Peter Strasser Von Göttern und Zombies

Peter Strasser
Von Göttern und Zombies
Peter Strasser
Von Göttern und Zombies
Die Sehnsucht nach Lebendigkeit
Wilhelm Fink
Umschlagabbildung:
William Blake, The Great Red Dragon and the Beast from the Sea (1805),
National Gallery of Art, Washington D.C.
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© 2016 Wilhelm Fink, Paderborn
(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1-3
D-33098 Paderborn)
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-6026-4
Inhalt
Teil I: Die vorletzten Dinge
1. Prolog: Unsterblich im Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2. Letzte und vorletzte Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
3. θεωρία, Vorbei-Schau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
4. Vom schlechten Anfangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
5. Seelisches, dem Weltall eingemischt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Teil II: Das Zombiesyndrom
6. Der Philosophenzombie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
7. Der säkularisierte Zombie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
8. Wir, die Vielzuvielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
9. Der Glückszombie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
10. Kulturzombie-Variationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Teil III: Götterdämmerung
11. Lob der obdachlosen Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
12. Mantra der vorletzten Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
13. Hineinsterben in die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
14. Die Welt als Zufall und Machenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
15. Epilog: Tröstung aus dem heilsamen Dunkel . . . . . . . . . . . . . 104
Nachschrift: Gespräch mit einem Möchtegernzombie . . . . . . . . . 111
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Teil I
Die vorletzten Dinge
1.
Prolog: Unsterblich im Leben
Leben und Lebendigkeit: Es ließe sich mutmaßen, dass das Leben selbst,
in der Vielfalt seiner Erscheinungen, nicht einfach nur der Ermöglichungsgrund von Lebendigkeit sei, sondern stets auch eine Verfehlung
dessen, was man rechtens „lebendig“ nennen sollte.
Lebendigkeit im Ursprungssinne wäre demnach ein Pathosprädikat,
das einzig dem schöpferischen Geist, dem aller Schöpfung zugrundeliegenden geistigen „Prinzip des Lebens“ zustünde. Doch sobald wir
diese Perspektive zu den Phänomenen einnehmen – und ich wüsste
nicht, welche andere Perspektive vor der philosophia perennis standhalten könnte –, sind wir mit ontologischen Abirrungen konfrontiert. Sie
folgen aus dem rätselhaften Umstand der Endlichkeit unseres innerweltlichen Seins und Daseins.
Was lebt, ist demnach immer schon in die Irre gegangen, insofern
das Leben, als Folge der Endlichkeitsneigung des Geistes, zugleich eine
Verkörperung und Selbstentfremdung des Lebendigen darstellt. Die
ganze große Philosophiegeschichte ist eine Variation über dieses UrThema des Existenzialismus, von den Gnostikern aller Epochen über
die Idealisten und Romantiker bis – exemplarisch gesprochen – hin zu
Heideggers „Seyn“ des Seienden.
Die Protagonisten des existenzialistischen Ur-Themas: Götter und
Zombies. Bei beiden handelt es sich um Macht- und Funktionstypen,
die heute wieder auf die wacklige Bühne unserer Kultur zurückkehren,
ja, wie es im Moment scheint, sie so recht erst zu erobern beginnen.
Sehen wir einmal von dem einzigartigen Phänomen des monotheistischen Extremschreckens ab, der sich zurzeit in verschiedenen Weltgegenden breitmacht, dann haben wir es in der mehr oder minder
zivilisierten Welt mit Defektformen einer radikalsäkularisierten Unsterblichkeitsgier zu tun, die einen tiefsitzenden Mangel an Lebendigkeit
verrät.
Kein Zweifel, wir wollen – flankiert von allerlei Pflichtprogrammen
wechselseitiger Rücksichtnahme, bis hin zu Achtsamkeitsexzessen –
werden „wie die Götter“. Jetzt, da die Zeit der lebendigen Götter endgültig vorbei ist, indem wir umwimmelt werden von ihren digitalen
Surrogaten in Fantasy- und Computerspieluniversen, beginnt sich das
Leben von seiner eigenen trostlosen Mechanik bedroht zu fühlen.
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Die vorletzten Dinge
Der Ausweg liegt scheinbar in der technischen Übersteigerung des
biologischen Albtraums „Leben“. Die Welt als Supermachenschaft, der
Techno-Titanismus vom Riesenmaschinenhaften bis zum Nanomoment, mag subjektiv als eine Lebendigkeitsintensivierung verbucht werden. Objektiv vermag das alles – so der monotone Verdacht der Kulturkritik – an der Geistlosigkeit des Lebensmechanismus nichts zu ändern.
Unsere Art der Selbstvergöttlichung endet dabei, das Tote in uns zu perfektionieren, indem wir uns gegen die Sterblichkeit stemmen.
Alles, was wir dabei erreichen, ist der Status von Untoten, die, während sie sich laufend neu erfinden, um dem existenziellen Tod ein
Schnippchen zu schlagen, permanent vor sich selbst auf der Flucht
sind – auf der Flucht vor nervöser Lebenslangeweile, einem Gemisch
aus Trübsal, Misstrost und flirrender Überreiztheit. Auf der Flucht vor
sich selbst erhält alles Zombiehafte einen anderen Namen, wird zu Passion und Heil umgedeutet, so, als ob jeder Akt der Leblosigkeit, der Daseinsgrisaille, ein göttliches Spiel wäre. Das ist der Stand der Dinge.
Die Geste der Neuzeit, so Hofmannsthal, sei der Mensch mit dem Buch
in der Hand, wie der kniende mit gefalteten Händen die Geste einer
früheren Zeit war.
Die Geste am Ausgang der Neuzeit ist das Handy am Ohr (oder der einsam vor sich hin Quatschende mit Headset, die getreue Kopie des Idioten). Das Beisichsein des Lesenden wie des Knienden war die Voraussetzung seiner Teilnahme. Das „Netz“ ist hingegen ein Kürzel für eine
unbegrenzte Menge von Teilnehmern, die nichts und niemanden ausschließt. Nur ein Beisichsein schließt sie aus.1
Das Syndrom besteht im ausgefalteten Wohlbefindens- und Geborgenheitstraum des Zombies, der in einer endlosen Abfolge göttergleicher Lebendigkeitsepisoden als ultimativer Glücksbringer agiert. Dem
Hunger des Nichtbeisichseienden, der mit äußerster Delikatesse oder
rabiater Zugriffslaune alles Willige verschlingt, entspricht die Lust des
Verschlungenwerdens. Zur Achtsamkeitsetikette gehört heutzutage, im
Zeitalter des Gleichheitsgrundsatzes, dass man einander wechselseitig
verschlingt.
Von außen betrachtet sind die neuen Zombiegötter Supernerds im
Zustand globaler Vernetzungseuphorie. Ihr Beisichsein ist der Ausdruck letztmöglicher Externalisierung. Die Utopie: Man hat sich in
alle anderen hinein aufgelöst, bis jeder wesenhaft einzig nur noch sein
Einziger ist.
***
Prolog: Unsterblich im Leben
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Uns Modernen tönt, gleich einem Existenzialtinnitus, immerfort das Orakeln des Kulturkritikers in den Ohren. Er hatte uns, auch wenn sein Prinzip „Hoffnung“ hieß, fürs Erste stets nur Tristes zu prophezeien: den Tod
Gottes, die Heraufkunft des Letzten Menschen. Dem lässt sich mit einer gelehrten Abhandlung, einer „Philosophie für Philosophen“ nur schlecht begegnen.
Man muss, ohne zu verdummen, die Perspektive wechseln. Ein philosophisches Capriccio nicht der letzten, sondern der vorletzten Dinge – ein Lebendigkeitsmancherlei gegen das Grau-in-Grau der Abendlandabgesänge –
tut not. Sein thema probandum: weder Götter noch Zombies, sondern
das, was unsterblich ist im Leben.
2.
Letzte und vorletzte Dinge
Und einige behaupten, dass dem Weltall die Seele eingemischt sei;
vielleicht hat daher Thales geglaubt, dass alles voll von Göttern sei.
(Aristoteles, De anima 411a7; Übersetzung von Wilhelm Capelle)
Da es praktisch schon alles gibt, gibt es auch ein Buch mit dem Titel
Alles voller Götter. Es erschien 1990 auf Deutsch und stammt von dem
griechischen Literaturnobelpreisträger Giorgos Seferis (1900–1971).2
Seferis bemüht eine der ersten Sentenzen, die uns aus der Philosophie
überliefert sind. Sie stammt von Thales von Milet, etwa 624 bis 546 v.
Chr. Mit Thales, so die Lehrbuchweisheit, beginnt, nach mancherlei
orphischen und anderen Vorspielen zwischen Mythos, Geheimlehre
und Naturspekulation, die abendländische Philosophie.
Dass alles voller Götter sei, ist nicht nur ein altgriechischer, es ist darüber hinaus, wie vieles Altgriechische, ein schöner Gedanke. Dieser Gedanke „vergeistigt“ unsere Welt, die unterdessen für viele westliche
Menschen nur noch aus Innerweltlichkeit, aus reiner Faktizität auch im
Wünschen und Wollen besteht, während sie gleichzeitig wieder einmal
die Raserei einer weltfeindlichen, dem religiösen Wahnsinn entsprungenen Transzendenz fürchten muss. Kurz, dieser Gedanke lässt die Götter
bei uns sein, in all unseren endlichen Angelegenheiten und Sachen, ohne
dass wir deshalb gleich jenem Kant’schen „Afterglauben und Fetischdienst“ verfallen müssten, der das uns eingetrichterte, aufoktroyierte
Jenseitsdenken, Jenseitsfühlen und Jenseitshandeln auszeichnet. Wir
waren viel zu lange todesfixiert, und wir sind es heute, unter einem megalomanisch technischen Vorzeichen, vielleicht mehr denn je.
Thales’ Diktum leugnet den Tod nicht. Aber es weist ihm seinen
Platz zu. Er ist da. Wir sehen ihn gleichsam am Rande, als Ōkeanós,
Rundfluss einer Welttapisserie, gewirkt aus Stoff, darin eingemischt
Seelenhaftes. Und indem wir um sein Dasein, sein Rundumsein wissen, lassen wir ihn sein. Wir bemerken, dass dort, wo uns bisher das
Schwarze Loch unserer Existenz in einer ständigen Sorgespirale umtrieb, bis zur Panik des Ewig-leben-Wollens, nun die Sterne eines sanfteren Alltags zu leuchten beginnen – falls uns die Götter gewogen sind.