Freitag, 6. November 2015 / Nr. 257 Tagesthema Neue Luzerner Zeitung Neue Zuger Zeitung Neue Nidwaldner Zeitung Neue Obwaldner Zeitung Neue Urner Zeitung Bote der Urschweiz 3 «Der Gemeinderat darf nicht zu einem Abnicker-Gremium degradiert werden» Die Mühen der Gemeinden, genügend Kandidaten für den Gemeinderat zu finden MILIZÄMTER Der Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbands, Reto Lindegger, sieht das Milizsystem in akuter Gefahr. Er sieht unterschiedliche Lösungsansätze, um es zu retten – auch unorthodoxe. Anteil der Gemeinden, welche die Suche als schwierig oder sehr schwierig beurteilen Rolle für Verbände, wie den Schweizerischen Gemeindeverband, die Gemeinden zu unterstützen. 84% 74% Kann die Wirtschaft ebenfalls einen Beitrag leisten? Lindegger: Ja. Manche Unternehmen tun bereits etwas und erlauben es ihren Mitarbeitern, einen Teil ihrer Arbeitszeit für Milizpolitik einzusetzen. Bisher ist das aber nur ein kleiner Teil der Firmen. 71% 60% 50% 40% 36% Ein Potenzial birgt auch die auslän dische Wohnbevölkerung. Die Denk fabrik Avenir Suisse hat kürzlich das passive Wahlrecht für Ausländer auf Gemeindeebene als Chance für das Milizsystem propagiert. Lindegger: In immerhin 600 Schweizer Gemeinden, also etwa einem Viertel, können Ausländer bereits in den Gemeinderat gewählt werden. Um das Potenzial zu erschliessen, reicht aber die rechtliche Möglichkeit allein nicht. Man müsste das Ausländerwahlrecht bekannter machen. Die Erfahrung aus den 600 Gemeinden zeigt, dass bisher relativ wenig Ausländer gewählt wurden. INTERVIEW LUKAS LEUZINGER [email protected] Reto Lindegger, Sie sind regelmässig mit Gemeindevertretern in Kontakt. Mit welchen Herausforderungen kämpfen die Gemeinden in der Schweiz? Reto Lindegger*: Einerseits gibt es politische Herausforderungen, etwa die Raumplanung, die steigenden Gesundheitskosten oder die Unterbringung von Asylsuchenden. Daneben gibt es aber auch strukturelle Probleme: Viele Gemeinden haben Mühe, genug Leute zu finden, die sich in der Exekutive oder in Kommissionen engagieren. UR SZ ZG NW OW LU Quelle: Gemeindemonitoring 2009/10, Grafik: Janina Noser «Ein Milizamt kann ein grosses Plus im Lebenslauf sein.» Was sind die Gründe dafür? Lindegger: Es gibt eine ganze Reihe von Gründen. Einerseits sind es gesellschaftliche Entwicklungen: Es ist ein Trend zur Individualisierung zu beobachten. Entsprechend sind heute weniger Leute bereit, sich in der Gemeinschaft zu engagieren. Gleichzeitig sinkt die Anerkennung für Milizämter. Ich höre immer wieder von Gemeindevertretern, dass Politiker auf kommunaler Ebene zunehmend Kritik ausgesetzt sind – und zwar in einem Masse, bei dem man nicht mehr von konstruktiver Kritik sprechen kann. Es macht ein Amt natürlich nicht attraktiver, wenn man sich in seiner Freizeit – in der Regel bei tiefer Entschädigung – einsetzt und dann am Ende angefeindet und für R E TO L I N D E G G E R Manche Gemeinden haben neue Or ganisationsformen eingeführt, um Milizpolitiker zu entlasten. So haben viele Gemeinden im Kanton Luzern die Mandate ihrer Gemeinderäte zu Teilzeitämtern aufgewertet, manche das sogenannte Geschäftsführer modell eingeführt. In der Ostschweiz ist das Delegiertenmodell verbreitet, bei dem der Gemeindepräsident sein Amt im Vollzeitpensum ausübt. Helfen solche neuen Strukturen, um Exekutiv ämter attraktiver zu machen? Lindegger: Die bisherigen Erfahrungen sind positiv. Wichtig ist, dass es eine klare Trennung zwischen strategischer und operativer Ebene gibt. Ein Geschäftsführer kann sinnvoll sein, der Gemeinderat muss aber weiterhin die strategischen Entscheide fällen und darf nicht zu einem reinen Abnicker-Gremium degradiert werden. Damit würde das Amt des Exekutivpolitikers entwertet. «Es macht ein Amt natürlich nicht attraktiver, wenn man sich in seiner Freizeit einsetzt und dann am Ende angefeindet wird.» R E TO L I N D E G G E R alles verantwortlich gemacht wird, das nicht gut läuft. Hinzu kommen organisatorische Gründe: Viele Leute haben schlicht nicht die Zeit, neben ihrem Beruf noch ein Milizamt auszuüben – zumal der zeitliche Aufwand für solche Ämter gestiegen ist. Wieso? Lindegger: Einerseits sind es mehr Geschäfte, andererseits werden sie immer komplexer. Neben den Sitzungen ist ein beträchtliches Mass an Vorbereitungszeit erforderlich. Und das alles in einer Situation, in welcher der Handlungsspielraum für die Gemeinden immer mehr eingeschränkt wird. Ein immer grösserer Teil der Ausgaben ist fremdbestimmt, sei es durch den Kanton, sei es durch den Bund. Es ist klar, dass man eine Arbeit weniger gern macht, bei der der Handlungsspielraum eingeschränkt ist – gerade wenn man sich ehrenamtlich engagiert. Gibt es auch Unterschiede unter den Gemeinden? Lindegger: Tendenziell haben kleinere Gemeinden mehr Mühe, genug Kandidaten für Milizämter zu finden. Es gibt aber auch kleine Ortschaften, in denen das überhaupt nicht der Fall ist. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass vor allem jene Gemeinden Rekrutierungsprobleme haben, in denen die Bindung zwischen Gemeinde und Bürger generell schwach ist und wo beispielsweise auch das Vereinsleben weniger ausgeprägt ist. Typischerweise sind das Pendlergemeinden, Leere Sitze: Es ist nicht immer einfach, alle Ämter in den Gemeinden zu vergeben. Getty In kleinen Gemeinden herrscht oft Personalmangel MILIZSYSTEM lkz. Das Milizsystem ist nirgends so sehr unter Druck wie in den Gemeinden. Die Hälfte von ihnen haben Mühe, genug Leute für den Gemeinderat zu finden, wie das letzte Gemeindemonitoring 2009 ergab. Gerade in kleinen, ländlichen Kantonen herrscht oft Personalmangel: In Uri klagten nicht weniger als 84 Prozent der Gemeinden über Schwierigkeiten bei der Rekrutierung; ähnlich viele waren es in Schwyz und Zug (siehe Grafik oben). Nicht selten werden Leute in den Gemeinderat gewählt, die gar nicht kandidiert haben. Ein Extrembeispiel ist der Fall der Urner Gemeinde Bauen: Dort wurden 2008 drei Bürger gegen ihren Willen in die Exekutive gewählt. Weil in Uri (wie in Nidwalden) für Gemeinderäte Amtszwang gilt, zogen die drei weg, um ihr Amt nicht antreten zu müssen. Einige Gemeinden haben Massnahmen ergriffen: In Luzern haben viele Gemeinden die Gemeinderäte zu Teilzeitämtern mit angemessener Entlöhnung aufgewertet. Zudem setzt eine wachsende Zahl von Gemeinden auf das sogenannte CEO-Modell. Dabei wird ein vollamtlicher Geschäftsführer eingesetzt, der die operative Führung übernimmt, während sich der Gemeinderat auf strategische Fragen konzentriert. wo die Aufenthaltsdauer der Einwohner unterdurchschnittlich ist. wissen Sinn die Schweiz ausmacht, noch retten kann. Können wir den Milizgedanken in der heutigen Zeit überhaupt noch leben, oder müssen wir ihn aufgeben? stärkte Sensibilisierung der Bürger, welchen Wert die Milizarbeit für die Gesellschaft hat, aber auch für die persönliche Entwicklung. Ein Milizamt kann ein grosses Plus im Lebenslauf sein. Ein grosses Potenzial sehe ich bei Frauen und jungen Bürgern. Heute sind immer noch überdurchschnittlich viele Männer in Exekutiven und wenig Junge. Gefordert sind hier in erster Linie die Gemeinden und die Ortsparteien. Ich sehe aber auch eine Ist das Milizsystem noch zeitgemäss? Lindegger: Davon bin ich überzeugt. Das genossenschaftliche Staatsverständnis, die Idee, dass nicht nur der Staat für den Bürger da ist, sondern umgekehrt auch der Bürger für den Staat, ist zeitgemässer denn je. Die Frage ist eher, ob man dieses Modell, das in einem ge- Wie könnte das Milizsystem denn ge rettet werden? Lindegger: Weil gesellschaftliche Veränderungen eine Rolle spielen, muss man auch dort ansetzen. Es braucht eine ver- Sind Gemeindefusionen ein Weg, um Rekrutierungsprobleme zu lösen? Lindegger: Es gibt zwei gegenläufige Effekte. Einerseits vergrössert eine Fusion natürlich den Kandidatenpool. Andererseits kann sie zu einer gewissen Entfremdung zwischen Bürger und Gemeinde führen, was das Milizsystem wiederum schwächen würde. Es gibt eine Studie aus dem Kanton Tessin, die gezeigt hat, dass nach Gemeindefusionen die Wahlbeteiligung zurückging. Das ist ein Hinweis, dass möglicherweise auch die Bereitschaft sinkt, ein Amt zu übernehmen. Entscheidend ist, wie eine Fusion vonstattengeht, dass die Bürger einbezogen werden und den Zusammenschluss mittragen. Je besser das gelingt, desto grösser ist die Chance, dass das Milizmodell von einer Fusion profitiert. Wir haben nun über verschiedene An sätze gesprochen. Wo sehen Sie das grösste Potenzial für das Milizsystem? Lindegger: Ich denke, wir sind an einem Punkt, an dem wir uns nicht auf eine Lösung fokussieren dürfen. Wenn wir das Milizsystem noch retten wollen und können, müssen wir überall schrauben, wo wir schrauben können. HINWEIS Reto Lindegger (44) ist seit Anfang dieses Jahres Direktor des Schweizeri schen Gemeindeverbandes. Zuvor arbeitete er als Stabschef des Stadt präsidenten von Biel.
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