Ich kann mein Kind nicht lieben

Ich kann mein Kind nicht lieben Ich kann mein Kind nicht lieben
Ich kann mein Kind nicht lieben
Manchmal melden sich Eltern in der Psychotherapeutischen Elternambulanz, die vermitteln, dass sie Mühe haben, ihr Kind wirklich anzunehmen.
Sie berichten, dass es ihnen schwer fällt, Intimität und Nähe zuzulassen und
sich auf eine emotionale Bindung einzulassen. Bisweilen schildern sie auch,
dass zu einem Kind eine gute Beziehung herrscht, aber zu einem anderen
Kind das Gegenteil der Fall ist. Manchmal schildern die Eltern, dass das
eine Kind lieb und zugänglich sei, das andere aber sperrig und widerborstig.
Nun gibt es zweifellos Temperamentunterschiede oder Unterschiede, wie
Kinder in Kontakt treten und wie viel Charme, soziale Kompetenz und
Aktivität sie mitbringen. Natürlich haben Kinder unter Umständen auch
unterschiedliche Schicksale – sie haben z. B. einen anderen Vater, haben
eine medizinische Krankengeschichte oder eine
Problematik in Hinblick auf die Regulation
von Spannungen und Emotionen.
Es gibt aber auch elterliche Faktoren,
die dafür sorgen, dass Unterschiede
zwischen den Kindern gemacht werden. Es sind ja die eigenen Gefühle,
die durch die Kinder aktiviert werden und wenn die eigenen Gefühle
widersprüchlich oder wechselhaft
sind, dann ist es psychisch entlastend,
die Ursachen für das eigene Erleben der
Umwelt zuzuschreiben. Es ist in der Regel
nicht so einfach, anzuerkennen, dass man
selbst ungerecht und lieblos ist. Einfacher ist
es, den anderen verantwortlich zu machen und
sich somit psychisch zu entlasten. Diese Mechanismen der Schuldzuweisung bewirken
etwas beim anderen. Das „böse“ Kind wird
sich vermutlich irgendwann mit der ihm zugeschriebenen Rolle identifizieren und tatsächlich
„Ich weiß nicht, ob ich
annehmen, dass es nicht liebenswert sei.
dich w
­ irklich lieb habe.“
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Anderssen-Reuster: Wie Bindung gut gelingt. ISBN: 978-3-7945-3099-1. © Schattauer GmbH
6 Gespenster im Kinderzimmer
Angst vor eigener Verletzlichkeit
Neben der psychischen Entlastungsfunktion gibt es aber auch noch andere
wichtige Mechanismen, die es Eltern manchmal schwer machen, sich auf
ein Kind einzulassen. So ist es tatsächlich nicht so einfach, sich auf die
Verletzlichkeit und seelische Offenheit eines Babys einzulassen. Um dem
Kleinen in dieser Qualität nahe zu sein, braucht es beim Gegenüber gleichfalls diese seelische Zartheit und Verletzlichkeit. Wer aber befürchten muss,
in solchen weichen und offenen Zuständen tatsächlich verletzt zu werden,
wird sich hüten, sich so weit zu öffnen und angreifbar zu machen. Man
glaubt oft unbewusst, dass eine raue Schale, ein Panzer aus Muskulatur und
wachsamer, nach außen gerichteter Aktivität nötig ist, um nicht verwundet
zu werden. Leider verhindert ein solcher Abwehrpanzer den Zugang zu
zarteren seelischen Erfahrungen, sowohl bei sich selbst als auch beim Baby.
Es braucht somit tatsächlich Mut zur Verletzbarkeit, um mit sich selbst und
seinem Kind in einen verbundenen seelischen Kontakt zu kommen.
Schließlich gibt es noch das Problem, dass man sich selbst als Kind mitunter
nicht mochte. Ein Kind, das unglücklich und schwierig war, ist vielleicht
nicht so bequem, wie ein kleiner Sonnenschein. Der Kontakt mit dem eigenen Kind kann nun Erinnerungen an eigene, vielleicht schwierige Kindheitserfahrungen hervorrufen, ohne dass man sich dessen tatsächlich bewusst
wäre. Um dem aus dem Weg zu gehen, wird das eigene Kind auf Distanz
gehalten. Ein Mittel dazu kann sein, dass man eine tiefere Nähe zu seinem
Kind vermeidet.
Mein Sohn ist mir lieber als mein Mann
Wenn die Mütter manchmal sehr bedürftig oder im Umgang anstrengend
sind, dann kann es vorkommen, dass sich die Männer und Väter rar machen
oder auch die Familie verlassen. Mitunter sind beide Eltern hinsichtlich ihrer
Fähigkeit, sich auf eine nahe Bindung einzulassen, beeinträchtigt. Gerade in
nahen Beziehungen wird das Bindungssystem zwangsläufig aktiviert. Wenn
dabei alte Erfahrungen von Einsamkeit und mangelndem Verständnis akti-
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Mein Sohn ist mir lieber als mein Mann Mein Sohn ist mir lieber als mein Mann
viert werden, ist das für das Paar nicht leicht. Notwendig wäre es, über diese
Dinge miteinander zu sprechen – dann kann eine Liebesbeziehung tatsächlich heilsam sein und korrigierende emotionale Erfahrungen ermöglichen.
„Du bleibst doch bei mir – oder?“
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Anderssen-Reuster: Wie Bindung gut gelingt. ISBN: 978-3-7945-3099-1. © Schattauer GmbH