Welcher Umfrage kann man trauen? - lu

6 Schweiz
Tages-Anzeiger – Samstag, 20. Februar 2016
Volksabstimmungen
Parolen für den 28. Februar
Umfrageresultate im Vergleich
führte die Umfragewellen jeweils fünf und gut eine Woche vor den Abstimmungen durch.
Abweichung zum Endresultat
Abweichung zum Endresultat
40%
Stipendieninitiative
30%
Pädophileninitiative
20%
10%
Resultat
–10%
Gripen
RTVG
40%
30%
20%
10%
Masseneinwanderungsinitiative
Tag der Abstimmung
GFS
führte die Umfragewellen circa sechs, vier und gut eine Woche vor den Abstimmungen durch.
Tag der Abstimmung
«20 Minuten»
Goldinitiative
Pädophileninitiative
RTVG
Ja: SVP, EDU
Nein: SP, FDP, CVP, GPS, BDP, GLP, EVP,
EDU VD, Economiesuisse, Gewerkschaftsbund
Resultat
Abtreibungsfinanzierung
Gripen
–10%
Fabi
–20%
Umfragezeitpunkt
Lesebeispiel: Bei der RTVG-Abstimmung lag der Ja-Anteil der ersten Umfrage von «20 Minuten»
9 Prozentpunkte tiefer als das Schlussresultat.
Masseneinwanderungsinitiative
–20%
PID
Minarettinitiative
Lesebeispiel: Bei der Minarettinitiative ermittelte GFS in der ersten Welle eine Zustimmung von 39 Prozent,
die Initiative wurde mit 57,5 Prozent angenommen, die Abweichung beträgt 18,5 Prozentpunkte.
TA-Grafik kmh/ Quelle: «20 Minuten», GFS, TA
Welcher Umfrage kann man trauen?
«20 Minuten» und GFS haben diese Woche die Resultate der letzten Abstimmungsumfragen publiziert.
Der «Tages-Anzeiger» zeigt, wer bisher häufiger ins Schwarze traf.
Felix Schindler
Es wird eng am 28. Februar. Claude
Longchamp resümiert in der SRG-Trendbefragung vom Mittwochabend, der
Ausgang der Durchsetzungsinitiative sei
offen, wobei sich der Trend «eher» in
Richtung Nein bewege. Die Zustimmung
der Initiative sei von 51 auf 46 Prozent
gefallen. Konkurrent «20 Minuten», der
wie der «Tages-Anzeiger» zu Tamedia
gehört, war am Mittwochmorgen etwas
verbindlicher: «Die Durchsetzungsinitiative dürfte scheitern.» Laut ihrer Umfrage ist die Zustimmung von 61 auf
43 Prozent erodiert.
Was heisst das nun für den Ausgang
der Abstimmung? Wenig. Denn Umfragen sind keine Prognosen, wie Longchamp bei jeder Gelegenheit betont.
Und trotzdem werden sie von den Lesern als Indikatoren gedeutet. Nicht zu
Unrecht, denn in den letzten zwei Jahren führte keine einzige Umfrage von
GFS und «20 Minuten» völlig in die Irre,
wie eine Auswertung des TA zeigt.
«20 Minuten» macht seit 2014 On­
lineumfragen und lässt diese durch die
Politologen Fabio Wasserfallen und Lucas Leemann gewichten. GFS führt die
SRG-Trendumfrage seit Jahren durch
und setzt auf Telefonbefragungen. Als
Konkurrenten erstellten «20 Minuten»
und GFS bisher zu 18 Vorlagen Umfragen. Ein Vergleich aller Ergebnisse zeigt:
Jene von «20 Minuten» treffen häufiger
ins Schwarze als jene von GFS.
Je näher, desto präziser
Um die Ja-Anteile vergleichen zu können, haben wir die unentschiedenen
Teilnehmer in den Verhältnissen der
beiden Lager auf Ja und Nein verteilt.
Die letzten SRG-Trendumfragen lagen in
sieben Abstimmungen näher am Resultat, die letzte Welle von «20 Minuten»
bei elf Vorlagen. Die durchschnittliche
Abweichung vom Endresultat beträgt
bei «20 Minuten» 6,5 Prozentpunkte,
bei GFS 9,1 Prozentpunkte. Die Resultate
der ersten Wellen von «20 Minuten»
sind jeweils stärker gestreut als bei jener
von GFS, liegen aber auch weiter vom
Abstimmungstermin entfernt.
Berücksichtigt man nur die umstrittensten sechs Vorlagen, ist die Bilanz
ausgeglichen. Dreimal liegt «20 Minuten» näher, dreimal GFS. Bei beiden
beträgt die Abweichung 4,5 Prozent.
­
Dieser Vergleich zeigt, dass beide Methoden die Trends der Meinungsbildung
vergleichbar abbilden. Je näher der Abstimmungstermin kommt, desto eher
decken sich die Resultate der Umfragen
mit den Abstimmungsergebnissen.
Lügen die Befragten?
Die grossen Unbekannten bleiben: Was
geschieht in den nächsten acht Tagen?
Wie entscheiden sich die Unentschiedenen? Und: Verzerrt der berüchtigte Effekt der «sozialen Erwünschtheit» die
Umfragen? Bei Tabuthemen geben nicht
alle Befragten ihre eigentliche Meinung
an. Umstritten ist, ob dieser Effekt 2009
dazu führte, dass die Minarettinitiative
entgegen allen Umfragen angenommen
wurde. So ist dieser Verlauf in der GFSGrafik abgebildet, «20 Minuten» hingegen führte damals noch keine Befragungen durch.
Bei späteren Vorlagen wie Ecopop
und Ausschaffungsinitiative war der Effekt der sozialen Erwünschtheit nicht zu
beobachten. Laut GFS Bern gibt es auch
jetzt keine Hinweise darauf. «Die Befragten gehen knapp von einem Ja aus,
obwohl ausländerkritische Argumente
­
bei den Argumenten klar zum Ausdruck
kommen», sagt Lukas Golder gegenüber
dem TA.
Grafiken Die letzten
Abstimmungsumfragen
datenblog.tagesanzeiger.ch
Durchsetzungsinitiative
SVP schaltete doppelt so viel Werbung
Bei den Werbeausgaben
schwangen die Befürworter
der Durchsetzungsinitiative
im Januar obenaus.
Martin Wilhelm
Die Nein-Kampagne zur Durchsetzungs­
initiative habe «absurde Ausmasse» an­
genommen, beklagte sich SVP-Frak­
tionschef Adrian Amstutz am Donnerstag im «Tages-Anzeiger». Auf die im Januar eingesetzten Werbebudgets kann er
dies nicht bezogen haben: Letzten Monat
ging nur ein Drittel der Ausgaben für
klassische Werbemedien auf das Konto
der Gegner, wie eine Erhebung von
Media Focus zeigt. 740 000 Franken kosteten Pro- und Kontrakampagnen zur
Durchsetzungsinitiative demnach, wobei
dieser Betrag anhand der offiziellen Tarife ermittelt wurde, ohne gewährte Rabatte zu berücksichtigen; 488 000 Franken entfielen auf die Befürworter und
252 000 Franken auf die Gegner.
Die Erhebung von Media Focus bildet
allerdings nicht die gesamten Werbeausgaben ab. So sind Plakate und Print- sowie Onlineinserate erfasst, Versände
und Werbung in sozialen Medien aber
nicht; adressiert oder unadressiert versendete Abstimmungszeitungen und
Flyer sowie Inserate auf Facebook werden somit nicht berücksichtigt.
Ihre Berücksichtigung könnte das Gesamtbild aber durchaus verändern. So
lässt sich die SVP ihre «Extrablätter»
jeweils eine beträchtliche Summe kosten.
Jenes zur Völkerrechtsinitiative der Partei etwa kostete 900 000 Franken, wie
SVP-Sprecherin Silvia Bär damals sagte.
Im Februar dürfte noch deutlich mehr
Geld in den Abstimmungskampf für die
Durchsetzungsinitiative fliessen. Aus der
Auswertung von Inseraten ist bekannt,
dass der grösste Teil der Werbung in den
letzten Wochen vor der Abstimmung geschaltet wird. «Am höchsten sind die
Werbeausgaben in den Wochen vier bis
zwei vor den Abstimmungen», sagt Politologe Laurent Bernhard von der Universität Zürich, wobei bei knappen Abstimmungskämpfen auch in der letzten Woche nochmals grössere Beträge in die
Kampagnen fliessen könnten.
Politologe Bernhard kann sich zudem
vorstellen, dass die SVP angesichts der
knappen Umfragewerte sich in der letzten Woche vor der Abstimmung noch
mit einem provokativen Plakatsujet zu
Wort meldet. Insgesamt schätzt Bernhard die Ausgaben der Befürworter auf
3,5 bis 4 Millionen Franken, jene der
Gegner auf 1,5 Millionen Franken.
Gut gefüllt Kassen
Im Kampf um die zweite Röhre am Gotthard floss im Januar mehr Geld als in
jenem um die Durchsetzungsinitiative.
Auf 451 000 Franken beziffert Media
Focus den Wert der befürwortenden
Werbung, auf 369 000 Franken jenen
der ablehnenden. Das zeigt, dass die
Umweltverbände im Gegensatz zu den
Gegnern der Durchsetzungsinitiative
über gut gefüllte Abstimmungskassen
verfügen. Für Politologe Bernhard ist
dies nicht erstaunlich, da die Umweltverbände über viele Mitglieder verfügen
und sich auf wenige Abstimmungen konzentrieren können. «Wenn sich die fünf,
sechs grossen Umweltverbände zusammentun, kommt ein beachtliches Budget
zusammen», sagt er.
Der Bund bezahlt, die Autofahrer werden geschont
Die Verkehrskommission hat
sich auf die Finanzierung des
neuen Strassenfonds geeinigt.
Sie will damit gleich noch die
Milchkuhinitiative bodigen.
Doris Kleck
Bern
Offiziell gibt es keinen Gegenvorschlag
zur Milchkuhinitiative, die bereits im
Juni zur Abstimmung gelangt. Das Volksbegehren verlangt, dass die Mineralölsteuer im Umfang von rund drei Milliarden Franken vollumfänglich dem Strassenverkehr zugutekommt. Heute fliesst
je die Hälfte in die allgemeine Bundeskasse und in den Strassenverkehr. Eine
Verknüpfung der Initiative mit der
Vorlage zum Nationalstrassen- und
Agglomera­tionsverkehrs-Fonds (NAF),
mit welcher der Bundesrat die Strassenfinanzierung neu regeln will, hatte das
Parlament abgelehnt.
Und dennoch lesen sich die Beschlüsse der ständerätlichen Verkehrskommission zum NAF wie ein Entgegenkommen gegenüber den Initianten. Die
Zweckbindung der Mineralölsteuer für
den Strassenverkehr soll in zwei Etappen auf 60 Prozent erhöht werden. Der
Benzinpreis soll um 4 Rappen steigen.
Mit diesem Konzept will die Kommission
nicht nur die Finanzierungslücke im
Strassenverkehr schliessen. Gleichzeitig
soll auch der Netzbeschluss in die NAFVorlage integriert werden. Dabei geht es
um die Aufnahme von 400 Kilometer
Strasse, für die heute die Kantone zuständig sind, in das Nationalstrassennetz. Das Stimmvolk hatte diese Auf­
klassierung 2013 abgelehnt, weil sie mit
der Erhöhung des Vignettenpreises von
40 auf 100 Franken verbunden war.
Durchsetzungsinitiative
2010 stimmte das Stimmvolk der Ausschaffungsinitiative zu. Das Parlament
verabschiedete ein Gesetz zu deren Umsetzung: Dieses listet über 50 Delikte auf,
nach denen Ausländer ausgeschafft werden sollen. Der SVP reicht das nicht. Mit
der Durchsetzungsinitiative soll ein Deliktekatalog in der Verfassung verankert
werden, um einen absoluten Ausschaffungsmechanismus sicherzustellen.
Die Verkehrskommission kommt also
einem Wunsch der Kantone nach. Diese
akzeptieren dafür die erhöhte Zweckbindung der Mineralölsteuer. Die Automobilisten wiederum werden gegenüber
dem bundesrätlichen Vorschlag geschont, weil der Benzinpreis nur um 4
statt um 6 Rappen steigen soll. Die Zeche
zahlt der Bund: Aus der Bundeskasse
würden 250 Millionen jährlich in Strassenprojekte fliessen. Der Bundesrat will
die Finanzierungslücke einzig mit höheren Benzinpreisen schliessen – und auf
die Integration des Netzbeschlusses verzichten. Für Ständerat Hans Wicki (FDP,
NW) ist klar: Folgt der Ständerat im März
dem Kommissionsvorschlag, dann sei
man für den Abstimmungskampf gegen
die Milchkuhinitiative gut positioniert.
Widerstand kommt von SP und Grünen:
Sie wollen eine maximale Zweckbindung
von 55 Prozent sowie eine Erhöhung des
Benzinpreises um sechs Rappen. «Dieser
Vorschlag belastet die Bundeskasse weniger, und für die Automobilisten ist die
Erhöhung verkraftbar, weil Preis und
Verbrauch von Benzin zurückgehen»,
sagt Claude Janiak (SP, BL).
Weil das Anliegen der Milchkkuh­
initiative aufgenommen wurde, erwarten die Kantone, dass sich der TCS und
der Gewerbeverband hinter den Vorschlag der Kommission stellen, sagt
Christa Hostettler, Generalsekretärin
der Konferenz der Baudirektoren. Ob
dies realistisch ist? TCS-Präsident Peter
Goetschi sieht den NAF auf dem rich­
tigen Weg. Der Verband werde seine
Po­sition zur Milchkuhinitiative in den
kommenden Wochen festlegen. JeanFrançois Rime, Präsident des Gewerbeverbandes, ist zwar mit der Zweckbindung von 60 Prozent zufrieden, stört
sich aber an der geplanten Erhöhung
des Benzinpreises: «Stand heute werde
ich der Milchkuhinitiative zustimmen.»
Zweite Gotthardröhre
Der Gotthard-Strassentunnel muss saniert werden. Um den Verkehrsfluss
während der Sanierungszeit zu gewährleisten, möchten Bundesrat und Parlament eine zweite Röhre bauen. Ist die
alte Röhre renoviert, soll in beiden Tunneln je eine Spur freigegeben werden.
Ja: SVP, FDP, CVP, BDP, EDU, ACS, Astag,
Economiesuisse, Gewerbeverband, TCS
Nein: SP, GPS, GLP, EVP, CVP NW, CVP UR,
EDU VD, Gewerkschaftsbund, Pro Natura, VCS,
WWF
Stimmfreigabe: CVP NE
Initiative gegen die Heiratsstrafe
80 000 Zweiverdiener- und viele Rentnerehepaare zahlen mehr direkte Bundessteuern als Konkubinatspaare in der
gleichen wirtschaftlichen Situation. Die
CVP-Initiative verlangt die Beseitigung
dieser Ungleichbehandlung sowie der
Nachteile von Verheirateten bei der AHV.
Ehepaare sollen gemeinsam besteuert
und die Ehe als Gemeinschaft zwischen
Mann und Frau definiert werden.
Ja: SVP, CVP, EVP, EDU, BDP AG, BDP BL,
Schweizerische Bischofskonferenz
Nein: SP, FDP, GPS, GLP, BDP, Junge CVP ZH,
Economiesuisse, Gewerkschaftsbund, Gewerbeverband, Pink Cross
Stimmfreigabe: BDP SG
Spekulationsstoppinitiative
Die Initiative will Banken, Pensionskassen
und weiteren Anbietern den Handel mit
Finanzprodukten verbieten, die an Agrarrohstoffe gekoppelt sind. Ausgenommen
wäre die «nützliche» Finanzspekulation,
die Bauern oder Händlern hilft, Termine,
Mengen und Preise abzusichern. Die Initianten erhoffen sich weniger spekulationsbedingte Preisschwankungen.
Ja: SP, GPS, EVP, Gewerkschaftsbund,
Kleinbauernvereinigung, WWF
Nein: SVP, FDP, CVP, GLP, BDP, EDU, Bankiervereinigung, Economiesuisse, Gewerbeverband
Entwicklungshilfe
reduzieren
Die finanzielle Lage des Bundes setzt die
Entwicklungshilfe unter Druck. Die Finanzkommission will die Entwicklungshilfe-Quote bis 2020 drastisch senken.
Mit 11 zu 10 Stimmen bei 2 Enthaltungen
hat sie beschlossen, eine Ergänzung der
Legislaturplanung zu beantragen: Bis
2020 soll die öffentliche Entwicklungshilfe auf 0,3 Prozent des Bruttonationaleinkommens gesenkt werden. Damit
greift sie der Diskussion über das Budget
der internationalen Zusammenarbeit für
die nächsten vier Jahre vor; der Bundesrat hatte am Mittwoch vorgeschlagen,
dafür 11 Milliarden auszugeben, was gemäss Schätzungen des Bundes einer
Quote von 0,48 entspricht. Der Entscheid der Finanzkommission macht es
unwahrscheinlich, dass diese Pläne das
Parlament schlank passieren. Doch die
Kommission will nicht nur sparen, sondern die Aufgaben des Bundes reduzieren. Der Bundesrat soll beauftragt werden, das Budget dauerhaft um eine halbe
Milliarde Franken zu entlasten. (SDA)
Korrekt
Unvollständige Grafik
In der Tabelle der Vorlagen mit den höchsten Stimmbeteiligungen im TA vom 18. Februar fehlten vier Vorlagen: die Volksinitiativen für den UNO-Beitritt (Stimmbeteiligung 58,4 Prozent) und für kürzere
Arbeits­zeiten (58,3), beide 2002, sowie
der Beitritt zu Schengen-Dublin (56,6)
und das Gesetz über die eingetragene
Partnerschaft (56,5) beide 2005. (TA)