Die unabhängige Schweizer Tageszeitung Mittwoch 29. Juni 2016 124. Jahrgang Nr. 149 Fr. 3.80, Ausland: € 3.50 / AZ 8021 Zürich Testfahrt Wie der Traum von der Velostadt am Bellevue platzt. Hu! Hu! Hu! Der Schlachtruf von Islands Fussball hallt durch Europa. «Minecraft» Pauls Lieblingsspiel ist der Geniestreich eines Schweden. Wimbledon Bencic, Federer und Bacsinszky live ab circa 14 Uhr. 17 30 13 tagesanzeiger.ch Gemeinden klagen: Bürger wollen keine Ämter übernehmen Die Fäuste, für die unsere Herzen schlugen Der Gemeindeverband schlägt Alarm, weil Exekutiven nicht mehr besetzt werden können. Janine Hosp Kleinere Gemeinden haben heute grösste Schwierigkeiten, ihre Milizämter zu besetzen. Um sie zu unterstützen, startet der Schweizerische Gemeinde verband zum ersten Mal eine Kampagne zu diesem Problem: Er will mit jungen Exekutivpolitikern für Milizämter wer ben. «Das Problem hat ein gravierendes Ausmass angenommen», sagt Direktor Reto Lindegger. Erschrocken ist er, als er die Ergeb nisse einer Studie des Zentrums für De mokratie Aarau sah: Danach fanden 2014 in über 50 Prozent der 213 Aar gauer Gemeinden Wahlen statt, die eigentlich keine waren. Das heisst, dass sich nur gerade ein Kandidat oder eine Kandidatin für einen Sitz finden liess. Vor allem in Gemeinden in ländlichen Gebieten und um grössere Zentren zeigte sich das Problem ausgeprägt. Manche Gemeinden führen bei einem Anwärter auch nur stille Wahlen durch. «Auf diese Weise wird die Demokra tie ad absurdum geführt», sagt Andreas Müller, Vizedirektor von Avenir Suisse. Stille Wahlen bedeuteten, dass Bürger nicht mehr auswählen könnten. So werde nicht mehr unbedingt der fä higste Kandidat gewählt, sondern jener, der sich zum Amt überreden liess. Mül ler konstatiert, dass mangels williger und fähiger Milizpolitiker eine schlei chende Professionalisierung in Gange ist. Manche Kommunen stellen statt eines nebenamtlichen Gemeindepräsi denten regulär einen Geschäftsführer ein. «Aber ausgerechnet jene Person, die nicht gewählt wurde, wird dann zum starken Mann oder zur starken Frau in einer Gemeinde.» Dies, weil sie einen grossen Wissensvorsprung gegenüber den Gewählten hat. Der Gemeindeverband hat nun profi lierte Politiker zu einer Tagung im Okto ber eingeladen, darunter SVP-Präsident Albert Rösti und Hannes Germann, Stän derat und ehemaliger Ständeratspräsi dent. Sie sollen zusammen mit jungen Mi lizpolitikern eine Strategie ausarbeiten und, so ist es angedacht, einen Verein gründen, der das Problem gezielt angeht. Zu weit von der Basis entfernt Der Direktor des Gemeindeverbands for dert, dass sich die bekanntesten Köpfe unter den Politikern für das Milizsystem einsetzen. Er hat den Eindruck, dass die Politiker in Bern heute zu weit von den Kommunen entfernt und sich nicht be wusst sind, wer ihre komplexen Gesetze umsetzen muss: die Milizpolitiker. Er sieht aber auch die Gemeinden in der Pflicht: «Sie müssen ihre Gewohn heiten hinterfragen und Wege suchen, wie sich die Ämter besser mit dem Beruf vereinbaren lassen.» So sollten etwa die Verwaltungen mehr Routineaufgaben übernehmen, um Milizpolitiker zu ent lasten. Heute sei es nicht ungewöhnlich, dass diese Baustellen beaufsichtigen müssten und mitten am Nachmittag einen Ortstermin hätten. Bericht und Interview Seite 3 Heute Nestlé wählt mit Ulf Mark Schneider einen Externen als Konzernchef Nestlé überrascht mit der Nachfolge regelung an der Unternehmensspitze: Mit Ulf Mark Schneider wird per Anfang 2017 ein externer Kandidat neuer Kon zernchef. Vom langjährigen Chef des Ge sundheitskonzerns Fresenius wird ein weiterer Wandel weg vom reinen Nah rungsmittelhersteller erwartet. – Seite 8 Politischer Durchbruch für die Alternativmedizin Der Bund möchte die Komplementär medizin in der Grundversicherung der Schulmedizin gleichstellen. Anders als in früheren Jahren gibt es gegen dieses Vor haben kaum Opposition von den Ärzten, Versicherungen sowie den Kantonen. Dies zeigt eine erste Auswertung der drei monatigen Vernehmlassung. – Seite 42 Service Kommentare & Analysen Börse 10 Leserbriefe 15 Todesanzeigen 24 Fernsehprogramme 36 Veranstaltungen Rätsel Wetter 38 40 41 Abo-Service 044 404 64 64 www.tagesanzeiger.ch/abo Inserate 044 248 40 30 E-Mail: [email protected] Inserate online buchen: www.adbox.ch Redaktion 044 248 44 11, Werdstrasse 21, 8004 Zürich, Postadresse: Postfach, 8021 Zürich [email protected] Leserbriefe www.tagesanzeiger.ch/leserforum Online www.tagesanzeiger.ch,[email protected] «Die Härte der Rechten verbirgt, dass sie die harten Entscheidungen nicht treffen.» Constantin Seibt über die neuen politischen Saboteure. – Seite 12 Kartellbetreiber sind wie Autoraser. Nun können sie leichter hart angepackt werden. – Seite 13 Die Fallpauschalen haben den Kampf der Spitäler um Patienten deutlich verschärft. – Seite 20 Foto: Peter Hoenemann (Photoselection) Carlo Pedersoli hat sich oft neu erfunden, doch seine grösste Erfindung war Bud Spencer. In der Rolle seines Lebens schlug er so gutmütig und gerecht drein, dass er Generationen von Kindern und Erwachsenen verband. Am Montag starb Pedersoli 86jährig. – Seite 31 US-Vergleich: VW zahlt Dutzende Tote bei 15 Milliarden Dollar Anschlag in Istanbul Jugend frustriert über den Brexit der Älteren Rekordstrafe für Volkswagen: Die Bei legung des Dieselskandals in den USA kostet den Autobauer mehr als 15 Milliar den Dollar. Es ist die höchste Wiedergut machung, die ein Autobauer in den USA jemals leisten musste. Mit dem am Dienstag veröffentlichten Vergleich kann Volkswagen Hunderte Sammel klagen von Dieselbesitzern sowie Klagen von Behörden und US-Bundesstaaten aus der Welt schaffen. Die Schweizer Stiftung für Konsumentenschutz rief derweil gestern hiesige VW-Kunden dazu auf, sich einer Klägergemeinschaft in den Niederlanden anzuschliessen, die vom Autohersteller Schadenersatz fordern will. (TA/SDA) – Seite 9 Unter jungen Briten macht sich nach dem Brexit Empörung breit. Drei Viertel der 18 bis 24-Jährigen haben für den Ver bleib in der EU gestimmt. Sie fühlen sich nun von den älteren Wählern um ihre Zukunft betrogen. Allerdings sind von den 18 bis 24-Jährigen nur rund 40 Pro zent an die Urnen gegangen – bei einer Beteiligung von insgesamt 71 Prozent. Die LabourAbgeordneten im britischen Unterhaus haben derweil ihrem Partei chef Jeremy Corbyn das Misstrauen aus gesprochen. Der Entscheid fiel klar mit 172 zu 40 Stimmen. LabourVertreter werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen den Brexit gekämpft zu haben. (TA/SDA) Kommentar Seite 2, Berichte Seite 6, 7 Bei einem Anschlag auf den internatio nalen Flughafen von Istanbul sind Dut zende Menschen getötet und mindestens 60 weitere verletzt worden. Laut dem Gouverneur der türkischen Metropole verübten drei Selbstmordattentäter den Angriff. Über die Nationalität der Opfer war zunächst nichts bekannt. Westliche Sicherheitskreise vermuteten hinter dem Anschlag entweder die TAK – eine Splittergruppe der verbotenen kurdi schen Arbeiterpartei PKK – oder die Ter rormiliz Islamischer Staat. Sämtliche Flüge am Flughafen Atatürk wurden nach dem Angriff gestrichen. Der Flug hafen im europäischen Teil Istanbuls ist der grösste des Landes. (SDA) – Seite 5 3 Tages-Anzeiger – Mittwoch, 29. Juni 2016 Schweiz Milizsystem in der Krise Gemeinderat verzweifelt gesucht Viele Gemeinden ernten in ihrem Bestreben, Exekutivämter zu besetzen, nur Absagen. Das Problem: Ein Grossteil der Bürger ist nicht mehr fähig oder bereit, den Aufwand für ein wenig attraktives Amt auf sich zu nehmen. Janine Hosp Mit Jungpolitikern werben Gemeindeverband Paul Hürlimann ist der mächtigste Mann Hemishofens. Stellt ein Bürger ein Baugesuch oder will einer Geld vom Sozialamt, dann geht sein Gesuch über das Pult von Hürlimann. Hürlimann hat gleich zwei Ämter in der fünfköpfigen Exekutive inne: Er ist Gemeindepräsident und zugleich Gemeinderat und Schulreferent. Und er ist zumindest gemäss Internetseite der Gemeinde der Stellvertreter seines Stellvertreters, den es nicht gibt. Hürlimann hat die Macht nicht gesucht – und auch die damit verbundene Arbeit nicht. Er ist 71 Jahre alt und hätte sich den Ruhestand längst verdient. Aber seit über einem Jahr, seit seiner Vorgängerin der Rücktritt nahegelegt wurde, sucht Hemishofen ein Mitglied für die Exekutive. Nachdem die Findungskommission auch nach Monaten nur Absagen erhalten hatte, erklärte sich Hürlimann, damals Gemeinderat, bereit, das Amt zu übernehmen. Seither sucht die Kommission einen Gemeinderat. Aber noch bevor sie fündig wurde, kündigte bereits der Nächste seinen Rücktritt an. Grund: die hohe Arbeitsbelastung des Amtes. Wahl ohne Kandidaten Nicht nur Hemishofen hat Mühe, vakante Ämter zu besetzen. Viele Gemeinden suchen nach geeigneten Anwärterinnen und Anwärtern. «Das Problem hat sich in den vergangenen Jahren zugespitzt», sagt Reto Lindegger, Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbands. Die Situation ist mittlerweile so ernst, dass der Verband selber in die Offensive geht, um die Gemeinden zu unterstützen (siehe Text rechts). So kommt es wiederholt zu Verzweiflungstaten. Weil in Tujetsch GR kein Einheimischer Gemeindepräsident werden wollte, schrieb die Gemeinde am Ende sogar Ferienhausbesitzer an. Tatsächlich meldete sich ein Interessent, nur verstand der die Amtssprache – Romanisch – nicht. Trotzdem wurde er 2015 gewählt. In Sumvitg GR fand vor ein paar Wochen der zweite Wahlgang für einen Sitz im Gemeindevorstand statt, obwohl es keinen einzigen Kandidaten gab. Die Bürger schien dies nicht zu irritieren. Sie schrieben kurzerhand den Namen des demissionierten Amtsinhabers auf den Schöne Lage, düstere Aussichten: Die Schaffhauser Gemeinde Hemishofen findet keinen neuen Gemeinderat. Foto: C. Paul (Getty) Wahlzettel – und der nahm die Wahl nach einer Bedenkzeit schliesslich an. In Bauen UR hingegen, wo ein Amtszwang gilt, wollten sich drei Gewählte der Wahl entziehen und sahen dafür nur eine Möglichkeit: Sie übersiedelten ins Nachbardorf . In Hemishofen hat die Findungskommission mittlerweile 30 Personen angefragt. Alle haben abgewinkt. Die Zuversicht ist gewichen, bis Ende Jahr alle Paul Hürlimann Gemeindepräsident und Gemeinderat von Hemishofen SH Sitze besetzen zu können. «Es sieht schlecht aus», sagt Kommissionsmitglied Matthias Tanner. Hemishofen hat 450 Einwohner, bald wurden alle angegangen, die infrage kommen. Dabei hatten noch im Februar 115 Stimmende gegen die Schaffhauser Grossfusion und damit für die Selbständigkeit gestimmt. Und Tanner fragt sich: Wo sind diese 115 Personen? Fazit der monatelangen Suche: Der Anreiz, ein öffentliches Amt zu übernehmen, ist zu klein, die Belastung zu gross. Viele Bürgerinnen und Bürger, sagt Tanner, sind heute im Beruf stark gefordert, nach dem Frankenschock noch stärker. Zudem sei der Handlungsspielraum in Exekutivämtern klein geworden: «Man kann nicht mehr gross regieren.» Die Machtkonzentration von zwei Ämtern bei einem Mann bereitet ihm hingegen weniger Sorgen. «Wir sind eine kleine Gemeinde. Käme es zu Unregelmässigkei- ten, würde das am nächsten Tag im Dorf verhandelt.» Die Schaffhauser Verfassung schreibt den Gemeinden eigentlich vor, dass sie fünf Personen in die Exekutive berufen müssen. Bei einer Vakanz sollen sie innert «angemessener Frist» den ersten Wahlgang ansetzen. Diese Frist – sie liegt bei sechs Monaten – ist in Hemishofen aber auch bei grösster Nachsicht längst verstrichen. Dennoch wird der Kanton nicht einschreiten, wie Andreas Jenni sagt, Leiter des Amts für Justiz und Gemeinden. Er würde es erst tun, wenn eine Exekutive nicht mehr funktionsfähig sei, das heisst, wenn ihr weniger als drei Personen angehörten. Jenni ist lieber, einer Behörde gehören vier engagierte Vertreter an, als fünf, von denen einer zum Amt verknurrt wurde. «Aber von der Ferne schauen wir schon nach Hemishofen», sagt er. Von Jahr zu Jahr haben Gemeinden grössere Schwierigkeiten, ihre Ämter zu besetzen. «Nun ist ein gravierendes Ausmass erreicht», sagt Reto Lindegger, Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbands. Deshalb schaltet sich der Verband selber ein. Er will eine Kampagne mit jungen Exekutivpolitikern starten, mit realen Leuten, wie Lindegger sagt. «Sie sollen zeigen, dass Junge in der Exekutive Erfahrungen sammeln können, die sie im Beruf noch gar nicht machen können.» Am ersten Treffen im Oktober will der Verband mit Jungpolitikern eine Strategie ausarbeiten. Geladen ist auch eine Reihe von Politikern, die jung begannen – und es weit gebracht haben: SVP-Präsident Albert Rösti, der frühere Nationalrat Alec von Graffenried (Grüne) oder Ständerat Hans Stöckli (SP). Lindegger hofft, dass er auch Arbeitgebern vor Augen führen kann, dass ein Exekutivamt ihre Angestellten zusätzlich qualifiziert. Heute, so stellt er fest, sind Selbstständigerwerbende, Rentner und Studenten in Exekutiven tendenziell übervertreten. «Es ist nicht ideal, wenn Exekutivmitglieder nicht mehr im Berufsleben stehen», sagt er. Zwar gibt es Unternehmen, die Milizpolitiker in ihrer Belegschaft fördern und sie dafür auch freistellen. Dies sind vor allem Banken, Versicherungen sowie bundesnahe Betriebe, KMU hat es kaum darunter. (jho) So wird Paul Hürlimann bis auf weiteres zwei Ämter ausüben, was etwa einem 60-Prozent-Pensum entspricht. Pro Jahr wird Gemeindepräsident Hürlimann dafür mit 12 000 Franken entschädigt, Gemeinderat Hürlimann mit 8000 Franken. Er wird, wie er sagt, weiterhin während 24 Stunden am Tag in Bereitschaft sein – falls jemand anrufen sollte, dem die Strasse nicht sauber genug ist oder der wissen will, wie gross der Grenzabstand zum Nachbarshaus sein muss. Hürlimann, der Schreiner lernte, dann Polizist wurde, später Werkleiter und Landwirt, ist sachverständig und kann fast immer helfen. Den Hemishofern hat Hürlimann versprochen, dass er jetzt nicht auch noch zurücktritt. Aber: Die Findungskommission müsse Druck aufsetzen. «Ich bin nun 71 Jahre alt», sagt er, «und irgendwann geht es mit mir hintenherunter.» «Das Milizsystem verhindert, dass eine ‹Classe politique› entsteht» Andreas Müller sagt, dass das Engagement trotz allem freiwillig erfolgen müsse. Mit Andreas Müller sprach Janine Hosp Gemeinden haben grösste Mühe, einen Gemeindepräsidenten oder einen Gemeinderat zu finden. Wie ernst ist die Lage des Milizsystems? Das Gebäude des Milizsystems bröckelt stark. Alle paar Jahre werden die Gemeinden befragt, wie es um ihr Milizsystem steht, und bei jeder Umfrage geben mehr an, dass sie Schwierigkeiten haben, ihre Ämter zu besetzen. Man muss sich vorstellen: In der ganzen Schweiz gibt es bei Gemeinden, Schulgremien und Kirchen 100 000 Milizämter, die ständig besetzt sein müssen. Bis jetzt konnte man die Krise des Milizsystems noch überspielen. Aber wenn es so weitergeht wie in den vergangenen Jahren, wird das bald nicht mehr möglich sein. Dann braucht es eine Grundsatzdiskussion. Milizämter sind schlecht bezahlt. Die Gemeinden zahlen ihren Amtsträgern tendenziell mehr als früher. Aber nicht das Geld ist das Problem, sondern die Zeit. Viele Personen sind heute im Beruf stärker gefordert als früher und können sich nicht zusätzlich engagieren. Auch hat ein Amt nicht mehr dasselbe Prestige wie früher. Milizpolitiker stehen häufig in der Kritik – sobald etwa die Steuern erhöht werden müssen, bekommt der Gemeindepräsident böse Mails. Gegen den mangelnden Respekt gegenüber Amtspersonen lässt sich am allerwenigsten tun. Wenn ein Amt besser honoriert würde, brauchten deren Träger daneben weniger zu arbeiten. Im Kanton Luzern etwa werden vollamtliche Geschäftsführer eingesetzt, welche die Exekutivmitglieder unterstützen, die im Nebenamt tätig sind. Das allerdings kann zu einer schleichenden Professionalisierung führen. Ausgerechnet jene Andreas Müller Der Vizedirektor von Avenir Suisse ist auch Herausgeber der Publikation «Bürger staat und Staats bürger. Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne». Person, die nicht gewählt wurde, wird dann zum starken Mann oder zur starken Frau in einer Gemeinde – weil sie einen grossen Wissensvorsprung gegenüber den Gewählten hat. Heute fusionieren Gemeinden, weil sie nicht alle Ämter besetzen können. Mittlerweile ist dies in vielen Fällen oft ein wichtiger Grund für eine Fusion. Aber selbst wenn eine Gemeinde fusioniert, heisst dies nicht zwingend, dass das Problem gelöst ist. Manche Bürgerinnen und Bürger könnten sich weniger mit dem Fusionsprodukt identifizieren und engagieren sich nicht mehr. Nur: Wenn kleine Gemeinden autonom bleiben und sich selber regieren wollen, braucht es Leute, die sich für ein symbolisches Entgelt für das Gemeinwohl einsetzen. Letztlich führt die Personalnot dazu, dass kleine Gemeinden verschwinden. Nicht nur das: Ohne Milizsystem würden auch der Föderalismus und die Subsidiarität infrage gestellt. Deren Idee ist es, dass Entscheidungen auf der untersten Staatsebene in der kleinsten Einheit gefällt werden können, also möglichst nah bei den Bürgerinnen und Bürgern. Wenn Gemeinden in grösseren Einheiten auf- gehen, ist dies nicht mehr möglich. Es besteht auch ein Zusammenhang mit der direkten Demokratie: Das Milizsystem sorgt dafür, dass die Bürger nicht zu Politkonsumenten verkommen. In einer Gemeindeexekutive etwa müssen sie nach Lösungen suchen, die für alle annehmbar sind, und sie müssen Kompromisse eingehen. Sie lernen, seriös zu politisieren. Die Schweiz läuft so weniger Gefahr, dass eine Politik von Schlagworten, Parolen und teuren Kampagnen betrieben wird. Gibt es eine Alternative zum Milizsystem? In anderen Ländern hat sich die Politik professionalisiert. Es hat sich eine «Classe politique» herausgebildet, eine kleine, in sich geschlossene Elite, die das Sagen hat. Das würde in der Schweiz nicht akzeptiert. Das Milizsystem verhindert, dass eine herrschende Politklasse entsteht, denn jeder Teilzeitpolitiker ist auch Bürger und Wirtschaftsteilnehmer. Nur: Die Bürger müssten auch Politiker sein wollen. Sie sollten, wie es John F. Kennedy sagte, nicht schauen, was der Staat für sie tun kann, sondern was sie für den Staat tun können. So würde das soziale Kapital der Bevölkerung fruchtbar gemacht. Aber das kann man nicht befehlen. Kantone wie Uri tun es. Uri kennt den Amtszwang. Viele, die unter Zwang ihr Amt angetreten haben, sind aber wenig motiviert und treten oft zurück, sobald sie ihr Soll erfüllt haben. So geht viel Wissen verloren. Ist das Milizsystem noch zu retten? Dazu gibt es verschiedene Prognosen – hoffnungsvolle und pessimistische. Ein Problem sind die grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen. Die Leute sind mobiler als früher. Viele wohnen nicht mehr dort, wo sie aufgewachsen sind, und fühlen sich ihrer Wohngemeinde weniger verbunden. Schon Pendlergemeinden haben grosse Mühe, Milizpolitiker zu finden. Was schlagen Sie vor? Es wurden schon viele Reformen eingeleitet, trotzdem zeichnet sich keine Trendwende ab. Wenn sich die Situation weiter zuspitzt, hätte ein Bürgerdienst vielleicht eine Chance. Die Idee von Avenir Suisse ist, dass jeder Bürger und jede Bürgerin im Laufe des Lebens etwas für den Staat tun muss. Das kann – wie bisher – der Militärdienst oder Zivildienst sein. Im Unterschied zu heute könnte aber auch ein öffentliches Amt in der Gemeinde als Bürgerdienst angerechnet werden.
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