Abstracts Reisetagung 2016 - Universität Koblenz · Landau

Internationale Tagung
(Off) The Beaten Track? Normierungen und Kanonisierungen des Reisens
vom 09.-11. November 2016
Veranstalter:
Hajo Diekmannshenke, Stefan Neuhaus und Uta Schaffers (Universität Koblenz-Landau)
Abstracts
Mittwoch, 9. November (F 313)
14.00 Uhr
Dr. Daniela Fuhrmann (Zürich): ‚Pauschalreisen‘ im Spätmittelalter?
Konrad von Grünembergs Pilgerfahrt ins Heilige Land
Im Gegensatz zu anderen Reisebeschreibungen des Spätmittelalters, die als Itinerare Anleitung
bieten, wie sich Pilger im Heiligen Land bewegen müssen, um alle Heiligtümer ‚abzuklappern‘
und möglichst viel Ablass zu erhalten, stellen die Instruktionen Konrad von Grünembergs der
sakralen Aura der besuchten Stätten eine ungewohnte Welthaftigkeit entgegen. So verknüpft seine erst kürzlich neu edierte Reisebeschreibung traditionelle Erwartung mit einem neugierigen
Blick auf das Fremde im Vertrauten und ist daher für die Geschichts- wie auch die Literaturwissenschaft eine bemerkenswerte Quelle.
Grünembergs Bericht zeigt ihn einerseits als Teilnehmer einer organisierten und klar abgesteckten Fahrt. Bekannte Berichte wie z.B. derjenige Bernhard von Breidenbachs liefern Informationen des zu Erwartenden, wie zum Teil wörtliche Übernahmen aus dessen Text belegen. Ein
pauschal zu leistender Geldbetrag erwirbt Grünemberg nicht nur die Überfahrt sowie Verpflegung während der Reise, sondern sichert ihm darüber hinaus Geleit in den Zielgebieten, die er
folglich – auch in seinem Blick – geführt begeht, um die biblischen Stätten und das dortige Heil
zu erfahren. In dieser Hinsicht lässt sich Grünemberg als regelrechter ‚Heilstourist‘ bezeichnen,
der auf seiner ‚all inclusive Tour‘ durchs Heilige Land genau das findet, was er erwartet.
Auf dieser gebuchten ‚Pauschalreise‘ jedoch wird er vom Touristen zum Reisenden: Indem er
seine Aufmerksamkeit auch auf Dinge abseits der eingetretenen, um nicht zu sagen normierten
Pfade richtet, erfährt er, bedingt durch seine im christlichen Werteverständnis eher abschätzig
behandelte curiositas, die Fremde anders als eine Vielzahl seiner Zeitgenossen. Zwei vermutlich
autographe Handschriften zeugen von der 1486 unternommenen Reise Grünembergs, die sich
nicht allein dadurch auszeichnen, dass sie in eine traditionell etablierte Textgattung untypische, da
nicht dem Standard entsprechende Informationen integrieren und so einen erweiterten Blick auf
die Umgebung der vertrauten heiligen Stätten erlauben. Zudem wird die sprachliche Evokation
des Vertrauten wie des Anderen durch Bildmaterial (kolorierte Federzeichnungen) unterstützt, so
dass wahrhaftig von einem ‚Blick‘ auf die Fremde gesprochen werden kann, die Grünembergs
Reisebericht auch seinen Lesern ermöglicht, die sich mit ihm gewissermaßen gleichzeitig on und
off the beaten track bewegen.
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14.45 Uhr
PD Dr. Ulrike Stamm (Berlin): Der Orientreisebericht von Frauen:
Verhandlungen von Normen und Normierung
Der Reisebericht von Frauen ist im 19. und frühen 20. Jahrhundert notwendig Teil einer Infragestellung von Geschlechternormen, da er per se ein exzeptionelles Ereignis und eine entschiedene
Grenzüberschreitung darstellt. Insofern enthält er – wenn auch oft untergründig – eine komplexe
Verhandlung von Konventionen, Regeln und Normen. Zugleich aber beziehen sich Autorinnen
fast immer auf einen männlich geprägten Reisehabitus, d.h. sie ahmen vor allem das Modell der
männlichen Entdeckungsreise nach und ihr Habitus ist wesentlich von einem heroischen Duktus
bestimmt.
In dem Vortrag sollen mit Ida Pfeiffer, Isabella Eberhardt und Gertrude Bell drei Autorinnen
verglichen werden, die ihr Reisen in ganz verschiedener Weise als exzessive Provokation inszeniert haben. Dabei sollen zum einen die historischen Unterschiede in den Blick kommen: So ist
Ida Pfeiffer als Autorin des Biedermeier zu einer sehr viel stärkeren Anpassung an Normen gezwungen, wie bspw. an dem Thema ihrer Kleidung und ihrer Haartracht deutlich wird. Diese
teilweise Anpassung setzt sie jedoch ganz bewusst ein, um sich in einer Zwischenposition zwischen weiblichem und männlichem Geschlechtscharakter zu positionieren und damit die
Tabubrüche ihres Reisens zu verschleiern. Dagegen präsentieren Isabella Eberhardt und Gertrude Bell als Autorinnen des 20. Jahrhunderts eine sehr viel größere Grenzüberschreitung und damit Destruktion von Normen. Im Fall der zum Islam konvertierten Isabella Eberhardt beinhaltet
dies die Überschreitungen von Geschlechtergrenzen, aber auch von kulturell-religiösen Grenzen.
Für Gertrude Bell dagegen liegt die größtmögliche Erweiterung ihres Handlungsspielraums in der
politischen Betätigung und d.h. in der Beteiligung an der Gründung des Staates Irak.
In dem Vortrag soll außerdem untersucht werden, wie die jeweiligen Möglichkeiten der Infragestellung von Normen sowohl mit den unterschiedlichen feministischen Traditionen als auch
mit nationalen Reisemodellen zusammenhängen; so ist zu fragen, inwieweit die englische Autorin
Gertrude Bell dadurch, dass sie in der Nachfolge der sprichwörtlichen englischen Reisenden
steht, gewissermaßen für ihre außergewöhnlichen Reisen und politischen Interventionen prädestiniert ist.
16.00 Uhr
Maria Hinzmann, M.A. (Wuppertal): Das Topische des Atopischen:
Indienreiseberichte zwischen ‚Spurenlesen‘ und ‚Spurentilgung‘ im 19.
Jahrhundert
Der Beitrag ist methodisch im Bereich einer interdisziplinären Topik verortet, mit welcher sich
grundlegende Aspekte der Reiseliteraturforschung und Tourismus-Theorie neu perspektivieren
lassen. Das ‚Topische des Atopischen‘ lässt sich an Individualisierungs- und Modernisierungsprozesse seit dem 18. Jahrhundert zurückbinden und wird im Kontext des Reisens und insbesondere
im Zuge des Massentourismus virulent. Abgrenzungsbewegungen von ‚Reisenden‘ gegenüber
‚Touristen‘ sind als integraler Bestandteil des Tourismus und als Paradox der Authentizität aufzufassen (vgl. Culler); die Kritik, die der Tourismus hervorbringt, ist diesem inhärent (vgl. Enzensberger). Vor diesem Hintergrund lassen sich der ‚unberührte Ort‘ und das Reisen ‚off the beaten
track‘ als Teil einer ambivalenten und paradoxen Topik begreifen.
Die rhetorisch vielfältig kristallisierenden Positionierungen, Inszenierungen und Reflexionen
des zunehmend brüchig werdenden ‚Ich‘ bzw. ‚Selbst‘ gewinnen im Laufe des 19. Jahrhunderts
an Präsenz. Das Streben nach ‚Individualität‘ kommt umso mehr zur Geltung, wenn diese sich
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angesichts eines immer enger werdenden intertextuellen Netzes, einer immer prägnanteren Topik
als im Verschwinden begriffen bzw. ‚bedroht‘ darstellt. So grenzen sich Indienreisende um 1900
zunehmend von ‚Globetrottern‘ ebenso wie von ‚sentimentaler Indienschwärmerei‘ ab; sie suchen
neue Reise- und Text-Wege jenseits gängiger, kanonisierter Routen und Topoi. Die von Manfred
Pfister vorgeschlagene Typologie, welche Reiseschriftsteller skalar zwischen ‚Spurenlesern‘ und
‚Spurentilgern‘ situiert, wird in Abwandlung aufgegriffen: Die ‚Suche nach dem Atopischen‘ wird
in der Iteration selbst wiederum topisch – als eine Suche nach dem Nicht-Normierten, NichtStandardisierten, Nicht-Kanonisierten bewegt sie sich in einem Spannungsfeld zwischen VorWissen, Vor-Urteilen, Vor-Schriften einerseits und paradox unverfügbaren Reise-(Text-)Idealen
(Authentizität, Individualität, Natürlichkeit, Unberührtheit etc.) jenseits dieser ‚Spuren‘ andererseits. Der dynamischen Suchbewegung steht das sich im Rahmen einer (Gattungs-)Topik durch
Wiederholung stabilisierende ‚Sediment‘ (vgl. Bornscheuer) komplementär entgegen.
16.45 Uhr
Daniela Dora, M.A. (Gent / Luxemburg): Aufgelöste Dichotomien:
Touristische Aspekte (auto)fiktionaler Reisetexte zu Indien
Seit seinem Erscheinen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Tourist eine eindeutig negativ
konnotierte Figur und heftigen Diskreditierungen ausgesetzt. Von Beginn an sind dem touristischen Diskurs tourismuskritische Haltungen eingeschrieben und gemeinhin besteht die Annahme, dass genuines Reisen durch den Einbruch des Massentourismus unmöglich geworden ist.
Programmatisch für die anti-touristische Tradition ist eine retrospektivische Anrufung der Figur
des Reisenden, die sich mittels verschiedener Parameter explizit vom Touristen unterscheiden
soll. Während in der Tourismusforschung anti-touristische Anschauungen mittlerweile passé sind,
ist es äußerst frappierend, wie wirkmächtig die elaborierte Gegenüberstellung des „authentischen“ und touristischen Reisens im literarischen und öffentlichen Diskurs bis heute bleibt. Eine
beträchtliche Vielzahl von AutorInnen insistiert – mehr oder minder vehement – auf diese Opposition. Es sei hier ein Versuch gewagt, sich mithilfe von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten über Indien, d.h. Romanen/Erzählungen sowie journalistischen Reise-Essays und Reportagen, der Differenzierung Reisender – Tourist erneut anzunähern. Dabei soll die Analyse
nicht einer stereotypen Dichotomie verfallen, sondern die (Un)möglichkeit einer Grenzziehung
der beiden Kategorien mitreflektieren. Ziel der Untersuchung ist es, herauszufinden, inwiefern
sich in den Darstellungen der (oft autofiktionalen) Protagonisten und Erzähler touristische
Wahrnehmungs- und Verhaltenspraxen ausmachen lassen und sich diese in den Texten narrativ
manifestieren. Einen besonderen Fokus der Untersuchung stellen die inszenierten Abgrenzungsmechanismen der Erzähler gegenüber (anderen) Touristen dar, die u.a. Fragen von Authentizität
und Normierung aufwerfen. Können z.B. peripheres Reisen und das Aufsuchen dezentraler Orte
die Versprechen eines „genuinen Reisens“ wirklich einlösen und die Erwartung des Reisenden,
gänzlich „unberührte“ Regionen aufzuspüren, erfüllen oder transformiert sich nicht schließlich
jede Neuentdeckung letztendlich zum touristischen Kanon?
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17.30 Uhr
Prof. Dr. Sofie Decock (Gent): “I went up and lifted the veil to greet her.”
Diskurslinguistische Annäherungen zu interkulturellen Begegnungen in
Reisetexten
Für die im deutschen Sprachraum wenig gepflegte Zusammenarbeit von Linguistik und Literaturwissenschaft bietet sich als Brücke die Diskursanalyse an (Preisinger et al. 2014). Da in der
Literaturwissenschaft die Diskursanalyse bisher eher eine Forschungsperspektive als ein Analyseinstrument ist (Preisinger et al. 2014), verspricht die Einbeziehung von Methoden der diskursanalytischen Linguistik (Spitzmüller & Warnke 2011, Reisigl & Ziem 2014) weiterführende Perspektiven und Erkenntnisse. Dies werde ich exemplarisch anhand von Texten der Engländerin
Freya Stark (1892-1993) und der Schweizerinnen Ella Maillart (1903-1997) und Annemarie
Schwarzenbach (1908-1942) zeigen. Diese Autorinnen gehören zu den bedeutenden Reiseschriftstellerinnen und -journalistinnen des 20. Jahrhunderts. Mit den Methoden der Diskurslinguistik
sollen die sprachlichen und kulturellen ‚Zugänge‘ dieser reisenden Frauen zur ‚anderen Kultur‘
und ihre diskursive Vermittlung in ausgesuchten Reisetexten untersucht werden, wobei Reisen in
den Nahen und Mittleren Osten im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. In einem ersten Schritt
werden das Kulturwissen und die Sprachenkenntnisse der Reisenden thematisiert, wobei der Frage nachgegangen wird, ob und wie diese in der Schilderung interkultureller Begegnungen inszeniert werden, und welche Konsequenzen dies für die Markierung des ‚Status‘ der Reisenden als
wirkliche ‚Reisende‘ oder als ‚Touristinnen‘ hat. Anschließend wird untersucht, wie sich das
sprachliche und kulturelle Wissen der Reisenden auf die Darstellung der kulturell ‚Anderen‘, spezifisch der einheimischen Frauen, auswirkt, und inwiefern dies mit Normierungen im Reiseschreiben einhergeht.
Donnerstag, 10. November (D 239)
9.00 Uhr
Jun.-Prof. Dr. Franziska Bergmann (Trier): Tradierte Plastizität.
Empiristische und exotistische Vergegenwärtigungsstrategien in
Chamissos Reise um die Welt
Der geplante Vortrag soll sich mit kanonisierten Wahrnehmungsmustern in Adelbert von Chamissos Reise um die Welt befassen. Es wird zu zeigen sein, dass das auf der Reise gesuchte und
ersehnte Neue niemals in seiner Charakteristik als absolut Neues erfahren werden kann, sondern
stets kulturell tradierten Wahrnehmungsmustern unterworfen ist. Chamisso greift bei der Beschreibung geografischer und kultureller Alterität auf Fremdheitstopoi zurück, die ihm unter anderem durch exotistische Phantasien der westeuropäischen Kultur zur Verfügung gestellt werden.
Selbst in jenen Momenten, in denen die vermeintlich rein sinnliche Perzeption des Fremden im
Vordergrund steht, ist die Wahrnehmung der Erzählinstanz in der Reise um die Welt durchdrungen
von präexistenten Deutungsschemata – nicht zuletzt gehört gerade auch die Vorstellung von den
exklusiv sensorischen Reizen des Fremden zum Kanon des Exotismus. Ziel des Vortrages wird
es sein, herauszuarbeiten, wie Chamisso diese ambivalente Spannung zwischen Anspruch auf
Neuheit und der Unumgänglichkeit, Unbekanntes nicht auf der Folie des Bekannten interpretieren zu können, in seiner Reise um die Welt verhandelt. Der Blick wird dabei unter Rückgriff auf die
Methode des close reading auf exemplarische Textpassagen gerichtet, in denen das Topische des
Neuen zum Ausdruck kommt. In die Ausführungen wird überdies die Frage nach dem Verhältnis
des Textes zu den bildästhetischen Elementen der Reisebeschreibung miteinbezogen.
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9.45 Uhr
Prof. Dr. Klaus Schenk (Dortmund): Moderne Reisen schreiben.
Zur Medialisierung und Normierung des Blicks bei Franz Kafka, Max
Brod u.a.
Spätestens seit der Jahrhundertwende 1900 versuchen Autoren, ihre Reisebeschreibungen an den
Herausforderungen der Moderne zu messen. Das Aufzeichnen von Reisen steht in einem Spannungsfeld zwischen traditionellen Reisetagebüchern und neuen Schreibweisen. In dieser Hinsicht
bewegt sich die Normierung des Blicks zwischen überlieferten Perspektiven und medialisierten
Beobachtungen der Moderne. Die Moderne provoziert gewissermaßen ihre eigene Normierung.
Vor allem in den Reisetagebüchern von Franz Kafka, die er zum Teil mit seinem Reisebegleiter
Max Brod parallel verfaßte, wird diese Ambivalenz zwischen Tradition und Innovation spürbar.
Kafkas Reisen, die er seinem Arbeitsalltag abrang, führten ihn nach Frankreich, Italien und in die
Schweiz. Literarische Vorbilder für seine Reisenotizen finden sich in vormodernen und klassischen Reisebeschreibungen. Ein Modell für die Paralleltagebücher zur Reise Lugano – Mailand –
Paris – Erlenbach im August und September 1911 bot z.B. die Reisearbeit Par les champs et par les
grèves von Gustave Flaubert und Maxime Du Champ. In einem von Brod vorgeschlagenen Projekt sollte zudem der Versuch unternommen werden, die Reisenotizen zu einem gemeinsamen
Roman zu verbinden, von dem schließlich das erste Kapitel unter dem Titel Richard und Samuel.
Eine kleine Reise durch mitteleuropäische Gegenden tatsächlich veröffentlicht wurde. Im Unterschied zu
den Aufzeichnungen von Brod zeigen Kafkas Reisetagebücher allerdings eine deutliche Ambivalenz. Konzepte traditioneller Reisebeobachtungen konkurrieren mit beschleunigten Bewegungsformen. So werden Reiseführer wie der Baedecker, Illustrierte Zeitschriften, aber auch technische
Medien wie Panoramen, der Kinematograph sowie Verkehrsmittel wie die Eisenbahn, das Automobil, die Pariser Metro thematisiert, um Ambivalenzen in der Normierung des modernen Blicks
offenzulegen.
Die Reisetagebücher erweisen sich in dieser Hinsicht als Experiment Kafkas, sein Schreiben
als Form der Reisebeobachtung in einer medialisierten Dimension zu erkunden.
11.00 Uhr
Sascha Prostka, M.A. (Göteborg): Szenen und Kontexte:
Differenzerfahrungen des Reisens und des Aufgehaltenseins bei Botho
Strauß
Traditionelle Reiseschilderungen behandeln zumeist die schönen oder widrigen Ereignisse der
Reise sowie die Besinnung und Reflexion nach der Ankunft, sie wollen das Erfahrungsbündel für
das Lesepublikum erfahrbar machen. In der ausdifferenzierten Moderne hingegen ist das Reisen
eine risikoarme Hochgeschwindigkeitsangelegenheit geworden. Ein Paradox des schon bekannten Fremden dominiert die Wahrnehmung, weil Muster oder Abläufe bereits aus anderen Kontexten (Dokumentationen, blogs, Reiseführern) bekannt sind. Das Berichtswesen um erfolgte Reisen verändert sich zusehends, es sind andere Beschreibungsmodi nötig, um dem Reisen weiterhin
literarische Schilderungen entlocken zu können. Zudem verwischen Differenzerfahrungen zwischen der Innenwelt des Individuums und den vielen Anschlussmöglichkeiten an die Umwelt, die
das entdeckende Reisen einst prägten.
Mein Beitrag greift einige von Vilém Flussers Überlegungen zum Bewegen in der Welt auf
und projiziert sie auf Botho Strauß’ Beobachtungen und Beschreibungen der Gegenwart. Strauß’
Texte Vom Aufenthalt oder Paare, Passanten sind von gestrandeten Reisenden und exkludierten
Beobachtern am Rande bevölkert; hinzu kommen Umweltfiguren des Reisenden wie z.B. die
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Fremdenführerin im gleichnamigen Drama. Die Ausgangslage ist zumeist eine unfreiwillige Position in einem Abseits, meist eine Zwischenstation, „eine ziellose Methode“ (Flusser), wie sie
exemplarisch auch Strauß’ Prosatext Vom Aufenthalt (2009) einleitet.
Der Beitrag wird zeigen, welche Formen der Differenzerfahrungen angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen überhaupt noch möglich sind und wie diese konkret in den gewählten Texten aufgegriffen, dargestellt und diskutiert werden. Hierbei ermöglichen die Ausgangslagen unfreiwilliger Aufenthalte, aber auch die realen Flüchtlinge in Strauß’ Essay Der letzte Deutsche
es, an Flussers Betrachtungen anzuknüpfen. Zudem erlaubt der Fokus auf Umweltfiguren von
Reisenden es, sich den gegeben Differenzen von innen und von außen zu nähern. Der erzwungene Stillstand und die erzwungene Auseinandersetzung mit ungeplanten Gegebenheiten schaffen
Räume für Differenzerfahrungen, die den Reisenden in neue Beziehungsfelder abseits etablierter
und kanonisierter Erlebens- und Beschreibungsmuster einbetten und denen sich nachzugehen
lohnt.
11.45 Uhr
Martin Gerstenbräun, M.A. (Innsbruck): „Ich bin ein schlechter Journalist,
der schlechteste von allen, zum Glück.“ Die Subversion des Reiseberichts
durch den „Besuchsschriftsteller“ Christian Kracht
Christian Kracht steht seit seinem Debütroman Faserland und seinen in den 90ern unter dem Titel
Der gelbe Bleistift verfassten Kolumnen für die Welt am Sonntag im Ruf des Zynikers, des dekadenten Dandys, des Luxusreisenden und auch (nur leider allzu selten) des Ironikers. Zentrales, konstitutives und überpräsentes Motiv seines Schaffens ist dabei die Reise und das Auf- und Besuchen neuer, ‚heimatferner‘ Orte, wobei schon die Reisebewegung an sich für alle seine Romane
(Faserland, 1979, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, Imperium) strukturbildend ist.
Kracht bedient neben der genuin literarischen Gattung des Romans zudem die des Reiseberichts
und selbst einen ,Reiseführer‘ in der Piper-Reihe Gebrauchsanweisung für Kathmandu und Nepal hat er
(zusammen mit Eckhart Nickel) veröffentlicht. Man kann also mit Fug behaupten, dass Kracht
mit seinem Œuvre die Erscheinungsformen der Reiseliteratur großflächig abdeckt. Die Rezeption
geht im Übrigen mit den Temini der Reiseliteratur dabei sehr freizügig um, so firmieren Krachts
Reiseberichte auch unter „Reisenotizen“, „Reisereportagen“ oder „Reisebuch“. Im Zentrum
meines Vortrags steht eben jene Prosa Krachts, die gewissermaßen zwischen Literatur und Journalistik ihre Wirkung entfaltet. Diese Wirkung ist, so belegen professionelle und LaienRezensionen, äußerst ambivalent, hat Irritationspotential und ihr liegt, wie ich zeigen möchte, ein
spezifisches poetologisches Konzept zugrunde. Um die Kracht’sche ‚Subversion des literarischen
Reiseberichts‘ adäquat beschreiben zu können, schicke ich neben einem knappen Forschungsüberblick auch Vorüberlegungen gattungstheoretischer Natur voraus, um diese schließlich mit
Krachts poetologischer Strategie, die ich in den Publikationen Der gelbe Bleistift, Ferien für immer
und Gebrauchsanweisung für Kathmandu und Nepal nachzuweisen hoffe, zu kontrastieren. Zugrunde
liegt seinen Werken, so die Ausgangsthese, ein spezifischer Erzählgestus, der neue Narrative erschließt und post-koloniale Kritik mit der Darstellung der Auswirkungen eines globalisierten
Massentourismus verknüpft. Ein Gestus, der im Wesentlichen auf einer Subversion der gattungstheoretischen Merkmale von Reiseliteratur beruht und statt der bereisten Länder und deren BewohnerInnen vor allem eines ins Zentrum rückt: die Reisenden selbst.
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14.00 Uhr
Dr. Laura Beck (Liège): „Weißnasen mit Rückflugticket“?
Entwicklungshilfe als Egotrip bei Lukas Bärfuss und Milo Rau
„Wie sollen 18-jährige Weißnasen mit Rückflugticket in Entwicklungsländern auch helfen?“ – so
kritisierte Claudia von Braunmühl 2008 im Magazin der SZ den Freiwilligendienst weltwärts des
BMZ, der 18- bis 28-Jährigen ohne spezifische Ausbildung genau das verspricht. Während weltwärts sich als „Lerndienst“ mit Fokus auf dem „gleichberechtigte[n] Austausch“ (weltwaerts.de.)
versteht, bot das Programm für von Braunmühl jungen Europäern „organisierte Abenteuer“ und
erinnerte sie an „Dschungel-Camp-Shows auf den Privatsendern“. Die Implikation, Entwicklungshilfeprogramme ermöglichten leicht konsumierbare neue Formen der Abenteuerreise, von
der im Wesentlichen die Reisenden profitierten, und gemahnten an die massenmedial produzierte
Exotik bestimmter Unterhaltungsformate, wird auch in der zeitgenössischen deutschsprachigen
Literatur zunehmend reflektiert, so in Lukas Bärfuss‘ Roman Hundert Tage (2008) und Milo Raus
Stück Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs (2015), deren junge Protagonisten als Entwicklungshelfer nach Ruanda und Burundi reisen.
Inwiefern problematisieren die Texte humanitäre Projekte als Ausgangspunkte für neue
„normalistische[ ] Abenteuer“ (Ute Gerhard), die Ähnlichkeiten zu Formen des organisierten
Tourismus aufweisen und auch als teilweise neokoloniale Phänomene begreifbar sein können?
Wie verschieben sich in den Texten Grenzen der Normalität? Welche Rolle spielt eine selektive
Medialisierung bei der Produktion dieser Normalität und mit welchen ästhetischen Strategien
werden eurozentrische Wahrnehmungsmechanismen reflektiert? Inwiefern schließlich verweisen
die Texte nicht nur auf neue kanonisierte Arten des Reisens, sondern partizipieren auch an der
Herausbildung von neuen Formen der Reiseerzählung?
14.45 Uhr
Prof. Dr. Andrea Geier (Trier): Erkundungen von Erinnerungsräumen.
Über Raum-Zeit-Dynamiken in Reisetexten der Gegenwart
In Reisetexten der Gegenwart wird Literatur als ein Gedächtnismedium ernstgenommen, das
Modelle der Wahrnehmung und Beschreibung des ‚Anderen‘ herausgebildet hat. In zeitgenössischen Erkundungen postkolonialer Räume ebenso wie in literarischen Darstellungen historischer
Entdeckungsreisen in kolonialen Räumen finden Rekurse auf historisch-kulturell geformtes und
tradiertes Vorwissen statt: Reiseerfahrungen und deren (stereotypisierende) Beschreibungsmodi
werden wahlweise dekonstruiert oder es werden die historischen, mentalitätsgeschichtlichen und
medialen Bedingungen ihrer Konstruktion zum Ausgangspunkt einer kritischen Überprüfung der
jeweiligen Darstellung von Wissen über ‚die Fremde‘ gemacht. Eine solche Auseinandersetzung
mit dem komplementären, hierarchisch strukturierten Zusammenspiel von ‚Identitäts-’ und ‚Alteritäts’-Konstruk-tionen wird vielfach mittels intertextueller Schreibverfahren (Einzeltextreferenzen und/oder Interauktorialität) explizit ausgestellt. Hieraus gewinnen die Texte ein Reflexionspotential für die Auseinandersetzung mit ‚Wahrnehmung‘ und ‚Wissen‘, und verschiedene
Formen von historischer und kultureller ‚Fremdheit‘ erscheinen in einem wechselseitigen Spiegelungsverhältnis. Im Zentrum des Vortrages sollen, erstens, die Erfahrungsdimensionen stehen,
die mittels intertextueller Schreibverfahren für eine Reflexion über kulturelles Wissen produktiv
gemacht werden, sowie, zweitens, die komplexen Raum-Zeit-Dynamiken, die in diesem Kontext
entfaltet werden. Betrachtet werden sollen die in den Texten entwickelten Bezüge zwischen Orten und Zeiten der Lektüre, der Wahrnehmung während des Reisens und (ggf.) des thematisierten Prozesses der Verschriftlichung sowie die expliziten Reflexionen von Darstellungsformen
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und Erinnerungskulturen (Verbindung von Kolonialgeschichte mit Perspektiven auf die NSGeschichte).
16.00 Uhr
Dr. Thomas Homscheid (Bamberg): „Bleiben und stille bewahren“ – Skeptizistische Positionen zum Reisediskurs im 20. Jahrhundert als produktionsästhetische Problematik
Im frühen 20. Jahrhundert war die Standardisierung des Reisens bereits in vollem Gange: Der
Tourist als Konsument einer industriellen Massenware nutzt ein immer dichter werdendes Netz
genau durchkalkulierter globaler Reiserouten, die kaum noch etwas dem Zufall überlassen und
damit den Aspekt des Abenteuerlichen nur noch als Störfaktor oder als Inszenierung kennen.
Gleichzeitig erlebt Europa im vorigen Jahrhundert ein bis dahin nie gekanntes Maß unfreiwilligen
Reisens in Form von Flucht und Deportation oder auch in Form von Feldzügen. Sind die Ablehnung des Reisens als Konsumverzicht, das Verharren im Heimatlichen, vor diesem Hintergrund
nicht eine Provokation des Zeitgeists, der nur im Momentum der Fahrt das Heldische erkennen
will, der alles Heimatverbundene in ein zweifelhaftes Licht rückt und die Bereitschaft zu grenzenloser Mobilität als Selbstverständlichkeit einfordert? Wenn das Reisen seinen romantischen und
bildungsidealistischen Zauber eingebüßt hat, ist dann nicht die Möglichkeit des Verbleibens am
angestammten Ort der eigentliche Luxus? Auch im gegenwärtigen Kontext von Vertreibung und
Flucht gewinnt der Aspekt des Bleiben-Dürfens im Gegensatz zum Gehen-Müssen eine aktuelle
Note. Der Beitrag untersucht anhand ausgewählter Texte von Gottfried Benn, Arno Schmidt und
anderen Autoren des 20. Jahrhunderts, inwieweit die dezidierte Ablehnung räumlicher Veränderung und der Rückzug in die unbewegte Innerlichkeit des Sesshaften zum produktionsästhetischen Habitus wird. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Ortsverbundenheit
einerseits zur Konstruktion einer fragilen literarischen Identität beitragen kann (die jede Ortsveränderung als Infragestellung ihrer selbst fürchten muss) und andererseits das Ausblenden der
äußeren Welt seine eigenen Potenziale und Problematiken birgt.
19.00 Uhr
Abendvortrag in der Landesbibliothek Koblenz:
Prof. Dr. Jürgen Goldstein (Koblenz): „… so mußten meine Leser doch
wissen, wie das Glas gefärbt ist, durch welches ich gesehen habe …“ Etappen der Naturerfahrung von Francesco Petrarca bis Reinhold Messner
Mit dem Buch Die Entdeckung der Natur hat Jürgen Goldstein eine Erfahrungsgeschichte vorgelegt, deren Anfänge bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen: von Petrarcas Besteigung des Berges
Mont-Ventoux in der Provence und Kolumbus’ Entdeckung Amerikas über Alexander von
Humboldts Südamerikareise bis hin zu Reinhold Messners Besteigung des Mount Everest. So
wird ein Entwicklungsbogen erkennbar, der von der zaghaft einsetzenden Lust am Schauen über
die spektakulären Naturerkundungen bis zur heutigen Anschauungsmüdigkeit reicht. Aus den
historischen Erfahrungsberichten spinnt Jürgen Goldstein in seinem Buch eine dichte, fast literarische Erzählung der sich wandelnden Wahrnehmung der Natur, die diese Entdeckungserlebnisse
zu unmittelbarem Leben erweckt. Indem er jene oft brillanten Schriftsteller wie Goethe und
Darwin oder Claude Lévi-Strauss und Peter Handke selbst zu Wort kommen lässt, gelingt es ihm,
die Erzählung als Wissensform zu rehabilitieren und die Leser an der Unmittelbarkeit ihrer Ein8
drücke teilhaben zu lassen. Was die Reisetagebücher, Briefe, Notizen und Erzählungen der Anschauungsnomaden verbindet, ist die Liebe zur Welt.
In seinem Vortrag wird Jürgen Goldstein ein lebendiges Panorama einiger ausgewählter
Schauplätze und ihrer Protagonisten entwerfen. Dabei soll aufgezeigt werden, wie jeweils „das
Glas gefärbt gewesen ist“ (Georg Forster), durch das die Weltentdecker und Welterschließerinnen geblickt haben.
Freitag, 11. November (D 239)
9.00 Uhr
Prof. Dr. Christof Hamann (Köln): Auf Abwegen reisen. Zum Normalitätsdispositiv in Wolfgang Herrndorfs Tschick und Bilder deiner großen Liebe
Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die kulturwissenschaftliche Normalismus-Theorie
Jürgen Links und ihre Adaption auf die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart durch Ute Gerhard in ihrem Aufsatz Anschlüsse an die Therapie- und Normalisierungsgesellschaft – ein kulturwissenschaftlich orientierter Blick auf Kinder- und Jugendliteratur. Ihre These, dass für
aktuelle Kinder- und Jugendliteratur Interfenzen mit kulturwissenschaftlichen Konzepten von
Normalisierung konstitutiv seien und daher eine kulturwissenschaftliche Kontextualisierung auch
dieser Literatur erfolgen müsse, möchte ich anhand einer Untersuchung von Wolfgang Herrndorfs populären Romanen Tschick und Bilder deiner großen Liebe dahingehend erweitern, dass in
dieser Sparte, in Verbindung mit Reisen oder Unterwegssein, neuerdings auch der ‚Thrill‘, das
Austesten und Überschreiten von Normalitätsgrenzen (weniger von normierten Grenzen), und
letztendlich auch ein produktives Ausfantasieren von Anormalitäten möglich ist.
9.45 Uhr
Dr. Anna Magdalena Schaupp (Landau): Reisen, das Geschäft des besseren Lebens? Eine literarisch-philosophische Fingerübung
In seinem Song Willkommen an Bord von 1994 singt Reinhard Mey satirisch über das Fliegen. Das
lyrische Ich des Songtextes ist auf dem Weg zu einer Beerdigung und stellt, während es sich unter
seinen Mitreisenden umsieht, ziemlich lapidar fest „Zur Kontrolle: Vor und hinter mir nur Aktenkofferträger. Ich geb‘s zu, dazwischen seh‘ ich aus wie ‘n echter Bombenleger!“ Man kann
über die Qualität des Liedes mehr als geteilter Meinung sein, aber diese Zeilen bringen zwei Dinge zum Ausdruck, die uns vielleicht heute noch näher sind, als den Weltenbummlern vor gut 20
Jahren: Der Geschäftsreisende steht erstens für Seriosität und Sicherheit. Er erweckt keinen Argwohn, sondern verspricht, Teil einer sozialen Gruppe zu sein, der es ökonomisch gut geht und
die deshalb ein besseres Leben hat als andere. Und dieses Versprechen drückt sich zweitens in
bestimmten Normen aus, wie etwa im Tragen von Anzügen und Aktenkoffern. Alles, was von
den geltenden Normen abweicht, stellt eine Bedrohung dar und erscheint als Attentat auf das
bessere Leben. Jemand, der sich aufmacht, um zu einer Trauerfeier zu gelangen, hat wahrscheinlich ein Auftreten, das nicht unbedingt an ein besseres Leben erinnert. Aber ist das ein Grund
misstrauisch zu werden? Kann vor dem Hintergrund einer derart fragilen und engmaschigen
Normierung des Geschäftsreisenden überhaupt von einer Repräsentantin/einem Repräsentanten
des besseren Lebens gesprochen werden?
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10.30 Uhr
Prof. Dr. Martin Nies (Passau/Flensburg): „Længselens land“ –
Sehnsuchtsziele in parodistischen Reiseerzählungen der dänischen Moderne
Die Erzählung Skovene des dänischen Literaturnobelpreisträgers Johannes V. Jensen (DK 1904,
dt. „Wälder“ 1905) berichtet von der Reise eines namenlosen Protagonisten in das fiktive malaiische Fürstentum Birubunga mit dem Ziel, durch die Erfahrung tropisch-wilder Natur und die
Entgrenzung aus dem bürgerlich normierten Leben den Grad seiner individuellen Zivilisation zu
prüfen – und einen Tiger zu erlegen. Ruft die Geschichte soweit zunächst die typischen Deutungsmuster exotistischen Erzählens auf, erweist sich Jensens Text jedoch als eine Parodie, die
das Narrativ der exotischen Reise und des damit korrelierten (zumindest temporären) Ausstiegs
des Reisenden aus den Grenzen der (Über-)Zivilisation westeuropäischer Gesellschaften, somit
die angestrebte Abweichung von der Norm, bereits elf Jahre vor Robert Müllers Tropen: Der Mythos der Reise als zeitgenössisches Stereotyp entlarvt und metatextuell destruiert. In der Übertreibung und Desavouierung zentraler Motivkomplexe insbesondere aus Knut Hamsuns Roman Pan
(N 1894, dt.1895) und Joseph Conrads Heart of Darkness (GB 1899) stellt der Text sein eigenes
intradiegetisches Realitätskonstrukt infrage und erlaubt, dieses als mögliche Fiktion „nach dem
Geschmack der tausend Heime“ eines Autor-Ichs zu denken, das „an seinem Schreibtisch sitzend
einen tropischen Fluss hinabfährt“. Der Vortrag analysiert und systematisiert auf der Grundlage
der frühen deutschsprachigen Übertragung von Skovene aus dem Jahr 1905 die metapoetischen
Strategien der Reflexion und Desavouierung literarisch „vorgefertigte[r] Wahrnehmungs- und Erfahrungsschemata“ in den in räumlicher und rhetorischer Hinsicht ‚tropischen’ fiktionalen Reisen
der Frühen Moderne. Ergänzend dazu wird mit Gustav Wieds Knagsted (DK 1902, dt. 1965) eine
volkstümlich derbe Variante der Parodie frühmoderner Reisediskurse in den Blick genommen,
die den Titelhelden (Zitat: die „leibhaftige Bosheit“) eine Reise von Dänemark durch das benachbarte Deutschland mit dem Ziel einer Kur in Karlsbad nach exotistischem Muster imaginieren lässt.
11.45 Uhr
Dr. Björn Weyand (Bochum): Schrecklich amüsante Kreuzfahrten. Otto
Julius Bierbaum und David Foster Wallace erproben den (post-)
modernen Tourismus
1907 begibt sich der Schriftsteller, Insel-Begründer, Herausgeber und Übersetzer Otto Julius Bierbaum, eine zentrale Figur im Netzwerk der Moderne, gemeinsam mit seiner Frau Gemma auf
eine durch ein Reisebüro organisierte Kreuzfahrt mit dem Schiff Yankeedoodle der Ocean Comfort
Company. Stationen der 79-tägigen Reise durch das Mittelmeer sind u.a. Genua, Monte Carlo,
Korsika, Syrakus, Jerusalem, Kairo und Konstantinopel. Aus der Reise geht der zwei Jahre später
erscheinende Reisebericht Yankeedoodlefahrt (1909) hervor: Eine Satire über das touristisch standardisierte Reisen, dessen Bildungszweck sich allein an den Informationen des Baedeker orientiert.
Knapp neunzig Jahre später, vom 11. bis 18. März 1995, geht der amerikanische Schriftsteller
David Foster Wallace, eine Ikone der amerikanischen literarischen Postmoderne, für eine siebentägige Karibik-Kreuzfahrt an Bord der Zenith der Celebrity Cruises Inc. und berichtet im Jahr darauf
den Lesern des Harper’s Magazine von seiner Reise. 1997 erscheint eine erweiterte Fassung des
Reiseberichts in Buchform unter dem Titel A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again (dt.: Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich, 1998). Im Vordergrund stehen darin die Konsum- und
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Entertainmentangebote auf dem Schiff, hinter denen die Reiseroute und Landgänge als nachrangig erscheinen.
Der Vortrag vergleicht die beiden Reiseberichte, die trotz ihres zeitlichen Abstands auffällige
Parallelen aufweisen: Beide Autoren begreifen sich als deplatzierte Reisende, die sich in einem
Selbstexperiment in die normierten Pauschalangebote des organisierten Tourismus hineinbegeben. Insofern erscheint ihre Haltung gegenüber den Kreuzfahrten wie selbstverständlich von
Ablehnung geprägt. Zugleich zeigt sich jedoch, dass beide Autoren die Reisen auch amüsant finden – nicht nur, wenn sie über ihre Mitreisenden spotten, sondern ebenso, insofern sie bei allem
Abscheu auch Gefallen an der Reise selbst finden.
12.30 Uhr
Jun.-Prof. Dr. Julia Stenzel (Mainz) u. PD Dr. Jan Mohr (München): Wege
nach innen. Die Reise zum Oberammergauer Passionsspiel seit dem 19.
Jahrhundert
Das seit 1634 regelmäßig aufgeführte, heute weltbekannte Oberammergauer Passionsspiel steht
in der Tradition spätmittelalterlicher geistlicher Spiele, mit denen es noch heute charakteristische
Merkmale teilt. Jedoch haben sich seine pragmatischen Parameter erheblich verschoben. Bereits
seit Mitte des 19. Jahrhunderts lockt Oberammergau ein internationales Publikum an, das von
einer gut organisierten Touristikbranche betreut wird. Von einem lokalen Spielort, wie es im alpenländischen Raum im 17. und 18. Jahrhundert Dutzende gab, wird es zu einem weltweit wahrgenommenen Anziehungspunkt. Oberammergau und sein Passionsspiel versprechen nicht nur
geistliche Erbauung, sondern auch ganz profan Erholung vor exotischer Kulisse und eine theatrale Darbietung abseits der gewohnten Theaterkonventionen.
Nicht nur von der Gemeinde autorisierte Reiseführer, sondern auch eine Vielzahl von Reiseberichten und dokumentarischer Prosa unterstellen weiterhin, das Passionsspiel ermögliche
(über)persönliche spirituelle Erlebnisse. Damit einher geht ein Selbstanspruch der Verfasser, für
moralisch-ethische Impulse empfänglich zu sein. Diese Reisenden stehen vor dem Dilemma, das
eigene Erleben von dem aller Anderen abzugrenzen und dennoch für die eigene Aufmerksamkeitseinstellung und für die christliche Sache in Oberammergau zu werben. Der Besuch in
Oberammergau wird als Pilgerfahrt inszeniert und die Anreise entsprechend dramatisiert.
Mit dieser Figur einer Spannung zwischen einem behaupteten individuellen (und damit unwiederholbaren) Erleben und einem Appell an Nachempfindung durch Dritte unter den Bedingungen eines beginnenden Massentourismus formiert sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine
Konstellation, die für die öffentliche Wahrnehmung und Diskussion des Oberammergauer Passionsspiels noch heute prägend ist.
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