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Comptes rendus
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MARGARETE ZIMMERMANN (ED.): „ACH, WIE GÛT SCHMECKT MIR BERLIN.“
FRANZÖSISCHE PASSANTEN IM BERLIN DER ZWANZIGER UND FRÜHEN
DREISSIGER JAHRE, BERLIN, DAS ARSENAL, 2010, 291 S.
Die von Margarete Zimmermann (unter Mitwirkung von Gilda Rodeck) herausgegebene Anthologie widmet sich Texten französischsprachiger Berlin-Reisender
der zwanziger und frühen dreißiger Jahre über die von ihnen besuchte deutsche
Hauptstadt. Denn, so Zimmermann in ihrer Einleitung, im Gegensatz zu den gut
erforschten deutschsprachigen Intellektuellen und Schriftstellern in Paris wisse
man heutzutage wenig über französischsprachige Berlin-Reisende der Zwischenkriegszeit „in ihrer Eigenschaft als Mittler zwischen Deutschland und Frankreich“
(7) sowie über ihre in diesem Rahmen entstandenen Texte.
Um diesem Desiderat Abhilfe zu verschaffen, versammelt Zimmermann in diesem Band Berlin-Texte von 22 Autoren. Unter den Verfassern befinden sich neben
auch heutzutage noch bekannten Intellektuellen und Literaten wie André Gide oder
Pierre Bertaux auch inzwischen in Vergessenheit geratene Schriftsteller wie René
Jouglet, Madeleine Paz oder Maurice Dekobra. Die Reisenden besuchen Berlin
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„als Flaneure oder als Berichterstatter für Zeitungen“ (8). Das in diesem Band präsentierte Textkorpus ihrer Stadteindrücke ist (dementsprechend) erfreulich heterogen: sowohl Auszüge aus Briefen und Tagebüchern, Reportagen in Zeitungen und
Zeitschriften als auch aus Essays und Romanen werden hier als Quellen der
Berlin-Eindrücke berücksichtigt. Nicht nur stellt Zimmermann hiermit Texte vor, die
heutzutage größtenteils schwer auffindbar sind, sondern sie hat auch fast alle der
hier versammelten Quellen eigens für diese Anthologie ins Deutsche übersetzen
lassen. Ein Teil der Übersetzungen entstand im Rahmen eines Seminars an der
Freien Universität Berlin. Es bleibt allerdings zu fragen, weshalb nicht auf bereits
vorhandene Übersetzungen (wie im Falle von Bloch, Crevel, Giraudoux und Trintzius) zurückgegriffen wurde.
Um die Entstehungszusammenhänge der Reise-Texte zu verdeutlichen, sind
letztere chronologisch geordnet, wobei die Herausgeberin hier zwischen drei von
ihr hervorgehobenen Reisephasen unterscheidet: den frühen zwanziger Jahren,
der Zeit ab Mitte der zwanziger Jahre und den frühen dreißiger Jahren. In der Einleitung der Anthologie wird konstatiert – und dies wird anhand des im Anschluss
präsentierten Quellenmaterials sehr deutlich –, dass je nach Reisephase den BerlinReisenden tendenziell unterschiedliche Dinge in den Blick kommen. So seien die
frühen zwanziger Jahre die Zeit, in der die Besucher „ein Berlin zwischen Inflation
und neuer Prosperität erleben“ (10); in der Phase nach den Locarno-Verträgen
(1925), in der die Reisenden vermehrt nach Berlin gekommen seien, sei die Stadt
ihnen als „Hauptstadt des neusachlichen Tempos“ (11), als „höchst experimentierfreudige Metropole“ (12), als Stadt mit einer außergewöhnlichen Vergnügungsszene, Ort des besonders liberalen Umgangs mit Homosexualität, als „das Andere
schlechthin, als Ort der Neuen Sachlichkeit und des neuen Bauens, der Gartenstädte und der neuen Körperkultur“ (12) in den Blick geraten. In den frühen dreißiger Jahren (aus der der Großteil der Texte stammt) registrieren die Besucher hingegen „mit tiefer Besorgnis“ ein „Berlin der Arbeitslosigkeit, der Armut, der Wirtschaftskrise, der Ausweglosigkeit“ und „politischen Umbrüche“ (16).
Natürlich differieren die Berlin-Wahrnehmungen nicht nur aufgrund verschiedener Reisephasen, sondern auch aufgrund der jeweiligen persönlichen Dispositionen bei der Wahrnehmung jedes Reisenden, die mitbestimmen, was als „das Andere“ in den Blick kommt. So stellt Zimmermann beispielsweise für André Gide und
Roger Martin du Gard, die eine antibürgerliche Haltung vertreten, fest, dass Berlin
mit dem dort von ihnen beobachteten liberaleren Umgang mit Homosexuellen
„eine Entlastung von den Zwängen des bürgerlichen (Ehe-)Lebens“ (196) verkörpere. Ebenso ist der biographisch-literarische Kontext des Reisenden für die
Wahrnehmung der Hauptstadt von Belang, was besonders bei Martin du Gard
deutlich wird. Bei ihm, der sich zum Zeitpunkt seiner Reise in einer persönlichen
sowie literarischen Krise befinde (198), kommt Berlin bei der Beschreibung einer
von ihm an der dortigen Universität durchgeführten Lesung auch als Ort der
Anerkennung durch das deutsche Publikum in den Blick: „Empfangen von Akklamationen, die mir außerordentlich wohlgetan haben. [] Getragen von der naiven
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Sympathie dieses von Anfang an gewonnenen Publikums. Kein Kampf zu
bestehen, garantierter Erfolg, sobald ich eintrat“ (215-216).
Auf die persönlichen Dispositionen bei der Wahrnehmung durch die einzelnen
Reisenden wird in den biographischen Skizzen der Autoren eingegangen, die den
jeweiligen Quellentexten vorangestellt und die für den Leser sehr hilfreich sind, da
sie das Augenmerk primär auf „den Berlin-Bezug im Leben und in den Texten“ (21)
der Reisenden legen.
So divers die Reiseeindrücke je nach Phase und persönlichen Dispositionen der
Reisenden auch sind, der Einleitung der Anthologie gelingt es gut, wichtige Ergebnisse festzuhalten. So wird hier beispielsweise konstatiert, dass das Thema Essen
mit seinen zwei Ausprägungen – dem Hunger der armen und arbeitslosen Berliner
Bevölkerung einerseits und „der Völlerei der Neureichen“ (13) andererseits – die
Texte der einzelnen Phasen thematisch verbindet. Interessant auch die Feststellung, dass zu den „sicherlich überraschendsten Erfahrungen der Reisenden die
Begegnung mit neuen Frauen und Männern [gehört] – berufstätigen, selbständigen, reisenden, sportlichen Frauen, an deren Seite sich die Männer ebenfalls neu
definieren müssen“ (15). So schreibt der Berlin-Reisende René Jouglet 1931 in
seinem Essay „L’Allemande“: „Der große Unterschied liegt darin, dass die deutschen jungen Mädchen und Frauen sich zur Zeit in einem Strom der Freiheit platziert befinden, in einem Zustand der Selbstbestimmung, der bei uns in Frankreich
kaum bekannt ist“ (149).
Hier zeigt sich auch, dass, wie es in der Einleitung heißt, die „französischsprachigen Intellektuellen kommen, um das Fremde aufzunehmen und eventuell
kritisch auf das Eigene, auf französische Verhältnisse zu projizieren“ (9). Durch
diese (kritische) Auseinandersetzung mit dem Fremd- und Selbstbild fungieren die
Reisenden als Mittler zwischen Frankreich und Deutschland. So appelliert Amédée
Ozenfant 1931 an seine Landsleute: „Reist nächsten Sonnabend ab, Week-EndBerlin, um einige Vorurteile zu revidieren und manches Wertvolle kennenzulernen“
(157).
Die Auswahl der hier berücksichtigten Reisenden betreffend wäre es allerdings
wünschenswert gewesen, wenn die Gruppe nicht nur aus Personen einer meist
(groß-)bürgerlichen Herkunft bestanden hätte. So fragt sich der Leser, ob nicht
auch ebenso aufschlussreiche Texte Berlin-Reisender anderer sozialer Schichten
existieren, die sich für einen Vergleich mit den hier dargelegten Berichten geeignet
hätten.
Es ist erhellend, dass in der Einleitung kurz auf die Grundunterschiede zwischen
dem Blick französischsprachiger Passanten auf Berlin und dem der Exilrussen in
der deutschen Hauptstadt eingegangen wird. Diese Stelle hätte sich bestens dazu
geeignet, ebenfalls kurz auf Unterschiede (oder Gemeinsamkeiten) zwischen französischen Berlin- und Moskau-Reisenden der Zeit einzugehen. Denn immerhin
waren sowohl Berlin als auch Moskau – aufgrund der Gesellschaftsmodelle, die
sie in der Zwischenkriegszeit verkörperten (Berlin stand für die beschleunigte
Modernität amerikanischer Art, Moskau für den Sozialismus) – die Städte, in der
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französische Reisende Antworten auf Zukunftsfragen Europas zu finden hofften.
An dieser Stelle lässt sich auf bestehende Publikationen der Reihe „Reisen Texte
Metropolen“ (Bielefeld: Aisthesis) verweisen, die sich mit der Wahrnehmung der
drei europäischen Metropolen Berlin, Paris, Moskau durch Reisende in der
Zwischenkriegszeit befassen.
Dessen ungeachtet gibt diese Anthologie einen sehr guten Überblick über die Vielseitigkeit der Berlin-Wahrnehmungen französischsprachiger Reisender der Zwischenkriegszeit und bringt uns die Fremd- und Eigenwahrnehmung dieser reisenden Mittler zwischen den Nachbarländern Deutschland und Frankreich auf sehr
lebendige Art näher.
Inka Zahn (Rijnsburg)
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