Forum KI 2015 Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2012. Ergebnisse und Perspektiven der Verstetigung Dr. Christoph Birkel Bundeskriminalamt KI 12 1. Einleitung Vor dem Hintergrund der bislang erfolglosen Bemühungen um eine regelmäßige bundesweite Opferbefragung hat sich das Bundeskriminalamt von Juni 2010 bis Mai 2013 am Forschungsverbund „Barometer Sicherheit in Deutschland“ beteiligt, der im Rahmen des Sicherheitsforschungsprogramms der Bundesregierung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Der Verbund umfasste als eines von neun Teilprojekten eine Dunkelfeld-Opferbefragung, den „Deutschen Viktimisierungssurvey 2012“, der als Grundlage für eine künftige regelmäßige Erhebung konzipiert und vom BKA zusammen mit dem MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg verantwortet wurde. Interessierten Bundesländern erhielten die Möglichkeit, sich an der Dunkelfeldbefragung zu beteiligen, indem sie eine Aufstockung der Anzahl der auf ihr Bundesland entfallenden Interviews finanzierten. Von diesem Angebot haben fünf Bundesländer Gebrauch gemacht. Für die Erhebung wurden zwischen Juni 2012 und Anfang November 2012 durch das beauftragte Sozialforschungsinstitut infas 35.503 telefonische Interviews realisiert, einschließlich ca. 4.400 Aufstockungsinterviews (vgl. oben) und 808 Befragungen aus einer Zusatzstichprobe von Personen mit türkischem Migrationshintergrund. 2. Ergebnisse zu Prävalenz und Inzidenz von Viktimisierungen Unter den sogenannten Personendelikten1 wiesen – bezogen auf die 12-Monats-Periode – Viktimisierungen durch Waren- oder Dienstleistungsbetrug die höchste Prävalenzrate2 auf (4,6%). An zweiter Stelle folgt der Diebstahl persönlicher Gegenstände (3,1%), gefolgt von 1 Bei einem Teil der berücksichtigten Straftaten (Wohnungseinbruchdiebstahl, versuchter Wohnungseinbruchdiebstahl, Fahrraddiebstahl, Diebstahl von Kraftwagen, Diebstahl von Motorrädern etc) ist i. d. R. nicht nur die befragte Person, sondern der gesamte Haushalt betroffen, weshalb die Zielpersonen gefragt wurden, ob derartiges “Ihnen oder einer anderen Person in Ihrem Haushalt” passiert ist (sogenannte Haushaltsdelikte). Bei den restlichen Straftaten ist ausschließlich der Befragte betroffen und es wurde nur nach einschlägigen persönlichen Erlebnissen gefragt – dies sind die Personendelikte. 2 Prävalenzrate: Anteil der Personen bzw. Haushalte, die innerhalb der Bezugsperiode ein- oder mehrmals Opfer wurden, an allen Personen bzw. Haushalten. 1 Körperverletzung (2,8%). Bezüglich der Inzidenz3 dreht sich die Abfolge von Diebstahl (36,5) und Körperverletzung (50,0) freilich um – bei letzterer gibt es mehr Personen, die Mehrfach viktimisiert wurden. Wesentlich seltener ist das schwere Gewaltdelikt Raub (Prävalenz: 0,7%; Inzidenz: 9,3), sowie der Missbrauch von Zahlungskarten (0,5% bzw. 6,7). Bei den Internetdelikten (Bezugszeitraum: 5 Jahre) ist die Prävalenz von Schädigungen durch Malware am höchsten (24,0%), während „Phishing“ und „Pharming“ erheblich seltener genannt wurden (2,4% bzw. 1,4%). Unter den Haushaltsdelikten dominiert quantitativ deutlich der Fahrraddiebstahl (Prävalenz: 3,8%; Inzidenz: 49,0), gefolgt von versuchtem (1,0% bzw. 13,5) und vollendetem Wohnungseinbruchdiebstahl (0,4% bzw. 5,1) mit deutlich niedrigeren Raten. Diebstähle von Kraftwagen und Motorrädern sind besonders seltene Ereignisse. Nur 2 bzw. 1 von 10.000 Haushalten sind hiervon betroffen (Inzidenz: 1,8 bzw. 1,4). Die Rangfolgen nach Prävalenz und nach Inzidenz sind bei Haushaltsdelikten identisch. 3. Regionale Verteilung Aus Platzgründen wurden drei zusammengefasste Deliktkategorien für persönliche Eigentums- und Betrugsdelikte, Gewaltdelikte sowie Haushaltsdelikte gebildet, und für diese bundeslandspezifische Inzidenzraten berechnet. Zunächst zu den persönlichen Eigentums- und Betrugsdelikten (Abb.1): Abbildung 1: Inzidenz von persönlichen Eigentums- und Vermögensdelikten nach Bundesland 3 Inzidenzrate: Anzahl der Opfererlebnisse pro 1.000 Einwohner bzw. pro 1.000 Haushalte 2 Es zeigt sich nicht nur ein deutliches Gefälle zwischen den Stadtstaaten und den Flächenländern, sondern auch erhebliche Variation innerhalb der Flächenländer. Auffällig ist, dass der Stadtstaat Bremen eine erheblich niedrigere Inzidenz als die anderen Stadtstaaten aufweist, die mit der vieler Flächenländer vergleichbar ist. Bei den Gewaltdelikten (Abb.2) kann man gar nicht von einem Kontrast zwischen Stadtstaaten und Flächenländern sprechen. Abbildung 2: Inzidenz von Gewaltdelikten nach Bundesland 3 Auch bei den Haushaltsdelikten findet sich kein klares Gefälle zwischen Stadtstaaten und Flächenländern: Abbildung 3: Inzidenz von Haushaltsdelikten nach Bundesland 4. Anzeigequoten Eine wichtige Information, die Opferbefragungen bereitstellen, sind Erkenntnisse zum Anzeigeverhalten. Nach den Ergebnissen des Deutschen Viktimisierungssurveys variieren die Anzeigequoten (Anteil der Vorfälle, der der Polizei zur Kenntnis gelangte) stark nach Delikt: Abbildung 4: Anzeigequoten 4 5. Mehrfachopfer U. a. im Hinblick auf Präventionsmaßnahmen ist der Umfang, in dem Personen wiederholt viktimisiert werden, von Relevanz. Die Bedeutung mehrfacher Opfererlebnisse unterscheidet sich stark nach Delikt: Abbildung 5: Bedeutung von Mehrfachviktimisierungen 5 6. Multivariate Analysen 6.1 Analysen des Viktimisierungsrisikos Mittels logistischer Regression wurde eine Analyse von Risikofaktoren durchgeführt. Berücksichtigt wurden hierbei die erhobenen sozio-demographischen Variablen sowie die Häufigkeit, mit der die Befragten Abends ausgehen, um ein Theater, Konzert, eine Kneipe, ein Lokal o. ä. zu besuchen. In Analysen für alle elf Delikte haben sich insbesondere die Häufigkeit abendlichen Ausgehens (höheres Risiko von persönlichem Diebstahl, Kraftwagendiebstahl und Fahrraddiebstahl bei häufigem Ausgehen), das Alter (sinkendes Opferrisiko bei zunehmendem Alter), der Familienstand (verheiratete und mit ihrem Gatten zusammenlebende Personen sowie alleinstehende Personen i. d. R. besonders selten betroffen) und der Erwerbsstatus (hohes Risiko von Arbeitslosen, von Gewaltdelikten und Wohnungseinbruchdiebstahl betroffen zu sein; Hausfrauen/-männer besonders von Phishing und Pharming betroffen) als bedeutsam für das Risiko, einmal oder öfters innerhalb der letzten 12 Monate Opfer einer Straftat geworden zu sein, erwiesen. Zudem stieg mit der Häufigkeit der Internetnutzung das Risiko einer Schädigung durch Malware, bei Pharming und Phishing war die Nutzung von online-Banking ein Risikofaktor. Das Risiko eines Zahlungskartenmissbrauchs wurde durch die Nutzung von EC-Karten sowie von Kreditkarten erhöht. 6.2 Analysen der Viktimisierungshäufigkeit für Körperverletzung Sind die Risikofaktoren für wiederholte Opferwerdungen die gleichen sind wie diejenigen für die Wahrscheinlichkeit, überhaupt viktimisiert zu werden? Um dies für Körperverletzungen, bei denen Mehrfachviktimisierungen am häufigsten sind, zu eruieren, wurden „nullinflationierte Negativ-Binomialregressionen“ für die Viktimisierungshäufigkeit berechnet. In einem ersten Schritt wurden Faktoren ermittelt, die bedeutsam dafür sind, prinzipiell dem Risiko eines Opfererlebnisses ausgesetzt zu sein. In einem zweiten Schritt wurden für die Gruppe der Personen, die tatsächlich einem Opferrisiko ausgesetzt sind, die für die Anzahl der Opfererlebnisse relevanten Merkmale bestimmt. Die Resultate für den ersten Schritt entsprachen weitgehend den Ergebnissen der einfachen Analysen der Viktimisierungswahrscheinlichkeit. Die Befunde des zweiten Schritts weisen dagegen darauf hin, dass zum Teil unterschiedliche Faktoren für das prinzipielle Risiko einer Viktimisierung und die Anzahl der Opfererlebnisse von Bedeutung sind: So sind Männer in höherem Maße dem Risiko einer oder mehrerer Viktimisierungen ausgesetzt – die durch6 schnittliche Anzahl der erlebten Körperverletzungen ist für Frauen – wenn sie überhaupt einem Opferrisiko unterliegen – aber höher. Außerdem haben Personen mit mittlerer Reife als höchstem allgemeinem Bildungsabschluss ein höheres Risiko, generell Opfer einer Körperverletzung zu werden – Personen mit maximal Hauptschulabschluss erleben ggf. aber mehr Körperverletzungen. Erwerbsstatus und Familienstand sind für das generelle Opferrisiko bedeutsam – nicht aber die Anzahl der Viktimisierungen. Umgekehrt verhält es sich für den Haushaltstyp, die Wohnortgröße und die Häufigkeit abendlichen Ausgehens. Zu letztgenannter ist anzumerken, dass der Befund, das sowohl Personen, die häufig ausgehen, wie auch Personen die selten ausgehen, häufiger viktimisiert werden als Personen, die einmal im Monat ausgehen, mit Auswirkungen von Opfererlebnissen auf das Freizeitverhalten zusammenhängen dürfte. 7. Vertrauen in die Polizei Es wurden drei Dimensionen des Vertrauens in die Polizei unterschieden: o Vertrauen in die Effektivität der Polizei bei der Verbrechensbekämpfung, o Vertrauen in die distributive Fairness der Polizei im Sinne von wahrgenommener Gleichbehandlung reicher und armer Personen, o und schließlich Vertrauen in die prozessuale Fairness, verstanden als rechtlich und den Umständen angemessener Einsatz von Gewalt. Generell wurde für alle drei Dimensionen ein hohes Vertrauen gegenüber der Polizei ermittelt (Effektvität: 87,0%, distributive Fairness 70,4%, prozessuale Gerechtigkeit 88,0%). Die bloße Tatsache eines Polizeikontaktes hat keine Auswirkung auf das Polizeivertrauen, wohl aber die Qualität dieses Kontaktes: Wer „eher zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ mit dem letzten Polizeikontakt war, hat ein deutlich höheres Vertrauen in die Polizei als Personen, die „sehr unzufrieden“ oder „eher unzufrieden waren“ (Effektivität: 87,5% vs. 73,2%, distributive Fairness 71,9% vs. 68,4%, prozessuale Gerechtigkeit 86,6% vs. 82,8%). Unzufriedenheit mit Polizeikontakten wird vor allem durch eine als negativ erlebte Behandlung durch Polizisten, weniger durch eine als unzureichend empfundene Arbeitsweise ausgelöst: Als häufigster Grund der Unzufriedenheit wird angegeben, dass die Polizei „unfreundlich war“ (71,2%), gefolgt von der Wahrnehmung, dass sie Vorurteile gegenüber dem Befragten zu haben schien (58,6%) oder ihn „ungerecht behandelt“ hat (51,3%). Erheblich seltener wird genannt, dass die Polizei „zu wenig getan oder … zu langsam gearbeitet“ hat (31,6%), sie die befragte Person „nicht auf dem Laufenden gehalten“ hat (14,6%) oder „nicht schnell genug“ kam (12,2%). 7 8. Veröffentlichungshinweis Der größte Teil der vorgestellten Befunde ist im Ergebnisbericht zum Deutschen Viktimisierungssurvey veröffentlicht: Birkel, Christoph/Guzy, Nathalie/ Hummelsheim, Dina/Oberwittler, Dietrich/Pritsch, Julian (2014), Der Deutsche Viktimisierungssurvey 2012. Freiburg: Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. 9. Perspektiven für eine periodische bundesweite Opferbefragung Eine regelmäßige bundesweite Opferbefragung ist im Moment in meinen Augen nicht absehbar: Die Ressourcen des BKA sind begrenzt. Eine Drittmittelfinanzierung wie bei der vorgestellten Befragung ist für eine solche periodische Erhebung schwer vorstellbar. Die Bund-Länder-Projektgruppe „periodische Dunkelfeld-Opferbefragung ist zu keiner Beschlussfassung gelangt. Durch die Aktivitäten einiger Bundesländer (Opferbefragungen in Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen) sind die Chancen für eine Verstetigung des Deutschen Viktimisierungssurveys 2012 nicht gestiegen (Problem der Kompatibilität mit Befragungen der Länder). Bestenfalls dürfte ein „Flickenteppich“ aus Opferbefragungen in einzelnen Bundesländern entstehen, die nur selten auf Dauer gestellt sind und eventuell zwar immerhin vergleichbar sind, aber selbst dann keine Aussagen über Struktur und Entwicklung der Kriminalität für Deutschland insgesamt erlauben. 8
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