Die bleichen Berge Geschichte über die Dolomiten, wie sie zu ihrer bleichen Farbe kamen Es war einmal ein Königssohn, dessen Vater Herrscher über ein großes Reich war. Dieses Reich lag im südlichen Alpengebiet und die Menschen, die darin lebten, liebten es für ihre grünen saftigen Wiesen, den blau glänzenden Seen und den felsigen schwarzen Bergen. Auch der junge Prinz liebte sein Land über alle Maßen, tagsüber jagte er durch Wiesen und Wälder und war mit sich und der Welt im Einklang. Und doch war er nicht glücklich: Brach zur späten Stunde die Nacht herein und sah er den Mond am Himmel leuchten, überkam ihn eine unermessliche Sehnsucht nach dem leuchtenden Himmelskörper. Bei Vollmond war sein Wunsch am stärksten, da wanderte er vom Abend bis zum nächsten Morgen ruhelos durch die Wiesen und Wälder und schaute erwartungsvoll nach der nächtlichen Lichtkugel. Die Sehnsucht wurde so groß, dass ihn bald auch der Tag und die Jagd mit seinen Gefährten nicht mehr freuten und so wandelte der Prinz immer trauriger durch seines Vaters Land. Dabei suchte er die weisen Leute seines Lande auf, um sie zu fragen: „Kannst du mir sagen, wie ich zum Mond komme?“ Doch niemand hatte eine Antwort auf seine Frage, keiner ein heilendes Mittel gegen die unstillbare nächtliche Sehnsucht. Eines Tages, an einem jener gedankenverlorenen trübseligen Tage der Jagd, verirrte er sich im Wald und als sich die Wolken am Himmel rot färbte, legte er sich zum Schlafen auf ein weiches Moos nahe eines einsamen, mit blühenden roten Alpenrosen bedecktes Feld. Vom vielen Laufen müde, schlief er auch gleich ein und hatte einen merkwürdigen Traum: Er stand auf einer weiten Wiese, die mit seltsamen weißen Blumen wie tausend kleine silberne Sterne übersät war. Und vor ihm stand eine silberne Gestalt, einem Engel gleich, ein wunderschönes Mädchen in einem silbernen Gewand. Auf den Lippen ein liebliches Lächeln. Verwundert ob ihren Liebreiz und verlegen von ihrer Schönheit, verschlug es dem Königssohn die Sprache und er senkte seinen Blick. Da wurde er sich der Blumen in seiner Hand gewahr, einem Strauß feuerroter Alpenrosen. Wortlos reichte er die Rosen dem Mädchen, sie nahm sie lächelnd an und sagte: „Woher kommen diese prächtigen Blumen?“ Der Prinz sah fasziniert das leuchtende Rot in ihrer bleichen Hand inmitten der weißen Wiese und erwiderte dann: „Sie wachsen in den Bergen meiner Heimat. Ich schenke sie dir.“ Das Mädchen sprach abermals: „Sie sind wunderschön. Ich habe noch nie Blüten in solch leuchtenden Farben gesehen. In meiner Heimat ist alles silbern und weiß.“ Diese Worten erinnerten den Königssohn an den Mond und aufgeregt fragte er das fremde Mädchen: „Woher kommst du und wer bist du?“ „Ich bin die Tochter des Mondkönigs und ich erwarte dich im Mondenreich meines Vaters“ erwiderte die Mondprinzessin. Da überkam den Prinzen eine unbeschreibliche Freude und er erwachte, mit dem Glücksgefühl im Herzen. Mitternacht war gerade vorbei und am klaren Sternenhimmel leuchtete der Vollmond. Das bleiche Licht flutete über das Rosenfeld, neben dem der Königssohn noch immer lag. Unruhe packte den Prinzen und er stand auf, um eilig Alpenrosen zu pflücken, in der Hoffnung, der Mondprinzessin erneut zu begegnen. Da war es ihm, als hörte er von irgendwo zwischen den Felsenwänden den Klang einer Stimme. Er hielt inne, vernahm aber nur mehr das Plätschern des Wasserfalls. Der Prinz kniete sich nieder, um weiter zu pflücken, als er wieder die Stimme vernahm, diesmal deutlicher. Langsam folgte er dem Klang der Stimme, eine Melodie kam von einem hohen Felsenturm, dessen Spitze eine dichte weiße Wolke umhüllte. © Kathrin Gschleier 1 Der Prinz ging um den Fuß des Felsen herum, suchte nach einem Aufstieg und kletterte schließlich auf der weniger schroffen Rückseite des Felsen empor, ohne jedoch die Alpenrosen aus der Hand zu legen. So kam er der Stimme in der Wolke immer näher. Mutig stieg er in den weißen Nebel hinein und tastete sich bis zur Zinne blind vorwärts. Da, eine Tür, sein Kopf stieß mit einem lauten Knall dagegen. Es dauerte einen kleinen Augenblick, als ein alter bärtiger Mann unwirsch die Türe öffnete und erschrocken zurückfuhr. Der Eindringling entschuldigte sich rasch und sagte: „Ich bitte vielmals um Verzeihung guter Mann. Ich habe mich in den Bergen verirrt und habe eure Stimme vernommen. Wohnt Ihr hier so einsam in diesen verlassenen Bergen?“ Beruhigt durch seine freundlichen Worte, hieß der alte Mann den Prinzen in den hell erleuchteten Raum eintreten und stellte sich ihm vor:„Ich sind ein Bewohner des Mondes und halte hier auf der Erde nur eine kurze Rast von meiner großen Reise im Weltenraum“. Dem Königssohn hüpfte vor Freude das Herz, wähnte sich seinem Ziel so nah, während der Mann weiter hinzufügte: „Es ist jedoch an der Zeit, dass ich mich wieder auf den Weg zurück mache.“ Aufgeregt über die Bekanntschaft mit einem Mondenbewohner, flehte der Prinz: „Bitte nehmt mich mit auf Euren Weg. Ich wünsche mir schon seit vielen Jahren nichts sehnlicher, als einmal im Leben auf den Mond zu kommen. Bitte erfüllt mir diesen Wunsch und nehmt mich mit.“ Der Mann lachte ob so viel jugendlichen Überschwangs und weil er seine Freude am jungen Prinzen hatte, stimmte er der Bitte zu. Sogleich löste sich die Wolke von der Felszinne und schwebte dem Himmel entgegen. Während der Reise erzählte der junge Prinz von seinem Reich und dessen Bewohnern, von seinem Heimatschloss und seiner Herkunft, und von seinen Träumen nach dem Mond. Da wurde der Mann plötzlich sehr ernst und sagte: „Als Erdbewohner wirst nicht lange auf dem Mond verweilen können, denn die Menschen ertragen das weißsilberne Licht unserer Landschaft nicht. Du wirst langsam daran erblinden. Ebenso kann auch ein Mondbewohner nicht lange auf der Erde bleiben, denn die dunklen Wälder und schwarzen Berge lassen ihn aus Sehnsucht nach den heimatlichen silberfarbenen Bergen trübselig werden.“ Der Prinz merkte sich die Worte wohl, doch dachte er nichts anderes, als dass sich seine Sehnsucht endlich erfüllen würde. Da spürte er auch schon harten Boden unter sich und setzte seinen Fuß auf die kahle Mondoberfläche. Der Alte verabschiedeten sich von ihm, wünschte ihm Glück und wies ihm den Weg nach Osten, in Richtung der Hauptstadt. Wohlgemut setzte der Prinz seinen Weg fort, durch weißsilberne Blumenwiesen, auf kahlen Pfaden und sonnendurchfluteten Felsenwänden entlang. Es dauerte nicht lange, da sah er die Häuser und Türme der Stadt, aus prächtigen weißen Steinen gebaut. Inmitten der Stadt aber hob sich ein Schloss empor, dem der Prinz eiligen Schrittes entgegen ging. Ein Gärtner stand davor, der mit Erstaunen die leuchtenden Alpenrosen in der Hand des Prinzen sah und ihn mit Blick auf die Blumen bat, ihm in das Schloss des Mondkönigs zu folgen. Er öffnete das schwere Tor und gab den Weg frei für die glänzendenweißen Wandflächen und Gemälde, führte den Prinzen durch zahlreiche Vorhallen und Gänge bis hin zu einem großen licht erfüllten Saal, in dem der König auf einem silbernen Throne saß. Der Mondkönig war ein freundlicher ehrwürdiger Mann, der den Königssohn freundlich empfing und ihm auch gleich seine Tochter, die Mondprinzessin, vorstellte, die neben ihm saß und ihn lächelnd ansah. Da erkannte er in ihr das wunderschöne Mädchen, das er im Traum gesehen hatte. Voll Freude über das Wiedersehen reichte er ihr die Bergrosen, die sie voll Entzücken nahm und ihm freundlich dafür dankte. Als der Mondkönig das Glänzen in den Augen seiner Tochter sah, bat er den Königssohn, als Gast in seinem Schloss zu verweilen. Überglücklich über die Gastfreundschaft und über die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches, bezog der Prinz ein Zimmer im Schloss des Königs. In den folgenden Tage und Wochen begleitete ihn seine reizende Tochter auf seinen ausgedehnten Wanderungen in die © Kathrin Gschleier 2 Umgebung und durch die traumhafte Mondlandschaft. Sieben Tage lang vergingen in solchem Glück, in denen sich der Prinz und die Prinzessin aneinander erfreuten. Und wieder sieben Tage, in denen er Gelegenheit hatte, ihr von seiner Heimat erzählte. Doch als die darauf folgenden sieben Tage anbrachen, schimmerten die Felsen für den Prinzen plötzlich nicht mehr so hell und die Wiesen waren nicht mehr so weiß, der Palast nicht mehr silbern und ein leichter Nebel zog sich über des Prinzen Augenlicht. Ein Nebel, der von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde dichter wurde. Erschrocken erinnerte sich der Prinz an die Warnung des alten Mannes und er wandte sich an die Prinzessin mit den Worten: „Die Mondlandschaft ist die schönste, die ich je gesehen habe und ich würde gern für immer hier bei euch bleiben, aber der helle Glanz droht meine Augen zu erblinden. Ich muss gleich wieder auf die Erde zurück.“ Da sah er Tränen in ihren Augen und wusste, dass er ohne sie den Mond nicht verlassen konnte. Also bat er die Prinzessin: „Bitte komm mit mir auf die Erde. Ich werde dir mein Reich zeigen und dich zu meiner Alpenkönigin machen.“ Glücklich willigte die Prinzessin dem Versprechen ein und folgte dem Prinzen auf die Erde. Auf der Erde indes suchten die Gefährten unentwegt nach dem Königssohn und kehrten schließlich ohne ihn an den königlichen Hof zurück. Der König grämte sich sehr über den Verlust seines Sohnes und schickte die Gefährten mit den Worten fort, sie dürfen ihm ohne seinen Sohn nicht mehr unter die Augen treten. Als man im Land schon glaubte, dass er des Nachts im Gebirge zu Tode gekommen war, senkte sich eines Nachts blitzschnell eine Wolke über den Himmel herab und der Königssohn samt Mondprinzessin stiegen daraus hervor. Die freudige Kunde von der Ankunft des Paares verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch das Alpenreich. Die Leute kamen, um der Hochzeit der Kronprinzessin mit dem Königssohn beizuwohnen und waren angetan von der königlichen Anmut und der lichten Schönheit der jungen Frau. Wo sie hintrat, wich der dunkle Schatten durch ihren hellen Glanz und sie selbst warf keinen eigenen Schatten, nicht mal in der Sonne. Auch staunten die Menschen über die weißen Sternenblumen, welche die Mondprinzessin aus ihrer Heimat mitgebracht und im Schlossgarten gepflanzt hatte. Die Menschen nahmen deren Samen mit auf ihre Almhütten und so verbreitete sich die silberne Sternblume rasch im gesamten Alpengebiet. Die Menschen gaben der Blumen ob seiner edlen Herkunft den Namen Edelweiß. Die Zeit verging und Prinz und Prinzessin waren glücklich vereint. Der Prinzessin gefiel die bunte Pracht auf Erden und der Königssohn verbrachte viel Zeit, ihr auf ausgedehnte Wanderungen die Schönheiten des Landes zu zeigen: die farbigen Blumen, Sträucher und Bäume, das sanfte Grün der Wiesen und Weiden, das zarte Gelb der Felder und das glänzende Blau der Bäche, Seen und Flüsse. Eines Abends jedoch kam der Königssohn von der Jagd nach Hause kam und sah seine Frau am offenen Fenster stehen. Sehnsüchtig schaute sie zur Mondsichel, ängstlich auf die darunter liegenden dunklen Berge und eine Träne fiel auf ihr silbernes Gewand. Der Königssohn hatte wohl bemerkt, dass sie in letzter Zeit immer blasser und schwächer geworden war, doch nun verstärkte sich seine Ahnung über den Grund ihres Kummers. Sanft trat er hinter ihr ans Fenster und sagte: „Was ist es, was dich so traurig macht?“ Die Prinzessin lächelte verlegen und sagte: „Ich bin sehr glücklich bei dir, in den Wiesen und Täler deines Reiches, aber mich plagt seit einiger Zeit eine tiefe Sehnsucht nach dem hellen Monde. Die Furcht vor den dunklen Berge, die sich wie finstere Unholde in den Himmel erheben, wird von Tag zu Tag unheimlicher und droht, meine Seele zu erdrücken. Ich muss gleich wieder auf den Mond zurück.“ Der Prinz erschrak, denn er erinnerte sich an die Worte des weisen Alten und er suchte nach Möglichkeiten, um die Angst der Prinzessin vor den finsteren schattigen Bergen zu lindern und sie damit zum Bleiben zu bewegen. Doch mit jedem Tag wurde die Prinzessin schwächer und als die Prinzessin schließlich so krank war, dass man um ihr Leben fürchten © Kathrin Gschleier 3 musste und der Mondkönig davon erfuhr, begab er sich zu ihr auf die Erde. Er erklärte seinem Schwiegersohn, dass er sie nicht sterben lassen wolle und sie deshalb wieder auf den Mond zurückkehren musste. Doch ohne die Prinzessin konnte der Prinz nicht mehr sein, weshalb er wiederum sein Reich und alles andere hinter sich ließ und seiner kranken Gemahlin auf den Mond folgte. Auf dem Mond wurde die Mondprinzessin schnell wieder gesund, aber das Augenlicht des Prinzen verdunkelte sich abermals von Stunde zu Stunde, bis er weder den Glanz des weißen Mondlichtes, noch die Schönheit seiner Gemahlin zu erkennen vermochte. Da zwang ihn der Mondkönig aus Angst um dessen Gesundheit, rasch den Mond zu verlassen. Der Prinz gab schließlich nach und nahm schweren Herzens Abschied von seiner Gemahlin. Auf der Erde zurück, heilten zwar die Augen, aber sein Herz blieb krank vor Sehnsucht nach seiner Gemahlin. Des Nachts irrte er ruhelos auf den Bergen umher und schlief tagsüber in Felsenhöhlen und unter freiem Himmel. Nirgends fand er Trost und Frieden. An Vollmondnächten bestieg er wagemutig die hochragenden Zinnen, um dem Mond so nahe wie möglich zu sein. Manchmal drohte er abzustürzen, aber die Sehnsucht nach der Mondprinzessin war stärker. Immer weiter entfernte sich der Königssohn dabei von den Menschen. Es waren Wochen vergangen, als er das letzte Mal einer menschlichen Seele begegnet oder ein menschliches Wort über seine Lippen gekommen war und er versank vollends in seinem tiefen Kummer. Da überraschte ihn eines Abends ein furchtbares Gewitter, dass er in eine nahe gelegene Höhle flüchtete. Erleichtert über den sicheren Unterschlupf blickte er auf die Wassermassen, die wie von Schleusen geöffnet, auf die Erde niederprasselten. Dabei bemerkte er das alte seltsame Weiblein nicht, das auf einem Stein im hinteren Teil der Höhle saß. Sie hatte langes weißes Haar, war von edlem Antlitz, aber sonderbar traurigen Gemüts. Sie blickte den Prinzen lange an, bevor sie das Wort an ihn richtete: „Ich sehe, du hast dich hier in den Wäldern verirrt.“ Erschrocken erblickte der Prinz die alte Frau, doch ihre Stimme klang so sanft, dass er rasch Mut fasste und sie fragte: „Wer seid ihr, gute Frau? Und was macht ihr hier, so einsam und verlassen?“ Da hob das Weiblein an, ihre Geschichte zu erzählen: „Ich bin die Königin der Zwerge, die hier vor langer Zeit mit dem Zwergvolk in Frieden lebten. Mein Volk war sehr fleißig, es hat die Almen gemäht, die Acker bebaut und die Tiere der Almen und des Waldes versorgt. Doch ein fremdes Kriegsvolksvolk ist feindlich in mein Reich eingedrungen, hat mit Schwertern und Bränden alles verwüstet, sodass wir unsere Heimat hinter uns lassen mussten. Wer nicht durch die grausame Menschenhand starb, zog sich zurück in die hintersten Winkel der Berge, versteckte sich in einsamen Höhlen und Sümpfen, verlassenen Dächern und Kellern, dorthin, wo keine Menschenseele uns finden würde. Doch es schmerzt mich anzusehen, dass mein Volk von Jahr zu Jahr weniger wird, vor Hunger stirbt oder in fremden Ländern Unterschlupf findet. Hier sitze ich, mein Los zu ertragen und in der Hoffnung auf bessere Tage.“ Da hob der Prinz seinerseits an, seine Leidensgeschichte zu erzählen, die ihm nicht minder grausam erschien: das Schicksal, als Königssohn von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Monde berührt, der Erfüllung seiner Träume auf dem Mond, die wundersame Liebe der Mondprinzessin, aber auch die Unmöglichkeit der Zweisamkeit durch die bitteren Folgen für jenem, der seine Heimat verließ. Die weise Alte lächelte, als sie die Geschichte vernahm. Doch der Königssohn wurde nachdenklich, als er sein eigenes Leid dem fremden Leid der Königin gegenüber stellt und großherzig schlug er vor: „Liebe Königin, das Reich meines Vaters ist groß genug für beide Völker. Ich werde bei meinem Vater ein gutes Wort für Euch einlegen.“ Erfreut über die Großmut des jungen Mannes, rief das Weiblein vergnügt aus: „Es ist lange her, dass ein Mensch mir helfen wollte und mir scheint, ich weiß einen Weg, wie uns beiden geholfen werden kann.“ Woraufhin seinerseits der Prinz sie verwundert, aber © Kathrin Gschleier 4 erwartungsvoll ansah. „Die Prinzessin hat doch nur deshalb in ihre Heimat zurückkehren müssen, weil sie den Anblick der finstereren Wälder und schwarzen Berge auf die Dauer nicht hat ertragen können. Was aber, wenn die Berge dieselbe helle Farbe tragen wie der Prinzessin ihre Heimat auf dem Mond?“ Der Prinz hörte der Weise Frau verwundert zu: „Aber wie sollte das geschehen?“ Und die Frau sprach selbstbewusst weiter: „Die Zwerge sind geschickte findige Leute und verstehen Künste, von denen die Menschen keine Ahnung haben. Du wirst sehen, sie können auch die dunklen Berge weiß bekleiden.“ Der junge Mann legte sein Schicksal in ihre Hand und als das Unwetter vorüber war, machten sich die beiden durch Täler und Wiesen, Wälder und Felder, Äcker und Weiden auf den Weg zum Schloss. Dort angekommen, war die Freude des Königs über die Rückkehr des Sohnes groß, wenngleich ihm die vorgebrachten Wünsche seines Sohnes, nach einem Land für die fremde Königin und ihrem Volk, seltsam erschienen. Erst als die Königin versprach, ihr Volk würde sich mit den dunklen Wäldern und gebirgigen Felsen als Behausung begnügen, gab der Alpenkönig seine Zustimmung. Das Überkommen wurde einvernehmlich getroffen und per Handschlag versiegelt und die Zwergenkönigin machte sich gleich auf, um ihrem leidgeprüften Volk die gute Nachricht zu überbringen. Was für ein geisterhaftes Bild, als einige Tage später Scharen von wundersamen kleinen Leuten über Pässe und Joche, Brücken und Täler in das Reich des Alpenkönigs strömten. Schweigend wanderten sie dem Hochgebirge zu, ohne sich um die Menschen zu kümmern. In Höhlen und Klüften, Bachbetten und Felshängen legten sie ihre armselige Habe ab, um sich für die Arbeit am nächsten Tag auszuruhen. Der Prinz jedoch begab sich auf den höchsten Berggipfel und verbrachte dort den Abend, um in großer Ungeduld den nächsten Tag zu erwarten. Kaum war die Sonne hinter dem Berg verschwunden, um dem Mond am Himmel Platz zu machen, näherte sich die Zwergenkönigin dem Prinzen. In dem Moment sah er auch schon die Vielzahl an kleinen Menschen, die am Fuße des Berges einen recht eigenartigen Tanz vollführten. Jeweils sieben in einem Kreis, vollführten sie in der Luft rechte wundersame Gesten. Auf seine Frage hin, was hier vor sich gehe, sagte die Königin bedeutungsvoll: „Meine Zwerge spinnen aus dem glänzenden Mondlicht einen weißen Mantel für die dunklen Berge.“ Und wahrhaftig, da glühte mitten im Kreis der Zwerge ein heller Funke auf, der bald zu einem leuchtenden Knäuel wuchs. Und wohin der Prinz auch blickte, überall standen Zwerge in der gleichen Aufstellung. Voll Bewunderung und Freude betrachtete der Prinz das wundersame Bild. Stunde um Stunde verging auf diese Weise, die Zwerge hielten nicht Rast, lösten sorgsam die zarten Lichtknäuel und legten mit den Lichtfäden ein glänzendes Lichtnetz. Über die Berge hinab und rings um den Berg herum, zogen sie die Maschen sorgsam enger, sodass kein Fleckchen Schwarz mehr am Berg zu sehen war. Erst als schließlich das hinterste Ecke und die kleinste Kante mit dem glänzenden Weiß überzogen waren, ließen die Zwerge von ihrer Arbeit ab und betrachteten stolz mit der Königin ihr geschaffenes Werk, bevor sie sich zufrieden in ihre neu gewonnene Behausung zurückzogen. Als der Alpenkönig am nächsten Morgen erwachte, traute er seinen Augen nicht: die einst so finsteren Hochgebirge standen strahlend bleich vor ihm, in wundersamen Gegensatz zu den angrenzenden dunklen Wäldern. Doch für den Prinzen hielt er eine traurige Botschaft bereit: der Mondkönig hatte ihm einen Boten geschickt mit der Nachricht, dass seine Tochter dem Tode nahe, ihn zum letzten Gruß sehnsüchtig erwartete. Sogleich eilte der Prinz, vom Boten begleitet, zum königlichen Mondschloss. Dort angekommen, eilte er durch die Säle und Gänge des Schlosses und stürzte angstvoll in die Kammer der Mondtochter: „Liebste Prinzessin, verlass mich jetzt nicht, wo unser Glück doch so nah ist. Das felsige Gebirge in meiner Heimat ist deinen leuchtenden Mondbergen gleich. Komm mit mir in mein Reich und du brauchst dich nie mehr in Sehnsucht zu verzehren.“ © Kathrin Gschleier 5 Das Wiedersehen mit dem geliebten Gatten und seine hoffnungsvollen Worte weckten die Lebensgeister der Prinzessin und durch die Gegenwart des Geliebten, folgte bald schon die glückliche Genesung der Mondprinzessin. Voll Freude brachte der Königssohn seine Gemahlin zurück auf die Erde, wo sie staunend die bleichen Felsen gepaart mit dem leuchtenden Rot der Alpenrosen betrachtete. So fand das trübselige Sehnen der beiden Königskinder ein glückliches Ende. Noch heute kennt so mancher Wanderer das Gefühl der inneren Gelassenheit, wenn er das einzigartige Naturschauspiel rund um die Dolomiten betrachtet und findet Ruhe in Zeiten angespannten hektischen Treibens. © Kathrin Gschleier 6
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