Konrad Adam Bildungsgerechtigkeit: eine Aufgabe des Staates? Termin und Thema ihrer Tagung haben Sie gut gewählt. Wenige Tage nach der Veröffentlichung des jüngsten OECD-Bildungsberichts ist der Gegensatz zwischen Differenzierung und Integration, ist die Rivalität zwischen gegliedertem und einem einheitlichem Schulsystem, ist die Spannung zwischen erwünschter Förderung und notwendiger Auslese wieder einmal in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt; ich fürchte, nur für kurze Zeit. Die Antworten nämlich, die man zu hören bekommt, lassen das Interesse gleich wieder erkalten, sie kommen mir ausnahmslos bekannt und abgestanden vor. Das ist kein Zufall, denn über gute und schlechte Erziehung, über erfolgreiches und erfolgloses Lernen lässt sich nun einmal nicht viel Neues sagen. Über die Rolle, die der Staat beim Austeilen und Ausgleichen von Bildungschancen spielen soll, auch nicht. Staatsaufgaben gibt es viele, in Deutschland ganz besonders viele, mehr als anderswo. Ursprünglich gab sich der Staat damit zufrieden, für Sicherheit nach innen und nach außen zu sorgen und als Gegenleistung dafür von seinen Bürgern Steuern einzutreiben. Doch das ist lange her. Heute gilt der Staat, zumindest hier zu Lande, als allzuständig; die Bürger können, sollen und wollen nur noch wenig unternehmen, ohne sich von der Obrigkeit in irgendeiner Weise ermuntern oder behindern, belohnen oder belasten zu lassen. Die Bildung ist dafür nur ein Beilspiel unter vielen; Schulbau, Stundentafeln, Lehrerbesoldung, Lernmittelfreiheit, Bafög, Forschungsförderung und vieles mehr von dieser Art gelten als legitime Aufgaben der öffentlichen Hand. Sie werden ja auch wahrgenommen, leider nicht immer glücklich. Aber die Mittel sind knapp, und deshalb muss verteilt und zugemessen werden. Wer soll wie viel von was bekommen? Das ist die alte Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit. Sie zu üben, und zwar gegen jedermann, gilt nicht nur als eine, sondern als die Aufgabe der Staatsgewalt schlechthin. Noch jeder Traktat über die Aufgaben und den Umfang der Staatstätigkeit kommt an zentraler Stelle auf die Gerechtigkeit zu sprechen. Platon ging voran, und alle anderen, vom Kirchvater Augustin bis zum Revolutionsvater Karl Marx, sind ihm gefolgt. Die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit aufzuwerfen war freilich leichter, als sie zu beantworten; "Jedem das Seine zu geben" mag eine schöne Formel sein, wirft aber gleich die nächste Frage auf, was denn "Das Seine" im Einzelfall ist. Die Schwierigkeiten, in die man sich verfängt, wenn man es unternimmt, auch diese heikle Frage zu beantworten, macht Platon deutlich, wenn er Zuflucht sucht bei einem Märchen, bei einer frommen Lüge, wie er selbst sagt. Sie handelt von den mehr oder weniger edlen Metallen, die den Vertretern der drei Kasten beigemengt sein sollen, auf die sein Staat sich gründet, den Philosophen, denen Gold beigegeben wurde, den Wächtern, die Silber mitbekamen, und den Handwerkern, die sich mit Eisen zufrieden geben mussten. Da ich nicht annehme, dass Sie mich als Märchenerzähler engagiert haben, will ich das Thema Bildungsgerechtigkeit etwas gegenwartsnäher behandeln. Ich greife zurück auf Ralf Dahrendorfs bekanntes Buch, das seinerzeit, vor nun fast 40 Jahren, die Bildung als ein Bürgerrecht beschrieben hat. Dahrendorf erwähnt, mit allen Zeichen der Empörung, eine Zeitungsnotiz, die davon berichtet, in welchem Ausmaß die häuslichen Verhältnisse auf den Schulerfolg der Kinder durchschlagen. "Die Untersuchung konzentrierte sich auf jene 20 Prozent von Schülern, die um eine Aufnahme in ein städtisches Gymnasium nachgesucht hatten und bei der Prüfung durchgefallen waren. 48 Prozent dieser Kinder waren Waisen oder Halbwaisen. In 27 Prozent der Fälle kamen die Kinder aus einem Haus, in dem die Eltern geschieden waren. 23 Prozent der Kinder von berufstätigen Eltern und 19 Prozent waren Fahrschüler, die einen weitern Weg zur Schule hatten". Schon damals also ein Befund, der an die PISA-Studie erinnert: beim Weg durch das deutsche Bildungswesen kommt der sozialen Herkunft ein starkes, ein zu starkes Gewicht zu. Schon damals rief dieser Befund Besorgnis und Empörung hervor. Er wurde zum auslösenden Motiv für jene Bildungsreform, die in den 70er Jahren zum Kern der deutschen Innenpolitik avancierte. Die Schule der Nation sei die Schule, hieß einer der meistzitierten Sätze aus der ersten Regierungserklärung Willy Brandts. Dahrendorf hatte dem vorgearbeitet, als er tadelnd darauf hinwies, dass in der vorgenannten Meldung kein Wort darüber zu finden sei, "dass es die Aufgabe der Schule sein könnte, die unverschuldeten Nachteile der Kinder mit verdoppelter pädagogischer Anstrengung aufzuwiegen, kein Wort auch von der Aufgabe, die in dem schlimmen Satz steckt, dass die Leistungen von den häuslichen Verhältnissen beeinflusst werden. Die Höhere Schule wird von vornherein zu einer seltsam abstrakten Instanz, die Leistungen misst, aber nicht hervorbringt, die Kinder sortiert, aber nicht verändert. Sie zu erziehen, fängt sie erst gar nicht an". Zumindest die Älteren unter Ihnen wissen, wie es nach diesem Aufruf weiterging. Das Wort von der Chancengleichheit, eine amerikanische Erfindung, machte nun auch in Deutschland die Runde, weckte hohe Erwartungen und wurde in allerlei Gutachten, die der Deutsche Bildungsrat in Auftrag gab, operationalisiert. Chancengleichheit, das hieß oder sollte heißen: alle starten hinter der gleichen Linie. Oder, um es mit den Worten der Wissenschaft zu sagen: Den Kindern gleiche Chancen einzuräumen hieß, ihre Schul- und Bildungswege von allen Einflüssen freizuhalten oder frei zu räumen, die nicht mit ihrer Leistungsfähigkeit zu tun hatten. Zum Symbol der chancengeminderten und deshalb förderungsbedürftigen Existenz wurde das Katholische Arbeitermädchen vom Lande, vierfach gehandicapt durch seine Konfession, sein Geschlecht, seine gesellschaftliche Herkunft und seinen Wohnort.. Das war die Theorie; die Praxis sah ein bisschen anders aus. Die wurde überlagert und geprägt durch eine fruchtlose Debatte über das relative Gewicht von Anlage und Umwelt, von Nature und Nurture, wie es im Englischen knapp und bündig heißt. Gebracht hat dieser Streit so gut wie nichts; er konnte auch nichts bringen, weil er als Gegensätze begriff, was doch in Wahrheit eine Einheit bildet. Vererbte und erworbene Eigenschaften stehen in einem so engen Wechselverhältnis, dass eine exakte, am Ende auch noch prozentual bezifferbare Zuordnung des einen oder anderen Elements pure Willkür wäre. Die neuere Hirnforschung hat dargetan, dass es nur eine Frage des Blickpunkts ist, ob man die Fähigkeiten eines Heranwachsenden als hereditär oder umweltbedingt, als Mitgift der Eltern oder als Beigabe der Umwelt betrachten will. Es ist ja gerade das Wechselspiel zwischen den einen und den anderen Faktoren, das jedem Menschen sein individuelles Aussehen verleiht. Diese Einsicht hat dem Glaubenskrieg der 70er Jahre ein schnelles Ende bereitet - und eine Unmenge von Forschungsliteratur wertlos gemacht. Doch das greift der Entwicklung voraus. Zunächst einmal lagen die Resultate ja vor, und sie wurden begierig aufgegriffen. Ein Sammelband mit dem programmatischen Titel "Begabung und Lernen" erlebte zwölf Auflagen und erwies sich damit als ein pädagogischer Bestseller. Das lag nicht etwa an seiner These, die alles andere als originell war; denn dass Begabung nicht nur Voraussetzung fürs Lernen ist, sondern auch Lernen Voraussetzung für die Begabung, hat man ja auch schon vorher gewusst. Seine Durchschlagskraft verdankt der Sammelband vielmehr der Entschlossenheit, mit der die Umweltthese so lange zugespitzt wurde, bis von den Erbanlagen nichts mehr übrig war. Danach war es nur konsequent, das Substantiv gegen das Verbum auszuwechseln und statt von Begabung von begaben zu reden: eine Wortwahl, die allen alles verhieß. "Gleiche Lernziele - gleiche Lernerfolge" konnten die Jusos versprechen, ohne ausgelacht zu werden. Chancengleichheit bedeutete nun etwas ganz anderes als seinerzeit bei Dahrendorf. Der Wunsch nach gleichen Startchancen war umgeschlagen in die Vorstellung von gleichen Zielchancen, vom gleichen Erfolg für alle. Der schillernde Begriff wurde jetzt neu definiert. Während nach der ursprünglichen Bestimmung Chancengleichheit schon dann gegeben sein sollte, wenn der Bildungserfolg eines Kindes unabhängig war von äußeren Faktoren wie Herkunft und Geschlecht, ging man danach zum Konzept der statistischen Unabhängigkeit über, besser bekannt unter dem Begriff der Quote. Ob Bildungschancen gleich verteilt waren, wurde nun nicht mehr individuell, sondern kollektiv überprüft; und nicht mehr am Anfang der Bildungskarriere, sondern an deren Ende. Chancengleichheit, so die neue Definition, sollte dann und nur dann herrschen "wenn verschiedene Bevölkerungsgruppen in proportional gleichem Ausmaß sich im Besitz bestimmter sozialer Güter befinden". Die Blickrichtung hatte sich verändert, man sah nicht mehr vom Start her nach vorn, sondern vom Ziel aus zurück, und schloss aus ungleichen Resultaten auf ungleiche Ausgangsbedingungen. Dies Konzept hat sich durchgesetzt, es dient bis heute als Basis für sämtliche Anti-Diskriminierungsgesetze und Gleichstellungsprogramme und die gesamte Quotenpolitik. Leider hat man noch nie danach gefragt, ob eine Gesellschaft, die sich am Ziel einer so definierten Ergebnisgleichheit orientiert und ihre Erfolge auf dem Weg dorthin nach dem Kriterium der statistischen Unauffälligkeit überprüft, auch wünschenswert sei. Dass niemand wegen seiner Herkunft, seines Geschlechts, seines Glaubens und seines Wohnsitzes benachteiligt oder bevorzugt werden darf, versteht sich von selbst. Aber ist die Tatsache, dass die Angehörigen einer so definierten Gruppe in einem bestimmten Teilbereich der Gesellschaft stärker oder schwächer vertreten sind als nach ihrem Bevölkerungsanteil zu erwarten, ein Zeichen für Diskriminierung? Bevor man auf diese heikle Frage eine Antwort sucht, empfiehlt es sich, danach zu fragen, ob eine solche Gesellschaft überhaupt möglich sei - und wenn ja, um welchen Preis. Es könnte ja sein, dass ihre Realisierung Kosten in einer Höhe verlangt, die niemand bereit ist zu zahlen. Die Frage, ob man eine derartige Gesellschaft will, hätte sich dann von selbst erledigt. Da es um Bildungschancen geht, greift man am besten auf den Klassiker zurück, auf Christopher Jencks Buch mit dem bündigen Titel "Chancengleichheit". Dort wird gleich eingangs daran erinnert, dass in einer Gesellschaft, die sich zum Wettbewerb bekennt, verschiedene Menschen unterschiedlich großen Erfolg haben werden.. Die Konsequenz daraus liegt auf der Hand und wird von Jencks auch nicht verschwiegen: "Erfolgreiche Eltern werden versuchen, ihre Vorteile an die Kinder weiter zu geben, erfolglose Eltern können gar nicht anders, als einige ihrer Benachteiligungen zu vererben. Wenn eine Gesellschaft die Bindung zwischen Eltern und Kindern nicht vollständig abschafft, garantiert die Ungleichheit der Eltern ein gewisses Maß von Chancenungleichheit der Kinder. Zu fragen wäre dann nur noch, wie schwerwiegend diese Ungleichheiten sein müssen". Mit anderen Worten: schon das Ziel der Ergebnisgleichheit würde Opfer verlangen, die eine zivile Gesellschaft nicht bringen kann und wohl auch niemals bringen wird: die vollständige Trennung der Eltern von ihren Kindern. Ich jedenfalls kenne niemanden, der so etwas im Ernst wollte. Wenn also das Juso-Versprechen von den für alle gleichen Lernerfolgen unrealistisch ist, muss man sich mit weniger zufrieden geben. Wir hätten uns mit Jencks dann nur noch zu fragen, wie viel Bildungsungleichheit wir bereit sind hinzunehmen. Die meisten werden sagen: möglichst wenig. Ich schließe mich dem nicht an. Mir sind die Vielfalt, die Unterschiede, die vielen und möglichst bunten Farben lieber, auch und gerade im Erziehungsgeschäft. Die alte Formel, die allen Menschen das gleiche Recht auf die Entfaltung ihrer ungleichen Anlagen zuspricht, gefällt mir immer noch am besten. Dies Recht kann die Gesellschaft nur zu ihrem eigenen Schaden missachten, weil man nun einmal, wie es bei Aristoteles heißt, aus ganz Gleichen keinen Staat bauen kann, nicht einmal einen Ameisen- oder Bienenstaat. Unterschiede in den Begabungen und Neigungen sind funktional notwendig. Weshalb die Schule nicht so tun sollte, als ob sie das nicht wüsste. Wenn das so ist: was folgt daraus für den Staat und seine Auftraggeber, für uns also, die Gesellschaft? Die Antwort ist bekannt, sie wird ja täglich wiederholt und lautet: fördern und fordern. Fördern der Schwachen und fordern der Starken. Wer diese schöne, glatte Formel ernst nimmt, muss allerdings einräumen, dass ihre Glieder nicht gleichgewichtig sind. Fördern ist nun einmal aufwendiger als fordern, verlangt einen höheren Einsatz von Zeit, Personal und Geld, zumindest in den ersten Lebensjahren, wenn der Geist formbar und die Entwicklung offen ist. Die Forderung, die Staatsschule möge Partei ergreifen, Partei für die Schwächeren, hat deshalb einiges für sich. Sie ist die fällige Konsequenz aus der Erfahrung, das ein auf Chancengleichheit ausgerichtetes Schulsystem seinen Namen nur dann verdient, wenn es zusätzliche Möglichkeiten für diejenigen schafft, die weniger mitbringen - weniger im weitesten Sinn des Wortes, also weniger Geld, weniger Anregung, weniger Interesse und weniger Talent. Die Pädagogik neigt jedoch dazu, über dem Fördern der einen das Fordern der anderen zurückzustellen. Das ist ein Unrecht nicht nur gegen die Begabten, sondern gegen die Gesellschaft insgesamt, die auf den Reichtum der Talente angewiesen ist. Man hat die überdurchschnittlich Begabten als die am stärksten benachteiligte Minderheit im Lande bezeichnet - ich fürchte, zu Recht. Wenn Deutschland seine Stellung halten oder gar verbessern will, muss sich das ändern. Von allen wachstums- und wohlstandsbegrenzenden Elementen dürfte die Knappheit der Talente schon heute das wichtigste sein; wie sehr dann erst in ein paar Jahren, wenn sich der Altersaufbau weiter zu Lasten der jungen Leute verschoben haben wird. Mut und Fantasie, Originalität und Einfallsreichtum sind nun einmal nicht gleichmäßig über sämtliche Altersklassen verteilt, sie sind ein Vorrecht der Jugend. Wer das bezweifelt, sollte einen kürzen Blick auf die Nobelpreisträger werfen, vor allem auf das Alter, in dem ihnen ihre preiswürdigen Leistungen geglückt sind. Er wird danach von der in Deutschland grassierenden Alterseligkeit geheilt sein. Der richtige Schluss aus den Pisa-Studien, die Deutschland als ein Land ausweisen, in dem die soziale Herkunft stärker den Schulerfolg bestimmt als anderswo, kann also nicht mehr Gleichheit heißen, sondern mehr Differenzierung. Die Schule soll auf das, was sie an Unterschieden antrifft, eingehen; aufheben kann sie diese Unterschiede nicht, dazu kommt sie zu spät. Wenn sie mit ihrer Tätigkeit beginnt, im Alter von fünf oder sechs Jahren, ist das meiste ja längst entschieden, so oder so, und zwar definitiv. Was die moderne Hirnforschung zu Tage befördert hat, lässt kaum noch Zweifel an der Erfahrung, dass der menschliche Kopf zwar formbar ist, seine Formbarkeit aber auch ziemlich früh verliert. Das Sprachvermögen, diese erste und wichtigste von allen Schlüsselkompetenzen, bildet sich zwischen dem 12. und dem 18. Lebensmonat heraus, in einer Zeit also, in der die Eltern für das Kind zweifellos wichtiger sind als jede öffentliche Instanz. Was später kommt, wird nicht mehr allzu viel bewirken. Schon vor Jahren hat eine der großen internationalen Vergleichsstudien, die Pisa vorausgegangen sind, aus diesem ziemlich unumstrittenen Befund eine resignierende Folgerung gezogen. Sie hieß School does not make any difference, die Schule vermag nicht viel zu ändern; sie kann es deshalb nicht, weil das Entscheidende zu Hause stattfindet. In allen drei Kompetenzbereichen, die damals untersucht und auf ihre mutmaßlichen Quellen zurückgeführt wurden, entfiel der Löwenanteil auf das Elternhaus. Es prägt die Fähigkeit zu Lesen, zu Schreiben und zu Rechnen stärker als alles andere, stärker als Schultyp, Unterrichtsstil und Lehrerpersönlichkeit. Und nicht nur, dass die Eltern von Anfang an dominieren, ihr Einfluss nimmt noch ständig zu. Um es mit den Worten von Franz Emanuel Weinert, dem neulich verstorbenen Direktor des Max Planck-Instituts für psychologische Forschung in München zu sagen: "Wer am Anfang der Grundschule besser ist als andere, besitzt eine überdurchschnittliche Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie eine ähnliche Position auch am Ende der Grundschulzeit einnimmt. Leider gilt die die gleiche Stabilität auch für die weniger leistungstüchtigen Schüler." Ein Trend, der sich im Verlauf der späteren Kindheit und des Jugendalters noch verstärkt, wie Weinert ausdrücklich hinzusetzt. Als Lehrer mag Sie das enttäuschen, und manche von Ihnen werden geneigt sein, ähnlich resignative Schlüsse zu ziehen wie die vorerwähnte Untersuchung. Ich sehe dazu wenig Anlass. Der Spielraum der Schule bleibt immer noch groß genug, sie muss ihn nur nutzen. Das tut sie freilich nicht, indem sie dem illusionären Ziel nachjagt, die Kinder im Gleichschritt voranzutreiben und möglichst ähnlich am Ende der Schulzeit abzuliefern, sondern dadurch, dass sie die individuellen Unterschiede - Unterschiede sowohl in der Höhe als auch in der Richtung der Begabung - aufspürt, befördert und im Effekt dann auch vertieft. Mir scheint das, kurz gesagt, der Sinn und Zweck von Bildung überhaupt zu sein: Unterschiede zu entdecken, zu markieren und zu entwickeln. Wer das nicht kann oder nicht will, sollte alles Mögliche, nur nicht unbedingt Lehrer werden. Die alte Preisfrage, ob wir gleich und ungleich zur selben Zeit sein können, equal and excellent too, wie es im Englischen heißt, werden wir nicht los. Alle Gesellschaften standen und stehen vor dieser Grundsatzfrage, haben sie auch auf ihre Weise zu beantworten gesucht, mal so und mal so. Übrig geblieben ist dabei die Erkenntnis, dass jede einseitige Lösung, gleichgültig, ob nach dieser oder jener Seite, hohe gesellschaftliche Kosten verursacht. Eine Klassen- oder Kastengesellschaft, die sich in der Schule reproduziert, ist mir genauso zuwider wie jede radikale Gleichheitsideologie. Es gibt nun einmal, wie Nietzsche irgendwo bemerkt, zwei ganz verschiedene Arten, die Menschen einander gleich zu machen: entweder durch eine Angleichung nach oben oder durch die Gleichstellung nach unten. Der zweite Weg hat den Vorzug, kürzer und billiger zu sein als der erste, und ist deswegen immer wieder beschritten worden. Wo das geschah, verwandelte sich der schöne Leitsatz "Fördern und Fordern" in eine Praxis, die nach der Parole "Bremsen statt Fordern" verfuhr. Die Anhänger der Gleichheitspädagogik haben das zwar nicht wörtlich so, aber doch deutlich genug propagiert, als sie dazu einluden, Schüler mit günstigeren Eingangsvoraussetzungen und höherer Lerngeschwindigkeit daran zu hindern, sich in der aufgabenfreien Zeit - und jetzt zitierte ich wörtlich - "zusätzliche Fähigkeiten und Kenntnisse anzueignen, die ihnen gegenüber den anderen, sozusagen einfach erfolgreichen Schülern Leistungsvorteile sichern". Leider sind solche Anregungen nicht folgenlos geblieben. Dass sie nichts bringen konnten, verstand sich doch für jeden, der Erfahrung hatte im Umgang mit jungen Leuten, von selbst. Die gezielte Vernachlässigung von Schülern "mit günstigen Eingangsvoraussetzungen" schädigt ja nicht nur diese selbst, sondern die anderen, die "einfach erfolgreichen Schüler", wie sie in der zitierten Anleitung genannt werden, auch; und die sogar noch stärker. Das desolate Pisa-Resultat, wonach in Deutschland der Abstand zwischen der unteren und der oberen Leistungsebene größer ist als anderswo, legt diesen Schluss zumindest nahe. Für die von Hause aus bevorzugten Schüler ist Schule ja nur ein Angebot unter vielen; was ihnen der Unterricht vorenthält, können sie durch häusliche Anregung wettmachen. Milieuschwache Schüler haben diese Möglichkeit nicht, sie sind auf Gedeih und Verderb auf das angewiesen, was ihnen die Schule bietet - oder versagt.. Geschädigt werden also beide, die guten und die schwachen Schüler, die letzteren aber noch etwas stärker als die guten. Es wäre an der Zeit, sich von den allzu groben Gegensätzen, die das eine "an Stelle" des anderen predigen, die Fördern statt Auslesen, Durchlässigkeit statt Sackgasse, Einheit statt Vielfalt wollen, endlich zu verabschieden. Das sind doch allesamt die falschen Alternativen. Durchlässigkeit ist ein vernünftiges Konzept; allein selig machen kann es aber schon deshalb nicht, weil das Ziel ja erst dann erreicht wäre, wenn die Schule auf alle Anforderungen verzichten wollte. Ein Bildungswesen, das nichts mehr verlangt, wäre vollständig durchlässig, aber auch vollständig wertlos. Der Gegensatz von Einheitsschule und gegliedertem System ist von der gleichen Art, auch hier geht es viel weniger um Ersatz als um Ergänzung. Niemand bezweifelt den Wert einer gemeinsamen Grundbildung für alle; über die Dauer kann man jedoch mit guten Gründen streiten. Bevor man auch hier das Heil von oben erwartet und die Anweisung einer Behörde erbittet, sollte man die Entscheidung denen überlassen, die zur Erziehung ihrer Kinder berechtigt und verpflichtet sind. Und das sind nach dem Willen und den Wortlaut der Verfassung nicht die Bildungsforscher oder -planer, sondern die Eltern. Schließlich der viel zitierte Gegensatz zwischen Fördern und Auslesen. Obwohl er zum Kristallisationspunkt für alle Meinungsunterschiede über Sinn und Zweck des Schulbetriebs geworden ist, handelt es sich auch hier um die falsche Alternative. Hätten die Leute, die diesen Gegensatz im Munde führen, die Literatur, auf die sie sich berufen, doch etwas sorgfältiger gelesen! Dann wären sie vielleicht auf eine der folgenden Sätze gestoßen: "Die Denkbegabung und das Denkbedürfnis bricht im zehnten und elften Schuljahr in so verschiedener Stärke durch, dass die Unterschiede im Grade der Allgemeinbegabung, wie sich in allen Schulfächern in gleicher Weise bestätigt, das Auffälligste sind, was man in diesem Altert beobachten kann. Die Unterscheide werden in diesem Alter so krass, dass eine Trennung nach dem Grade der Begabung in irgendeiner Form unerlässlich ist. Kein Lehrer kann einem hochbegabten Elfjährigen, dessen Intelligenz schon voll erwacht ist, und gleichzeitig seinem Gegenspieler, dem nahezu hilfsschulbedürftigen Schwachbegabten, ohne organisatorische Sondermaßnahmen in gleicher Weise gerecht werden". Und als wäre das alles noch nicht deutlich genug, geht es dann weiter: "Hier hilft keine romantischpädagogische Verbrämung! Weder sind die Begabten die Zugpferde für die weniger Begabten noch sind die weniger Begabten sinnvolle Bremsklötze für die Frühreife der Begabten". Das stammt nicht etwa von einem rabiaten Verfechter der Frühauslese, sondern von Heinrich Roth, den die Älteren unter Ihnen wahrscheinlich noch als einen kompromisslosen Anhänger der Gesamtschule und ihrer Kernidee, des langen, gemeinsamen Lernens in Erinnerung haben werden. Die Reminiszenz mag dazu dienen, dem Glaubenskrieg um die vier-, die sechs- oder die neunjährige Grundschule seine Schärfe zu nehmen. Und bei der Entscheidung darüber, wann und wie und ob überhaupt ausgelesen wird, mehr auf die Stimme der Eltern und weniger auf die der so genannten Experten zu hören. Die Erfahrungen in einem Land wie Berlin, wo es die sechsjährige Grundschule gibt, sind doch völlig eindeutig. Würde man den Eltern die Freiheit lassen, die ihnen das Grundgesetz zubilligt, gäbe es den Wechsel nach der sechsten Klasse nur noch als Ausnahme, nicht als Regel. Überflüssig zu bemerken, dass sich die Einladung an die Eltern nicht auf den kurzen Augenblick des Wechsels von einer Schulform in die andere beschränken soll, sondern ihre tätige Anteilnahme während der gesamten Schulzeit meint. Ich hoffe nichts Neues zu sagen, wenn ich die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus als den Schlüssel für eine erfreuliche und erfolgreiche Schulzeit betrachte. Es ist absurd, wenn sich die eine Seite dazu berechtigt, vielleicht sogar verpflichtet fühlt, die ihr zustehenden Aufgaben der jeweils anderen Seite zuzuschieben. Eltern sollten sich davor hüten, die Erziehung ihrer Kinder an die Schule zu delegieren und von ihr jene pädagogischen Wundertaten zu erwarten, die sie selbst nicht zu Stande gebracht haben. Und Lehrer sollten davon Abstand nehmen, die Eltern zu einem solchen Akt von pädagogischem Defätismus auch noch anzustiften. Wenn sie so tun, als hätten sie auf alles eine Antwort, für alles ein Rezept, von allem eine Ahnung, verfehlen sie ihren Auftrag genauso gründlich wie Eltern, die von ihrem Erziehungsauftrag nichts hören wollen. Die beiden müssen sich ergänzen, nicht ersetzen wollen. Natürlich sind Eltern Partei, Partei für ihre Kinder. Aber was ist schlecht daran? Ihr unbedingter Einsatz zu Gunsten ihrer Kinder dürfte die einzige Form von Parteilichkeit sein, die rundherum nur Gutes bewirkt: zunächst für die Kinder, danach für die Eltern und schließlich für die Gesellschaft insgesamt, die reich wird durch den Reichtum der Talente. Um nicht zu wuchern, braucht diese Vielfalt eine gemeinsame Basis mit klar gezogenen Grenzen. Innerhalb dieser Grenzen kann es dann aber gar nicht bunt und vielfältig genug zugehen. Das scheint mit immer noch das treffendste Argument für ein horizontal und vertikal reich gegliedertes Schulsystem zu sein. Die Menschen sind nun einmal unterschiedlich, weshalb ihnen Einrichtungen, die auf ihre Unterschiede Rücksicht nehmen, zuträglicher sind als das Einheitskorsett für alle und jeden. Hier muss man sich entscheiden: für die gleichmäßig geschorene Rasenfläche, auf der kein Halm hervorragt, oder für die ungemähte Bergwiese mit ihren tausend verschiedenen Blumen, Blüten und Blättern. Mir gefällt die Bergwiese besser. Sie ist nicht nur schöner anzusehen, sie verspricht auch die höheren Erträge.
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