der massnahmenvollzug nach artikel 59 des strafgesetzbuchs

ZU WENIGE PLÄTZE, ZU VIELE VERURTEILTE?
DER MASSNAHMENVOLLZUG NACH ARTIKEL 59 DES
STRAFGESETZBUCHS
Die SAZ-Fachtagung 2015 der Leitenden der kantonalen Vollzugsbehörden
Der Artikel 59 des Strafgesetzbuchs (StGB) sieht für kranke Straftäter und Straftäterinnen eine Son­
derbehandlung vor. Es umfasst also ein dualistisches Sanktionssystem: einerseits Freiheits­strafen,
andererseits Therapien und die Verwahrung. Verkürzt lautet Artikel 59: «Ist der Täter psychisch
schwer gestört, so kann das Gericht eine stationäre Behandlung anordnen», wenn dadurch die «Ge­
fahr weiterer mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang stehender Taten» gebannt werde.
Die Therapiemassnahmen haben zum Ziel, den Delinquenten zum Schutz der Gesellschaft vor weite­
ren Straftaten abzuhalten.
Doch mit dem Artikel 59 ist eine Reihe von Problemen verbunden. Für die Verurteilten stehen zu
wenig geeignete Plätze zur Verfügung, die Zahl der Verurteilten steigt an, Kritiker monieren, der
Artikel fördere die Psychiatrisierung der Justiz, die Richterinnen und Richter würden also ins zweite
Glied zurückgedrängt, und das mit diesem Artikel verbundene Präventionsstrafrecht tendiere dazu,
Menschen nicht für ihre begangenen Taten, sondern für zukünftige zu verurteilen.
Diesem Fragekomplex, der mit dem Artikel 59 verbunden ist, widmete sich die diesjährige Fach­
tagung der Leiterinnen und Leiter der kantonalen Vollzugsbehörden, die das SAZ am 5. Juni in
Murten durchführte (eine Woche zuvor hatte der gleiche Anlass für die Mitarbeiterinnen und Mit­
arbeiter der Vollzugsbehörden stattgefunden). Adrian Jent, Strafgerichtspräsident im Kanton BaselLandschaft, störte sich daran, dass schuldunfähige Täter oft für längere Zeit in Untersuchungs­
gefängnissen und somit falsch platziert würden und die Massnahme zu spät antreten könnten.
Gerichtliche Entscheide müssten zielstrebig und verzögerungsfrei vollzogen werden. Die Kantone
seien verpflichtet, die für den Massnahmenvollzug erforderlichen Einrichtungen bereitzustellen und
damit für genügend Vollzugsplätze zu sorgen.
Die Richter, betonte Jent, agierten in einem engen Rahmen. Auch wenn sie das Urteil fällten, seien sie
an die gesetzlichen Voraussetzungen der Anordnung und an die psychiatrischen Gutachten gebun­
den, die kritisch zu hinterfragen seien. Wenn diese formell korrekt und inhaltlich überzeugend vor­
lägen und alle gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt seien, dann müsse der Richter eine Massnahme
gemäss Artikel 59 anordnen.
Der Strafrechtsexperte Benjamin Brägger, Lehrbeauftragter an mehreren Hochschulen sowie am SAZ,
wies nicht nur auf die fehlenden Klinikplätze für verurteilte Delinquenten hin, sondern auch darauf,
dass diverse Einrichtungen, in denen diese untergebracht seien, die Trennungsvorschriften nicht ein­
hielten. Dabei seien psychisch gestörte Straftäter laut Gesetz in einer «geeigneten psychiatrischen
Einrichtung» zu internieren, in einer für sie eingerichteten Massnahmenvollzugseinrichtung oder, bei
Fluchtgefahr, in einer geschlossenen Strafanstalt, sofern dort die Möglichkeit einer therapeutischen
Behandlung bestehe. Tatsächlich würden manche «59-er» aber auch schlicht aufgrund des Platz­
mangels in Strafanstalten eingewiesen.
Avenue Beauregard 11, CH-1700 Freiburg, T +41 (0)26 425 44 00, F +41 (0)26 425 44 01, [email protected], www.prison.ch
Gemäss Gesetz müssten jedoch psychisch gestörte Straftäter im Massnahmenvollzug konsequent von
anderen Straftätern getrennt werden, hielt Brägger fest. Ein ambulantes Setting für einen «59-er»
sei nicht zulässig. Insgesamt fehlten ungefähr 400 geschlossene Plätze. In der Westschweiz gebe es
keine einzige geeignete Anstalt für die 59-er-Klientel. Zudem fehlten qualifizierte Therapeuten, und
trotz Fortschritten in der Therapie erhielten Verurteilte oft keine Vollzugslockerungen.
Dorothee Klecha, Chefärztin des forensisch-psychiatrischen Diensts der Universität Bern, teilte diese
Perspektive. Sie fokussierte auf den Massnahmenvollzug an Patienten mit schweren psychischen
Erkrankungen im engeren Sinn, namentlich aus dem «schizophrenen Formenkreis». Im Kanton Bern
hätten 2013 von allen nach Artikel 59 Verurteilten – insgesamt 117 Fälle – mehr als die Hälfte zu
diesem Kreis der psychiatrisch Erkrankten gehört. Diese Personen sollten in Kliniken und Wohn­
heimen platziert werden, sie gehörten nicht in eine Institution des Justizvollzugs. Diese sei keine
Klinik. Nach Klecha fehlen rund 200 forensische Klinikplätze. Die verurteilten Patienten warteten oft
in Regionalgefängnissen, wo sie unzureichend betreut würden.
Für diesen Missstand sieht Klecha mehrere Ursachen: die fehlende Zusammenarbeit zwischen Jus­
tiz- und Gesundheitsdirektion, das gestiegene Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft, das zu langen
Aufenthalten in forensischen Kliniken führe, sowie der Druck auf die Allgemeinpsychiatrie, die psy­
chisch Kranken möglichst früh zu entlassen. Wenn diese aufgrund ihrer Erkrankung straffällig wür­
den, platziere man sie sie wegen der fehlenden Klinikplätze oft in Regionalgefängnissen, die nicht
auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet seien.
Dieses eher düstere Bild des Massnahmenvollzugs wurde durch Leo Näf, Vizepräsident der Nationa­
len Kommission zur Verhütung von Folter und langjähriger Leiter des Massnahmenzentrums Bitzi in
St. Gallen, bestätigt. Er gab eine, wie er betonte, subjektiv gefärbte Zusammenfassung der Empfeh­
lungen, welche die Kommission erarbeitet. Der grösste Missstand: Viele «59-er» seien ungeeignet
untergebracht, beispielsweise in Regionalgefängnissen, wo sie sich 23 Stunden allein überantwortet
seien. Das sei bei längerer Haftdauer nicht menschenrechtskonform. Andere würden in Hochsicher­
heitsabteilungen gehalten, wo sie, vom psychologischen Personal durch Gitter und Trennscheiben
getrennt, therapiert würden. Auch das sei fragwürdig. In psychiatrischen Klinken, in denen Verur­
teilte interniert seien, würden oft therapeutische Sanktionen und Disziplinierungen vermischt, ohne
dass für Letztere Rechtsmittel vorhanden seien.
Es gebe, so Näf, zu wenig geeignete Plätze, zu wenig genügend ausgebildetes Personal und qualitativ
unterschiedliche psychiatrische Gutachten, ferner würden unterschiedliche Behandlungskon­zepte
angewandt und werde das Arztgeheimnis in der West- und der Deutschschweiz unterschiedlich
gehandhabt. Ungelöst sei die Frage der zahlreichen «unmotivierten 59-er». Entweder man motiviere
diese oder prüfe die Umwandlung des Urteils in eine Verwahrung. Daneben gebe es die Resignierten:
Sie hätten den Eindruck, ihre Strafe werde nicht gelockert, auch wenn sie sich um Besserung und
Therapiefortschritte bemühten. Viele Insassen hätten Angst, in der Therapie aufrichtig zu sein, weil
sie negative Konsequenzen, etwa einen gestrichenen Urlaub, befürchteten.
Einen Kontrapunkt setzte Jonas Weber, Professor am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Uni­
versität Bern. Insgesamt würden zu viele Therapien angeordnet, diese seien zu beschleunigen und
ihre Dauer in geschlossenen Anstalten müsse reduziert werden. Therapien sollten nur für psychisch
schwer gestörte Täter angewandt werden, auf welche die Diagnose gemäss ICD-10 zutreffe (die
Internationale Klassifikation psychischer Störungen). Wenn dies nicht der Fall sei, müssten die Täter
nach Artikel 64 verwahrt werden, falls auch die übrigen Voraussetzungen einer Verwahrung gemäss
Artikel 64 und 56 erfüllt seien. Es würden viele nicht-verhältnismässige Therapiemassnahmen voll­
zogen. 20 Prozent der zu einer Therapie verurteilten Straftäter seien voll schuldfähig, weshalb aus
juristischer Sicht keine Massnahme angeordnet werden dürfte.
Zudem stellte Weber fest, dass die Anordnung einer Therapie nach Artikel 59 Absatz 3 den Gerichten
vorbehalten sei. Zudem sei die Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit einer Massnahme von allen
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Akteuren besser zu begründen. Zu prüfen sei, ob die Gerichte sich die Anordnung einer Massnah­
me gemäss Artikel 59 Absatz 3 im Urteil vorbehalten und so den Entscheid zur Einweisung in eine
geschlossene Anstalt an die Vollzugsbehörden delegieren könnten, die dann wiederum die besonde­
ren Begründungspflichten beachten müssten. Heute würden die Verurteilten oft ohne Begründung in
geschlossene Anstalten eingewiesen.
Weber stiess auf Widerspruch im Plenum. Mehrere Votanten befanden die von ihm skizzierte
Kompetenzordnung nicht praktikabel. Kontrovers diskutiert wurde auch Bräggers Forderung nach
konsequenter Trennung im Vollzug; die Trennungsvorschriften dürften nicht Selbstzweck werden.
Ein umstrittenes Thema war schliesslich die Sprachproblematik: Was tun, wenn ein Gericht eine
Massnahme ausspricht, aber der Delinquent nur einer Sprache mächtig ist, in der die Einrichtung
keine Therapie anbieten kann? Muss der Vollzug sich dann um einen diese Sprache beherrschenden
Therapeuten bemühen oder wird die Massnahme gestrichen?
Ein separater Block der Tagung widmete sich der Zusammenarbeit der Justizbehörden mit der Kin­
des- und Erwachsenenschutzbehörde KESB und der privaten Di Gallo-Gruppe, die therapeutische
Plätze anbietet. Patrick Fassbind, der Präsident der Berner KESB, stellte die neue Institution vor, die
ein Sozial-, Krisen-, Interventions-, Management- und Service-Center zugleich sei. Vorher habe es
schweizweit rund 1400 Vormundschaftsbehörden gegeben, jetzt nur noch 146 KESBs.
Das neue Erwachsenenschutzrecht stärke das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen, die Solidarität
in der Familie und verbessere den Rechtsschutz, führte Fassbind aus. Ein Arbeitsbereich der KESB sei
die fürsorgerische Unterbringung. Zweck sei der Schutz der betroffenen Person (die Gewährleistung
der persönlichen Fürsorge, die Verhinderung der Selbstgefährdung im weitesten Sinn), nicht des Um­
felds. Dessen Belastung müsse aber mitberücksichtigt werden. Für «nur fremdgefährliche Personen»,
insbesondere so genannt unheilbare Täter wie Pädophile, aber auch Gesinnungs- und Überzeugungstä­
ter, sei die KESB nicht zuständig. Der Schweiz fehle ein Gewaltschutzgesetz, das diese gefährliche Lü­
cke zwischen Polizei- und Strafrecht beziehungsweise Strafvollzug und Erwachsenenschutz schliesse.
Alfred Weidmann, Leiter mehrerer Heime und Mitglied der Geschäftsleitung der Di Gallo-Gruppe,
stellte diese zusammen mit Jerome Bosshard vor, dem Leiter der Pflege. Die in den letzten Jahren
stark gewachsene Gruppe umfasst 16 Betriebe, 1500 Mitarbeitende und ebenso viele Bewohner. Sie
bietet Langzeitpsychiatrie, Forensik mit geschützten Abteilungen und Alterspflege an.
Mit der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) unterhält die Gruppe Kooperationsverträge,
in deren Rahmen sie nach den Artikeln 59, 64 und 80 Verurteilte betreut. Ulf Sternemann, Oberarzt
am Zentrum für Forensische Therapie an der PUK, die mit Di Gallo zusammenarbeitet, erläuterte das
Konzept der ambulanten Nachbetreuung, das hauptsächlich Schizophrene erfasst, für die es nicht
genug Plätze gebe. Das Ziel sei die Aufrechterhaltung der «Befundstabilität» und die Verhinderung
delinquenter Rückfälle. Die Klienten müssten die «Manager ihrer eigenen Krankheit» werden. Die
Therapien seien nicht deliktorientiert.
In der Diskussion wurde provokativ angemerkt, dass die Betreuung kranker Straftäter für Private ein
Markt sei, auf dem sie Geld verdienen könnten. Alle privaten Institutionen systematisch zu überwa­
chen, sei indes illusorisch. Zuständig für die Qualitätssicherung sei die einweisende Behörde. Unter
welchen Umständen Private Verwahrungen durchführen dürften, blieb umstritten.
Ein Fazit der Tagung: Der Massnahmenvollzug nach Artikel 59 ist mit vielen Problemen behaftet, die
benannt wurden, für die indes keine schnelle Lösung in Sicht ist, zumal zur Zeit in der Politik kaum
sachlich über den Straf- und Massnahmenvollzug diskutiert wird. Unbestritten sind die fehlenden
Pflegeplätze; angetönt wurden zu häufige Verurteilungen. Verhindert wird die Lösung nicht zuletzt
durch das föderalistische System.
Urs Hafner, 17.06.2015
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