegenüber "man muß für die Familie da sein") und Selbstattributionen sowie Streß-Impfungs-Training (MEICHENBAUM) zum Abbau der Streßreaktionen (Angstattacken, somatische Beschwerden) im Beruf. * Selbstsicherheitstraining (MEICHENBAUM) zur Verbesserung einer angemessenen sozialen Interaktionsfähigkeit und Rollenspiele zum Aufbau kompetenten Verhaltens in spezifischen Konfliktsituationen. * PMR (nach JACOBSON) oder AT (nach SCHULZ) zur Verringerung der körperlichen Anspannungssymptome sowie der zu hohen Grundanspannung des Patienten. * Emotionstrainings zur Steigerung der emotionalen Ausdrucksfähigkeit. 9. Zur Umwandlung Bisher konnten durch den Einsatz der genannten Verfahren die folgenden Veränderungen erreicht werden: * Durch den Einsatz der Streß-Impfungs-Trainings zeigt sich der Patient in beruflichen Belastungssituationen zunehmend sicherer. Er attribuiert zwar die Reaktionen der Kollegen oftmals noch immer direkt auf sich, vermag hierbei jedoch zunehmend "sich unter Kontrolle zu halten" und nicht wieder sofort in "Hektik, Angst und depressive Selbstabwertung" zu verfallen. Vielmehr versucht er langsam, die Situation zuerst zu analysieren und dann angemessen darauf zu reagieren. * Durch den Einsatz kognitiver Methoden beginnt der Patient langsam, seine introjezierten Systemregeln zu hinterfragen. Er erkennt auch allmählich den Zusammenhang zwischen seinem jetzigen Verhalten und den aus seinem Elternhaus erlernten Verhaltensnormen ("immer nur Leistung zeigen"). * Durch das Erlernen von Entspannungsverfahren konnten auch viele der Anspannungssymptome des Patienten bereits spürbar verringert werden. So vermag er inzwischen meistens durchzuschlafen, hat in Frequenz und Stärke seltener Angstattacken und berichtet von einem insgesamt verbesserten Körpergefühl. * Auch seine emotionale Ausdrucksfähigkeit hat sich in den letzten Therapiestunden spürbar verbessert. Obwohl diese Fähigkeit bei dem Patienten im Vergleich zum "Normalmaß" noch stark eingeschränkt ist, beginnt er langsam, "Gefühle, die nicht Angst und Anspannung sind, überhaupt erst zu spüren und zuzulassen". * Ebenso konnte durch die übenden Verfahren wie z. B. Selbstsicherheitstrainings oder Rollenspiele bereits eine deutliche Steigerung der Selbstsicherheit und Ruhe des Patienten im Umgang mit seinen Mitarbeitern erreicht werden. Zudem beginnt der Patient in ersten Ansätzen (gegenwärtig nur in "ungefährlichen Situationen") alternative Verhaltensweisen anstelle eines "den Führer spielen" Seite - 4- M 01.09.54 anzuwenden. Hierdurch konnte er auch schon erste Erfahrungen dahingehend machen, daß er nicht automatisch abgewertet und "für einen Verlierer gehalten" wird, wenn er einmal nicht "die erste Geige spielt". Demogutachten DiagnoPro Dipl.-Psych. R. Hartmann Rheindorfer Straße 55 D-53225 Bonn Seite - 5-
© Copyright 2024 ExpyDoc