Feature Dichter und Dandy Erinnerungen an Fritz J. Raddatz Von

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DEUTSCHLANDFUNK
Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel
Redaktion: Tina Klopp
Feature
Dichter und Dandy
Erinnerungen an Fritz J. Raddatz
Von Rosvita Krausz
Produktion: DLF 2016
Zitator 1: Raddatz Tagebücher: Michael Witte
Zitatorin: Iris Radisch Trauerrede Claudia Mischke
Sprecher 1: Andreas Potulski
Zitator 2: u.a. Günter Grass: Robert Dölle
Regie: Burkhard Reinartz
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- unkorrigiertes Exemplar -
Sendung: Freitag, 26. Februar 2016, 20.10 - 21.00 Uhr
2
Dichter und Dandy
Erinnerungen an Fritz J. Raddatz
Von Rosvita Krausz
DEUTSCHLANDFUNK
Redaktion Tina Klopp
Sendung am 26.2.16 20.10-21.00
In den O-Tönen wirken mit:
Ulrich Greiner
ZEIT-Redakteur
Nikolaus Hansen
Verleger und Freund
Tilman Krause
Feuilleton-Redakteur und Freund
Sven Michaelsen
Publizist
Fritz J. Raddatz
Dichter und Dandy
Iris Radisch
ZEIT-Ressortleiterin Feuilleton
Theo Sommer
ZEIT-Chefredakteur in der Zeit von Raddatz
Wilfried Weber
Buchhändler
Zitator 1:
Raddatz Tagebücher
Zitatorin:
Iris Radisch Trauerrede
Sprecher 1:
nennt Namen
Zitator 2:
u.a. Günter Grass
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1.O-Ton Theo Sommer:
Er war ein Provokateur, aber ein brillanter Provokateur und er hat es geschafft, das ZEITFeuilleton damals zu dem Feuilleton in der deutschen Presselandschaft zu machen. Das hat
sehr viel mehr Aufregung verursacht als das der FAZ z.B. Z: 19
Zitator 2:
So mag ich ihn: unerschrocken, neugierig, kühl-analytisch, dann wieder ohne Scheu vor
Sentimentalitäten, wissend und naiv zugleich, nur weniger Freunde gewiss, aber immer auf
der Suche nach neuen Feinden (die ihm auch prompt zu teilwerden). (Günter Grass in: Lieber Fritz Briefe an Fritz J. Raddatz 1959-1990)
Sprecher 1:
Günter Grass
2.O-Ton Ulrich Greiner:
Er hat ja hier ein riesiges Aufsehen immer erregt mit seinen Beiträgen, mit seinen
Kontroversen, die er hier im Feuilleton losgetreten hat. Und eine Zeit lang fand man das
toll.
Z: 12
3.O-Ton Theo Sommer:
Er war quirlig. Er war glanzvoll. Er war vorwärtstreibend. Er hatte Einfälle. Und zwar nicht nur
für sich, sondern auch für alle anderen. Er war ein großer Feuilletonchef. Z: 16
4.O-Ton Ulrich Greiner:
Es war Glanz im Haus und auch ein bisschen Remmidemmi und er war ja auch bei allen
Berühmtheiten zu Hause. Er war heute bei Susan Sonntag in New York und morgen bei Levi
Strauss in Paris und so weiter und das machte natürlich Eindruck. Z: 16
Zitator 2:
Es herrschte in der Redaktion unter Raddatz eine Stimmung wie unter den Rittern der
Tafelrunde. Der König regierte nicht per Befehl, sondern dadurch, dass er mit Feuereifer
vorangaloppierte. Wie hart die vorausgegangenen Zwiste um Platz und Präsenz auch
gewesen sein mochten: am Dienstagvormittag, wenn nach oftmals langem Spätdienst das
Feuilleton endlich fertig war, ließ Raddatz eine Flasche Champagner auffahren. Der
Champagner am Dienstag war eine rituelle Handlung. Sie sollte demonstrieren, dass wir das
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beste Feuilleton der Welt machten und dass dies ein Grund zum Feiern war. Wir alle wohl
haben daran geglaubt und wenn man an etwas glaubt, wird es auch gut. Jedenfalls glaubte
Fritz Raddatz daran und wenn er je Zweifel hatte, so überredete er sich selbst und damit
auch uns – diesen Zweifeln nicht zu glauben. (Ulrich Greiner in der ZEIT vom 5.3.2015 )
Sprecher 1:
Dichter und Dandy
Erinnerungen an Fritz J. Raddatz
Von Rosvita Krausz
5.O-Ton Fritz J. Raddatz:
8. September 1991: Meinem Geburtstag nachdenkend: Eigentlich war alles eine Farce
(hoffentlich werde ich das nicht eines Tages über mein ganzes Leben sagen . . .). Ich muss
mich fragen, ob ich mich, meine angebliche Lebensleistung und meine nebbich
Bedeutung, nicht enorm überschätze. Was bleibt, ist offenbar der geistreiche Mann, der
schnelle und zu schnellen Fehlern neigende Journalist, der gebildete Anreger. (II/2)
Z: 33“
Akzent:
Sprecher 1:
Fritz J Raddatz, Jahrgang 1931, war in den fünfziger Jahren stellvertretender Cheflektor beim
Verlag „Volk und Welt“ in Ostberlin. 1958 wechselte er in die Bundesrepublik und wurde
1960 Cheflektor und stellvertretender Verlagsleiter des Rowohlt Verlages unter Heinrich
Maria Ledig-Rowohlt und Herausgeber der Taschenbuchreihe rororo-aktuell. Von 1976 bis
1985 war er Leiter des Feuilletons der Wochenzeitung DIE ZEIT.
6.O-Ton Iris Radisch:
1948 Ich mochte ihn gern. Ich mochte diese Leidenschaft, die von ihm ausging und auch
durchaus die Art der Inszenierung. Diese guten Manieren, diese tollen Anzüge, das
Einstecktuch. Dieser ganze Habitus, das ist etwas, was auch schön anzusehen war. Was Spaß
gemacht hat, weil er eine sehr energievolle Erscheinung war. Er sprach ja auch sehr schön,
immer mit sehr viel Verve und Nachdruck. ER war eine Ausnahmeerscheinung und sowas
hat man gern natürlich. Z 34“
Sprecher 1:
Theo Sommer, damals Chefredakteur der ZEIT:
7.Theo Sommer:
5
Er ist 1977 zu uns gekommen und 1985 hat ihn Bucerius rausgeworfen. Das wollte er schon 3
Jahre vorher. Aber ich habe meinen breiten Rücken für ihn hingehalten, ich habe zweimal
gesagt: dann müssen Sie sich einen Chefredakteur suchen, der ihn rauswirft. Ich tue das
nicht. Z 26
8.O-Ton Nikolaus Hansen:
Es gibt ja auch viele Leute, inklusive Greiner, die sagen, das waren die besten Jahre des ZEITFeuilletons als Raddatz dort Chef war, und das glaube ich ist auch zutreffend, weil er so
originell war, so ungewöhnlich war. Wenn man h eute die Feuilletons anguckt, die sih ja
alle..sind so ein bißchen langweilig. Raddatz war schräg in solchen Dingen. Das hat jemand
wie Greiner fasziniert.
Z:30“
Sprecher 1:
Nikolaus Hansen, Verleger und Freund.
Zitator 2
Das mache ihm einer nach: ob während der Jahre bei Rowohlt oder später als FeuilletonChef der ZEIT, immer erst im Nachhinein, nachdem er „gegangen“ worden war, wusste man,
zumeist im Flüsterton, Rühmendes zu sagen: Also bei ihm fehlte es nie an Pfeffer und Salz.
Und Einfälle hatte der, viel zu viele. Und ließ keine Polemik aus. Und handelte am liebsten
mit heißen Eisen. Und musste gehen wegen mangelnder Ausgewogenheit. Und fehlt nun
hier wie dort.
Sprecher 1:
Günter Grass in „Lieber Fritz - Briefe an Fritz J. Raddatz 1959-1990“.
Zitator:1
12.Oktober 1985: Was ist es, was mich so furchtbar verhasst macht? Es kann ja wohl
nicht die ewig vorgehaltene Automarke, die Hemden aus England oder die Bilder an den
Wänden die eine Ursache sein? Ist sogar dieser Mechanismus, der mich Fehler begehen
lässt, eine Art « Todestrieb »? Und ist die Ursache für den Hass vielgefächert?
Homosexuell, jüdisch-schnell, zu sehr und zu oft Überlegenheit vorführend?
9.O-Ton Theo Sommer:
Man hat ihm vieles verziehen, weil er so brillant war. Weil er ja nun wirklich schreiben
konnte. Er schrieb kein 0815-Deutsch, sondern da glänzten in jedem Artikel 3-4 Begriffe auf,
die er selber gemünzt hatte, und wo man sagte, sowas müsste einem selber auch mal
einfallen.
Z: 27“
6
10.O-Ton Ulrich Greiner:
Er hat ja dann auch für das ZEIT-Magazin große literarische Reportagen gemacht.
Sprecher 1:
Ulrich Greiner, Nachfolger von Fritz Raddatz als Feuilletonchef der ZEIT.
O-Ton Ulrich Greiner:
Ich weiß noch, dass er einige Wochen sogar auf den Spuren von Gabriel Garcia Marquez
durch Südamerika gereist ist und auf den Spuren von Faulkner durch die Südstaaten. Das
war schon toll. Da kamen auch tolle Texte raus. Das war übrigens auch toll, das hörte man
so hinter vorgehaltener Hand, toll waren auch dann die Spesenrechnungen , die aber
damals vom Verlag noch bedenkenlos gezahlt wurden. Wir sind damals alle mit der Bahn 1.
Klasse gefahren und wenn man im Hotel abstieg, dann war das eigentlich immer das beste
Hotel am Ort. Das war so üblich, ob das notwendig war, weiß ich nicht, aber es war
natürlich schön. Und das ist dann nach und nach abgestellt worden und nur Raddatz hat
immer darauf bestanden, dass er auf die alte luxuriöse Weise reisen darf
Z: 108.
Zitator 1:
8. September 1989. Rückflug von Enzensbergers Geburtstagsfest. Ein interessantes
Gespräch, in dem Peter Schneider dem Joachim Kaiser erklärte, warum ER nie und ICH so oft
angegriffen werde: „Sie haben Ihr Leben lang doch nur Bücher oder Konzerte rezensiert –
wer regt sich darüber schon auf. Der Fritz hat sich ständig ausgesetzt – wie jetzt mit dem
Deutschland-Artikel – und kontroverse, explosive THEMEN aufgegriffen, oft erst zum Thema
GEMACHT.“
12.O-Ton Iris Radisch :
Kultur war damals einfach viel wichtiger in den ersten Jahren der Bundesrepublik.
Sprecher 1:
Iris Radisch, Ressortleiterin Feuilleton der ZEIT.
O-Ton Iris Radisch :
Man darf ja nicht vergessen, was da alles geleistet werden musste. Deutschland musste sich
modernisieren. Deutschland musste den Anschluss an die westliche Welt finden.
Deutschland musste mit seiner Schuld fertig werden und da hatte der Schriftsteller auch
einen ganz anderen Stellenwert. Die kannte man einfach. Die große Bedeutung, die Günter
Grass bis zuletzt hatte, hängt natürlich auch mit seiner Epoche zusammen, einer Epoche, wo
Schriftsteller eben in ganz anderer Weise Identifikationsfiguren für das lesende, für das
kulturbürgerliche Publikum waren als es heute ist. // und dasselbe kann man auch für die
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Kulturjournalisten sagen. Und wir heute, die schreiben in der ZEIT z.B. wir haben bestimmt
nicht mehr diesen ich nenn es jetzt mal so Glamourfaktor, wie das Marcel Reich Ranicki oder
Fritz J. Raddatz oder eben Helmut Karasek damals hatten.
Z: 1.05
Sprecher 1:
Er ist Herausgeber von Tucholskys „Gesammelten Werken“, Autor von zwei
autobiographischen Romanen und eines großen essayistischen Werks.
2010 erschien der erste Band seiner Tagebücher“. 2014 der zweite. „Der große
Gesellschaftsroman der Bundesrepublik!“ notierte Frank Schirrmacher in der FAZ. „Mehr,
mehr, mehr davon“, schrieb Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau.
14.O-Ton Ulrich Greiner:
Er hatte eine unglaubliche Begabung, er war sehr schnell im Rezipieren, im Lesen. Er war
auch sehr schnell im Schreiben. Er hatte eine ungeheure Geistesgegenwart und er war auch
ein sehr entschlossener Mensch, der jetzt nicht lange sich quält mit irgendwelchen
einerseits-andererseits. Sondern er hat eben mit seinem Füllfederhalter, er hat ja immer
mit Tinte geschrieben, hat er das sozusagen im Zug runter geschrieben, so sind auch seine
Artikel für die Zeitung entstanden.
Z: 32
15.O-Ton Theo Sommer:
Er war wie soll ich sagen ein Mensch, der aus ganz vielen Facetten bestand. Er war ein Genie
und er war ein Geck und ein Galan. Er war ein Paradiesvogel, ein Polemiker, ein Provokateur.
Er war ein Mann feinster Manieren, aber auch großer Manieriertheiten. Er war eitel. Ich
habe das immer als positiv empfunden, denn diese Eitelkeit hat ihn bewogen ein glänzendes
Feuilleton zu machen und ich habe immer empfunden, alle Menschen haben Schwächen.
Nicht alle haben die Stärken, die ihren Schwächen entsprechen. Er hatte das. Seine Stärken
entsprachen seinen Schwächen. Die Brillanz war verbunden mit der Unbekümmertheit um
Akribie, wenn es um Fakten ging. Er war ein Mann der großen Einfälle, aber auch der
Ausfälle, wie ein Fechter, der einen Ausfall macht, um zu stechen, zu schlagen, Hiebe zu
versetzen.
Z 1.27
Akzent
16.O-Ton Sven Michaelsen:
Wenn ich die Augen schließe und mir ein Bild von Raddatz vor Augen tritt, dann ist das ein
rauchender, Sancerrre-trinkender flamboyanter Mann, der den Wunsch hat, sich nicht zu
langweilen. Der flirtet. Der nichts anfangen kann mit heterosexuellen Männern. Er brauchte
eine gewisse Weiblichkeit in Männern, sonst konnte er mit ihnen nichts anfangen. Das war
mir höchst sympathisch. Z: 30“
17. O-Ton Theo Sommer:
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Man wusste, er war schwul. Man wusste, er war promisk, man wusste, er hatte einen festen
Freund über viele, viele, Jahre bis zum Schluss. Aber das hat keine Rolle gespielt. Da waren
wir hier bei der ZEIT immer schon „tolerant“. Wir haben gesagt, das geht uns nichts an.
Z: 26“
18.O-Ton Ulrich Greiner:
Er ist ja ein sehr selbstreflexiver Mensch gewesen, er hat über das, wie er ist und was er tut,
schon sehr viel nachgedacht. Das kann man diesen Tagebüchern entnehmen –
19.O-Ton Fritz J. Raddatz:
1. Januar 1986. Was mache ich falsch? //u „intensiv“, heißt es oft. – Manfred Sack , einer «
meiner » Redakteure, ein anständiger und sympathischer und auf seinem Gebiet
kenntnisreicher Mann, schrieb mir heute einen nachdenklich machenden Brief – einen
Abschiedsbrief, der gut gemeint war, der aber auch mich « charakterisierte » : « . . . selbst
wenn das Kapriziöse, Witzigkeitsbeflissene, Pointeneitle miteinander manchmal schwer zu
ertragen war . . . » War es so, war ich so ? Ist das, was ich als Heiterkeit meinte, als «
Verpflichtung zu guter Laune », in Wahrheit schwer zu ertragen? ( Take 5 aus CD) (1/04)
Z: 1.03
Akzent:
21.O-Ton Tilman Krause:
Es war jemand, der nie die Form verlor. Ich hab ihn nie formlos erlebt ich hab ihn in jeder
Hinsicht spöttisch, sarkastisch, zynisch, lästermäulig erlebt. Aber nie formlos. Es war ein Herr
vom Scheitel bis zur Sohle und wie er da auftrat, das war ein Gesamtkunstwerk. 9 06 // Es
war immer sehr ausgedacht und sehr gewählt und sehr mit Bedacht angezogen und musste
ja auch immer bei bestimmten Händlern auch gekauft werden
Sprecher 1:
Tilman Krause. Feuilletonredakteur der WELT.
22.O-Ton Tilman Krause:
Der Dandy, das ist eine Bezeichnung, die sicherlich auf ihn zutrifft und ist ein Lebensmodell
gewesen, dem er nacheiferte. Der Dandy ist ein Ästhet bis ins TZ. Das ist eben doch perfekt,
was er macht und wie er an seinen Texten feilte und die Pointen heraus präparierte, und bei
jedem Auftritt ein rhetorisches Feuerwerk entzündete. Immer natürlich frei gesprochen, so
hat er eben auch seine Gestalt, seinen Körper behandelt, bearbeitet. Es war alles Arbeit. Es
war Arbeit am Auftritt, es war Arbeit an der ganzen Art zu reden, sich zu präsentieren und
das ist ja das, was den Dandy ausmacht. Und insofern war er tatsächlich ein Dandy. Ganz
klar.
Z: 44
9
O-Ton Sven Michaelsen:
Ich habe selten einen Menschen erlebt, der auf so rasende Weise eitel war wie Raddatz.
Aber Raddatz wusste um seine Gefallsucht und hat ja auch eine biographische Theorie
entwickelt, wie diese Gefallsucht in ihn hinein gekommen ist: ein Vater, der ihn mit einer
Hundepeitsche verprügelte. Er sagt, dieses Dantytum, diese Flamboyanz, diese rasende
Eitelkeit war der Schrei: bitte liebt mich. Erlöst mich aus meiner Einsamkeit. Und das hat mir
immer eingeleuchtet.
Z 37
Sprecher 1:
Sven Michaelsen, Publizist.
26.O-Ton Sven Michaelsen:
Ich hab Raddatz gefragt, ob er eher bei Eitelkeit oder Narzissmus den Finger hebt. Er hat
gesagt bei Eitelkeit. Das ist so die Hälfte der Wahrheit. Narzissten sind strukturell einsame
Menschen, die um ihre Einsamkeit bis in den Tod auch wissen. Und das war ein wenig der
tragische Flor, den Raddatz auch immer umweht hat. Z: 27
Akzent:
Sprecher 1:
Sven Michaelsen fragt Raddatz im März 2014 für das SZ-Magazin:
Zitator 2:
Sie wurden zu Hause über Jahre brutal misshandelt. Wussten Sie, warum?
Zitator 1:
Ich habe mich jeden Tag gefragt, wie es sein kann, dass mein Vater so furchtbar grausam zu
mir ist. Beim geringsten Vergehen wurde ich so geprügelt, dass selbst der Hund Mitleid mit
mir hatte und erst recht meine Kindermädchen, die oft weinend versuchten, dazwischen zu
gehen, wenn er mir wie rasend blutige Striemen schlug. Mein Gefühl war, dass er mit seinen
geradezu orgiastischen Hassausbrüchen sich für irgendetwas an mir rächte.
Zitator 2:
Als Sie elf Jahre alt waren, gab es eine Nacht, die, wie Sie schreiben, „mein ganzes Leben
bestimmt und zerstört hat, nämlich als mein Vater mich verführt und ich mit seiner Frau
ficken muss“.
10
Zitator 1:
Obwohl ich ein alter Mann bin, habe ich diese Nacht nicht vergessen können. Mein Vater
kam mit erigiertem Glied in mein Schlafzimmer, zog mich durch die Verbindungstür ins
elterliche Schlafzimmer und führte mich meiner Stiefmutter zu. Mit meinen elf Jahren hatte
ich keine Ahnung, was von mir erwartet wurde. Irmgard, so hieß sie, war die erste Frau, mit
der ich geschlafen habe. Sie war mit ihrem Mann sexuell im Gange und deshalb entzündet,
wie man das vornehm nennt. Da muss es einen Moment gegeben haben, dass sie sagte,
wenn sogar der Vater das interessant findet, dann will ich es auch.
27. O-Ton Fritz J Raddatz:
Es geht um einen Kindermord, es geht um die Vergewaltigung eines Elfjährigen und in
meinem Leben hat das sehr viel angerichtet. Ich habe das jahrelang wie Tschernobyl mit
einem Betonbunker zugebaut, um es nicht hochkommen zu lassen, um mich nicht
vernichten zu lassen von dieser Szene. Denn das ist eine der bittersten Erfahrungen meines
Lebens. (aus Maischberger-Talkshow)
Z: 25“
Akzent
28.O-Ton Tilman Krause:
Er war ja ungemein kontaktfreudig und auch sehr gesellig, was ich nicht typisch für den
Intellektuellen finde, vor allem nicht typisch für den Intellektuellen aus dem Bereich der
Literatur. Er war insofern sehr gesellig, als dass er nicht nur gern unter Menschen war,
sondern, 16 49 er war auch ein guter Unterhalter. Er konnte jede Runde aufmischen. Er
konnte jede Runde fröhlich machen. Mit ihm war irgendwie immer Stimmung, er war
jemand, der auch die vibrations von anderen Menschen aufnahm
(33)
Ich führe so etwas auf Homosexualität zurück. Homosexuelle Männer sind einfach wacher
als heterosexuelle Männer. Die kriegen mehr mit. Die kriegen mehr mit, was sich zwischen
Frauen und Männern abspielt, die kriegen mehr mit, was sich zwischen Männern und
Männern abspielt, und er hatte das sehr stark. Er hatte sehr stark diese homosexuelle
Wachheit 17 26 und er konnte sie auch sehr gut ausspielen. Und natürlich, ich kann mir das
gut vorstellen, ich selber hab das nicht erlebt, aber in seiner großen Zeit bei der ZEIT, als er
eben Ressortleiter des Feuilletons der Zeit war, da hat er das natürlich auch beruflich
ausgespielt. Er hat alle Quellen sprudeln lassen.
Akzent
Sprecher 1:
Ulrich Greiner in der ZEIT vom 5.3.2015
Zitator:
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Auf den Höhepunkten seiner Karriere, ob bei Rowohlt oder der ZEIT, wirkte Raddatz wie ein
überirdisch begabter Varietékünstler, der auf dem Seil tanzt, zugleich die Löwen bändigt und
mit Bällen jongliert, während er durch die Manege galoppiert und das Publikum mit seinen
Pointen amüsiert. So auch als Feuilleton-Chef.
Er war heute in New York bei Susan Sontag, nachdem er gestern mit Cioran in Paris und
vorgestern mit Francis Bacon in London gesprochen hatte, um morgen Dürrenmatt am
Neuenburger See zu besuchen. Dazwischen diktierte er Aufmacher und Glossen,
unterschrieb Honoraranweisungen, stellte die Jury für seine berühmte ZEIT-Bibliothek der
100 Bücher zusammen, pflegte die Freundschaft mit Günter Grass, Paul Wunderlich und Rolf
Hochhuth, ohne Thomas Brasch und Walter Kempowski zu vernachlässigen. Dass er
außerdem noch Bücher schrieb und Fernsehsendungen moderierte, kam erleichternd hinzu.
31.O-Ton Sven Michaelsen:
Ich habe Raddatz kennen gelernt Anfang der 90iger Jahre, ich war damals beim Stern,
Raddatz war rausgeflogen bei der ZEIT und der damalige STERN-Chefredakteur wollte
Raddatz verpflichten als Chefreporter. Raddatz hatte damals einen Roman geschrieben: das
Kuhauge und mit einem großen Interview über diesen Roman wollte man Raddatz zum
STERN locken und ich wurde beauftragt, dieses Interview zu führen. Wusste aber über den
Hintergrundplan meines damaligen Chefredakteurs nicht, rief Raddatz an, wo man sich
denn treffen könne und er sagte: ja, fliegen Sie nach Sylt, mir werden dort die Layouts für
eine Zeit-Magazin-Geschichte eingeflogen. Und ich sagte: Herr Raddatz, man kann auch mit
einem Zug nach Sylt fahren. Aber Raddatz bestand darauf, dass ich fliege, holte mich dann
mit seinem anthrazitfarbenen Porsche am Flughafen ab und wir fuhren in etwas, was er sein
„Handschuhfach“ nannte, das ist sein Appartement in Kampen gewesen und der Name
Handschuhfach stammt von seiner Intim-Freundin Gabriele Henkel, einer Milliardärswitwe,
die so etwas Kleines selten in ihrem Leben gesehen hatte. Und in diesem Handschuhfach
verbrachten wir dann 3-4 Stunden beim Interview und dann gingen wir zu Fisch-Fiete,
einem sehr teuren Restaurant 3. 40 auf Sylt und mein Chefredakteur hatte mich gewarnt,
dass Raddatz einer der größten Spesenbetrüger unter der Sonne sei und ich sollte darauf
achten, dass er nicht mehr als einen Gang isst. Und ich war heilfroh, als Raddatz dann nur
eine Suppe bestellte und ich sagte, Herr Raddatz, Sie können gerne noch einen Hauptgang
bestellen und er sagte: nein, ich esse nur eine Suppe, aber bitte, darf ich den Wein
aussuchen. Und dann tranken wir glaube ich zusammen 4 Flaschen und am Ende betrug die
Rechnung – es waren noch DM-Zeiten 1200 DM. Und mit dieser Rechnung landete ich
dann bei meinem Chefredakteur, der mir fürchterlich Tadel erteilte. Und davon erfuhr
Raddatz und schrieb dann – bitte schicken Sie mir die Rechnung. Ich übernehme das.
Z:1:54
Z: 154
Akzent:
32.O-Ton Tilman Krause:
12
Nein: Er war jemand, der etwas war, der wusste, dass er etwas war, dass er etwas darstellte,
und er wollte glaube ich durchaus auch Hochachtung und Respekt bezeugt bekommen von
seinen Mitmenschen, und er wollte vielleicht auch bewundert werden. //Also er war sehr
darauf erpicht, auch als Professor, als Akademiker von Graden, akzeptiert zu sein. Er wollte
schon gewürdigt werden als einer der großen führenden Intellektuellen der Nachkriegszeit.
Z 1.23
Zitator 1:
Hotel Kempinski, Berlin, den 5. März 1993 Mitternächtlich-einsam im Hotel nach
Bundespräsidenten-Gala : meinem Affen Eitelkeit reichlich Zucker gegeben – ob Geplauder
mit Otto Sander, Minetti , Kultus- und Bausenator, mit Star-Gast Brandauer .. oder dem
Hausherrn, der mich « prominent » begrüßte. Was für ein tiefer
Minderwertigkeitskomplex muss in mir sitzen, dass ich geschmeichelt selbstbestätigt
davon bin, dass – von Talk-Show-Böhme bis zum alten Berggruen – alle «Guten Abend,
Herr Raddatz» sagen. Das kleine Nachkriegs-Fritzchen ist «berühmt» – einerseits : Ja, es ist
meine Leistung, ich hab’s ja durch mein Schreiben geschafft, dass jeder mich kennt,
ich habe mich « durchgesetzt ». Andererseits: Was gehen mich diese Leute an, ich sehe
während der Unterhaltung auf die Uhr, sie amüsieren mich nicht, sind mir gleichgültig.
Früher hätte ich wenigstens jetzt, Mitternacht, die Lederjacke angezogen und hätte was «
erlebt » – heute interessiert mich auch das nicht, bin nicht mal mehr zu der
Kneipenverabredung mit Irene Dische gegangen, habe z. B. Brasch nicht angerufen, will
meine Ruhe haben, ins Bett, weil ich sonst morgen früh Kopfweh hätte. Eine lächerliche «
öffentliche Person », die die Öffentlichkeit scheut, gar flieht, und zugleich in einer Art
Ghetto-Komplex zu ihr gehören will und bin doch nicht besser, nicht anders als die; die ich
scheußlich finde. Der Mann ohne Mitte.
38. O-Ton Sven Michaelsen:
Ich war Praktikant der Henry Nannen Schule, durfte drei Monate im ZEIT-Feuilleton ein
Praktikum absolvieren und die Sekretärin sagte: ihr Platz ist der Raum Nummer so und so,
dann öffnete ich die Tür und dachte, ich hätte die falsche Tür geöffnet, denn mein Blick ging
auf einen Raum von einer Stattlichkeit, wie ich sie noch in keiner Redaktion gesehen habe –
an den Wänden hingen Autographen - von Geistesgrößen des 20sten Jahrhunderts, Z:33“
39.O-Ton Ulrich Greiner:
Er hat sich schon in der Tat mit den Großen des geistigen Lebens auf gleicher Stufe
gesehen und es war ihm auch immer wichtig, dass er nun von denen - Grass oder
Siegfried Lenz oder Gabriel Garcia Márquez - als einer der Ihren anerkannt wird. Das
war ihm immer wichtig.
Z 1.01
40.O-Ton Sven Michaelsen:
13
Und ich fragte die Sekretärin: Sie haben mir wahrscheinlich die falsche Raumnummer
genannt. Und sie sagte, nein, das ist das Zimmer von Herrn Raddatz, der ist grade gefeuert
worden und niemand möchte in diesem Unglückszimmer sitzen. Z: 13
Sprecher 1:
Am 11. Oktober 1985 veröffentlichte Raddatz in der ZEIT die Glosse „Bücher-Babylon“.
Dabei hatte er aus einem Artikel der Neuen Züricher Zeitung zitiert ohne zu bemerken, dass
der parodistisch gemeint war. Dieser Fehler, aber auch dass er vieles nicht so genau nahm,
führten zu seiner Kündigung.
42.O-Ton Ulrich Greiner:
Meine Theorie ist ja immer, solche wichtigen Entscheidungen, die fallen oft aus einem
unwichtigen Anlass und dieser Goethelapsus war natürlich ein großes Gelächter überall,
aber war nicht der wirkliche Grund. Der wirkliche Grund war, dass man des Raddatz müde
geworden war.
Z: Z 19“
Zitator 1:
12 Oktober 1985. In der ZEIT Freitag eine Sitzung à la « Parteigruppe Rote Pumpe » : «
Kritik und Selbstkritik des Genossen Raddatz. » Außer zwei Feuilletonkollegen kein einziger «
Fürsprech ». Ich meinte, nicht recht zu hören, wie einer der Redakteure, die den Artikel
mit dem « Goethe-Fehler » gegengelesen hatten, und der vor 6 Monaten – « Sie sind der
einzige, zu dem ich Vertrauen habe » – von mir berufliche Hilfe erbat, weil er mit Ted
Sommer nicht mehr auskam – , wie der das Feuer eröffnete. Der 2. hatte mich vor genau 1
Woche um Unterstützung seiner Bewerbung zum Ressort-Chef Wirtschaft gebeten: « Ihr
Wort hat Gewicht. » Jetzt kam aus demselben Munde : « Gewiss ist Raddatz farbig und
anregend – aber der Preis dafür ist zu hoch geworden. »
Und « außen » ? Immerhin kam Enzensberger gestern extra für 2 Stunden angeflogen,
haben Hochhuth, Habermas, Rühmkorf Briefe geschrieben und wollen Anders und Hrdlicka
und noch ein paar . . . aber in toto : nix. Eben noch « Ohne Sie wäre es eine Katastrophe »
oder « Nur Sie können . . . » ; eben noch eine Eloge von der Suppe bis zum Nachtisch beim
Abendessenmit Pastor Albertz , eben noch Dutzende von Gratulationen auf der Messe, ob
zum Böll -Nachruf oder zum Springer-Böll -Artikel « Der Riss », eben noch von TVRosenbauer : « Ohne Sie säße ich nicht mehr, wo ich sitze » – nun ist Schweigen ringsum.
43.O-Ton Ulrich Greiner:
Es ist natürlich, wenn man so einen Posten hat, so einen Chefposten ist es ja oft so, dass
es Augenblicke gibt, wo man denkt, mir wird's zu viel, ich hab keine Lust mehr. Aber es ist
was völlig anderes, ob man dann sagt, okay, ich kann mir noch was anderes vorstellen. Ich
sage, es ist jetzt genug und wende mich anderen Dingen zu. Dann ist das ja ihre
Entscheidung. Aber aus heiterem Himmel zu hören, man will mich nicht mehr, dann
sozusagen ein anderes kleineres Zimmer zu kriegen, das ist für jeden schmerzlich. Z: 37
14
Akzent:
Zitator 1:
Kampen. 3. September 1986. Fünfundfünfzig. Unaufhaltsam auf den Tod zu. Da sitze ich –
seit 10 Tagen im strömenden Regen – und bin zunehmend verzagt über mein Leben. Kleine
Trostlichter (wie das, dass Rowohlt anstandslos und offenbar gar begeistert den Faulkner Essay verlegt) trösten nicht über eine Negativbilanz: Resultat meines Lebens ist ein Stapel
Bücher (von dem niemand, auch ich nicht weiß, ob sie das Papier wert sind, auf dem sie
gedruckt wurden). Aber « Lebensgesetz » ist, wie sich mehr und mehr herausgestellt
hat, « Unverträglichkeit », um nicht das ZEIT-Goebbels -Wort „untragbar“ zu verwenden.
Wie es Menschen gibt, in deren Nähe Blumen eingehen oder zumindest nicht gedeihen,
lässt mein elektromagnetisches Feld Menschen mich abschütteln, fliehen, auch langjährige
Freundschaften brechen und auflösen; der Bruch mit Mary ist ein Beispiel. Und die letzte
dramatische Kurve, der kaum verhohlene Rauswurf bei der ZEIT letztlich dasselbe – / Der
gedunsen-trunkene Werner Höfer sagte mir, als Kompliment gemeint vorgestern Abend
in des toten Karlchen Bar : Ich sei so irritierend begabt, so hochgezüchtet dandyhaft, dass
sich neben mir jeder als Zwerg, als grob und laut und vulgär, als Mensch mit falschen
Gläsern, aus denen er den falschen Wein trinkt, und in falschen Anzügen vorkäme; « derlei
macht nicht beliebt », war sein Fazit.
Akzent:
44.O-Ton Nikolaus Hansen:
Er hat diese Katastrophen erlebt im Leben und ich glaube, dass Leute, die solche
Katastrophen erleben letztendlich, wenn sie in der Lage sind, wieder aufzustehen, daran
auch eher wachsen, als dass sie daran zu Grunde gehen, wenn sie nicht daran zu Grunde
gehen. Das kann man für Raddatz sagen.
45.O-Ton Iris Radisch :
Die Tagebücher von Raddatz, die haben mich schon sehr berührt und vor allen Dingen wegen
ihren großen Amplituden. Also diese Intensität des Lebens und des Fühlens, das hat mich
schon sehr berührt und da ich nun auch hier die Stelle im Feuilleton der Zeit einnehme, die
er solange eingenommen hat, hab ich das natürlich auch mit großem Interesse und
stellenweise auch mit viel Amüsement gelesen, wie er das zelebriert hat. Wie er das
inszeniert hat, da ich ja immer den unmittelbaren Vergleich hab, wie das heute ist, fand ich
das natürlich hinreißend, wenn er beschreibt...Das war ja für ihn fast ein Ministerposten,
etwas unendlich wichtiges, was mit ganz viel Bedeutung aufgeladen war und auch mit sehr
viel gesellschaftlicher Reputation; und da ich das heute als eine sehr viel nüchternere Arbeit
betrachte, fand ich diese Differenz immer interessant und mich hat das immer sehr berührt,
wie er nur aus diesem Beruf bestanden hat.
Z 1.05
15
46.O-Ton Theo Sommer:
Gut, er war ein sehr empfindsamer Mensch und in diesen Kränkungen hat er seine
Empfindsamkeit kultivieren können. Dieses ist übrigens etwas, das mir erst aufgegangen ist,
als ich die Tagebücher las und die Autobiografie. Er hat hier im Umgang mit der Redaktion in
seiner Arbeit nie diesen Eindruck vermittelt, dass er im Grunde ein ganz trauriger, sehr
verletzter Mensch ist.
Zitator 1:
27. Juni 1996. Kann mir nur einen schrecklichen Dorian-Gray-Spiegel vorhalten : Immer und
immer mehr werde ich zu einer grotesken, lächerlichen Figur, einem Mann wie eine
Attrappe : vor Blumen, Kerzen und erlesenstem Mobiliar alleine zum Abendessen sitzend
bei Mozart oder Hanns-Eisler-Platten, bei Weinen oder Champagner aus ich weiß nicht
wieviel Gläsern – – – und zugleich ein zurechtgeschminktes Gespenst, Impotenz schon im
Kopf vorwegnehmend, allenfalls wie eine groteske Thomas-Mann -Kopie auf dem
Wintergarten hinter den Palmen zu den halbnackten Maurern hinüberstarrend, die am
Nachbarhaus arbeiten und die wahrlich herrlichsten Körper spielen lassen (manchmal habe
ich das Gefühl, sie wissen, dass ich sie beobachte) – zwei junge, muskulöse, in Shorts vor
allem – und sind leicht kokett : alles sehr ekelhaft. Ich widere mich an.
48.O-Ton Ulrich Greiner:
Er ist ja beim Schreiben noch ehrlicher gewesen als im persönlichen Umgang. Da neigte er
dann doch sehr zu einer geradezu altmodischen Höflichkeit, die es verhindert hat, dass er
dann zu konkret wurde, aber in seinen Texten wird es ja doch ganz offen ausgesprochen,
was es bedeutet, alt zu werden.
Zitator 1:
48 B O-Ton Fritz J Raddatz:
22. Januar 1983. Meine München-Reise vorgestern war auf vielfältige Weise
gespenstisch : Maximilian Schell war vor Monaten zu dem – wohl letzten – großen
Gespräch von Marlene Dietrich empfangen worden und hatte 40 Stunden
Tonbandaufnahmen. Der erste Schock : Da saß ein rückenkrummer, ältlich und
auseinandergelaufen aussehender Maximilian Schell , mit dicken Ringen unter den Augen
und einer Strickjacke an. Nix mehr vom einstigen Film-Beau und Tennisstarhaften. Mein
Schock war deshalb so groß, weil ich natürlich sofort dachte : Das geht ihm jetzt umgekehrt
genauso, noch dazu ich mit Bart, den ich damals, als wir uns vor Jahren kennenlernten,
nicht hatte. Und: Es geht auch allen anderen so, die mich heute kennenlernen.
Z: 1.09
49.O-Ton Nikolaus Hansen:
Die Tagebücher, die erschienen sind zu seinen Lebzeiten, haben im Grunde die letzten
Freunde und Sympathisanten verprellt, denn er hat eigentlich alle schwer angegangen. Auch
mich geht er in diesen Tagebüchern sehr hart an. Das ist etwas, da hat er etwas gemacht, er
16
hat diese Tagebücher geschrieben abends, wenn der Tag vorbei war hat da sozusagen die
Situation und die Leute auseinander genommen in seiner weltschmerzigen und manchmal
finde ich auch beleidigten, oder verletzten Art und er das ist eine sehr egozentrische
Sichtweise dieser Tagebücher. Ich finde er wird den Leuten nicht gerecht. Es ist zwar ein
manchmal sehr amüsantes, manchmal auch treffendes Urteil, aber es ist kein gerechter
Umgang mit den Schwächen von Menschen. Diese Tagebücher haben auch etwas, wo man
denkt , vielleicht wäre es besser, du hättest sie für dich behalten.
Z: 1.04
Akzent
Sprecher 1:
11. Februar 2015
50.O-Ton Ulrich Greiner:
Und diese letzte Veranstaltung, die ich mit ihm erlebt habe, das war im Februar dieses
Jahres, da gab es eine Verlagsveranstaltung aus Anlass seines letzten Buches: „Meine Jahre
mit Ledig" und da war eben Raddatz auch dabei, es waren Menschen eingeladen, die er gut
kannte, mit denen er befreundet war, es war eine Runde vielleicht von 40 — 50 Leuten,
mehr waren das nicht und natürlich gab es Champagner, es gab auch leckeres Essen, es
durfte auch geraucht werden, sonst wäre das nicht möglich gewesen und Raddatz wirkte da
sehr gelöst und ich hab ihm dann noch dieses Buch „Meine Jahre mit Ledig" gegeben und da
hat er mir eine sehr schöne persönliche Widmung reingeschrieben und er wirkte an diesem
Tag entspannt und froh und eigentlich gut dabei.
Z: 56
51.O-Ton Wilfried Weber:
Das war ein kleiner Kreis von Freunden von ihm, von alten Weggefährten, von Verlagsleuten
des Rowohlt-Verlages, Alexander Fest hat dann gesprochen und Ulrich Matthes war aus
Berlin herbei geeilt, um aus dem Buch vorzulesen und gerührt wie Raddatz war, hat er sich
dann hinterher in dieser gravitätischen, theatralischen Weise, die ihm eigen war, die eben
auch so als selbstironischer Spaß von ihm inszeniert wurde dann verbeugt, dankend
verbeugt vor Ulrich Matthes und dies so wie man das im höfischen Europa des 18.
Jahrhunderts machte und der Schwimmer, der Sportler Raddatz geriet da aber doch aus dem
Tritt. Es missglückte ihm diese Verbeugung so ein bisschen und er strauchelte und musste
aufgehoben werden.
Z: 101
52.O-Ton Ulrich Greiner:
Man sah eben tatsächlich, es ist nicht mehr der alte Spring-ins-Feld-Raddatz. Es ist eben der
alte Raddatz.
Z: 8“
Sprecher 1:
Fritz J Raddatz in der WELT vom 20. September 2014
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Zitator 1:
Man kennt das Bild; Gealterte Schauspieler: Die Augen erloschen, haschen sie nach den
spärlich applaudierenden Händen, der Rücken will sich nicht mehr beugen, doch man meint,
sie leckten vom Bühnenboden noch den letzten fahlen Schein des ausblendenden
Scheinwerferlichts auf. Quälende Erinnerung an den herrlichen Minetti, der seinen Text
vergessen hat. An die androgyne Celluloid-Fee Marlene Dietrich, die im schauerlichen
„Gigolo“-Film eine Karikatur ihrer selbst bot und nur am einst berühmten Piano lehnend sich
noch aufrecht halten konnte. Aufhören zur rechten Zeit muss sehr schwer sein.
Sprecher 1:
Iris Radisch in ihrer Abschiedsrede für Kollegen der ZEIT:
Zitatorin:“
Als am 26. Februar irgendwann am Nachmittag die Nachricht vom Tod von Fritz J. Raddatz
das Pressehaus am Speersort erreicht hat, stand ich in dem Zimmer, von dem aus er ein
Jahrzehnt lang das brillanteste und lebendigste Feuilleton Deutschlands erfunden und
dirigiert hat – und war ziemlich traurig. Natürlich hätte ich es wissen können. Natürlich hätte
ich auf seine letzte Reise nach Zürich vorbereitet sein können. Denn ich kannte ja seine
Tagebücher, ich hatte die Interviews gelesen, in denen er sich von uns verabschiedet hat. Er
habe sich ausgelebt, ja – ein schönes Raddatz-Wort – leergeliebt, hieß es da. Sein
Lebenskreis sei ausgeschritten. Er habe in der Gegenwart keinen Platz mehr. Die neue
Twitter- und Facebook-Welt sei nicht mehr seine Welt. Er wolle mit dem "pseudoinformierten Analphabetentum", mit dem er uns nun allein gelassen hat, nichts mehr zu tun
haben. Das war, wie man heute sagt: eine klare Ansage.
55.O-Ton Wilfried Weber:
Das war das Unglück. Die fehlende Aufmerksamkeit. Er hatte keine Aufgaben mehr. Und
fühlte sich eben nicht mehr in der Art und Weise wahrgenommen, wie es ihm eben auch
lebensnotwendig war. Das war sein Unglück.
Z: 38“
Sprecher 1:
5 Monate vor seinem Tod kündigt Raddatz in der WELT an, er wolle keine Rezensionen mehr
schreiben.
Zitator 1:
Alles Leben hat seine Grenze. Alles Erleben auch. Wem die Töne der Gegenwart nur mehr
Geräusche sind, die Farben Kleckse, die Wörter klingende Schelle: Wo wäre dessen
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Legitimation zu lautem Klagelied (0der, sehr selten, leisem Lobpreis)? Ich spreche sie mir ab,
fürderhin. Zu viele Gedichte sind mir nur mehr halbgebildetes Geplinker, zu viele gepriesene
Romane nur mehr preiswerter Schotter. Der nicht mehr liebt, der räsoniere nicht. Liebeleere
ist keine Qualität. Schon gar nicht für einen Kunstrichter. Also beende ich hiermit meine
Zeitungsarbeit, die ich mit 21 Jahren begann: die als Literaturkritiker, die als
kommentierender Journalist – nicht ohne indes den Dank an meine Leser zu vergessen. Ich
bin vor drei Wochen 83 geworden. Time to say goodbye. Goodbye.
Zitatorin:
Eine unendlich noble und ganz und gar außergewöhnliche Geste. Aber auch ein Text, der wie
alles aus seiner Feder derartig glänzend und geschliffen formuliert war, dass man geneigt
war, ihm kein Wort zu glauben. Das ist ja das Verrückte, was es einem schwer macht, über
ihn zu reden. Er selbst hat eigentlich alles immer schon selbst gesagt. (aus Gedenkrede Radisch)
Sprecher 1:
Letzte Tagebucheintragungen:
Zitator 1:
Hamburg, Januar 2015. Ich mache Termine, von denen ich weiß, ich werde sie nicht mehr
einhalten. Ich verabrede die Buchpremiere des Ledig-Buches (das zu schreiben schon eine
quälende Reise in finstere Vergangenheit war), wohl wissend, ich werde das letzte Mal den
munteren Zampano spielen. Ich frage mich bei jedem Handgriff: Wozu noch? Noch eine
neue Zahnpasta-Tube? Noch Schuhe besohlen? Noch Kaminholz nachkaufen? Doch alles
sinnlos – ich habe noch genau 6 Wochen, dann ists vorbei: Ich werde das Kempi in Berlin
buchen, sozusagen zur Täuschung und in die Maschine nach Zürich steigen.
Akzent:
Sprecher 1:
Das waren seine letzten Tagebucheintragungen.
Fritz J. Raddatz starb am 26. Februar 2015 in Zürich einen selbstbestimmten Tod. Einen
Tag vorher war sein letztes Buch: „Jahre mit Ledig“ erschienen. Heinrich Maria Ledig Rowohlt, den er seine „große reine Liebe“ nannte, war sein Vorbild und Vaterersatz. Das
Buch enthält einen Nachruf auf Ledig; es hätte auch ein Nachruf auf sich selber sein
können.
Zitator 1:
Er war ein Schauspieler der tausend Masken. Hinter denen verbarg sich ein verletzlicher,
scheuer, einsamer Mensch; die vielleicht komplizierteste Persönlichkeit, der ich begegnet
bin. Anekdoten und Kostümierungen- viele von ihm selber geradezu liebevoll gepflegt – sind
Legende in den Hauptstädten der Bücherwelt von Mailand bis Tokio, Frankfurt und New York
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und gehören zum Repertoire einer großen Inszenierung. Aber es täuscht sich gewaltig, wer
den Clown für den Mann hält, den Charmeur für den Menschen. Er hatte sich aus alldem ein
Versteck gebaut; ein nur in diesem einzigen Exemplar existierender Paradiesvogel, der sich
ein Nest gepolstert hatte aus Havanna-Zigarren, bestickten Samtpumps, farbigen
Ziertüchlein und geblümten Hosenträgern: einen surrealistischen Wall gegen die Welt. Darin
verborgen – selbst das dröhnende Lachen perfekte Schalltäuschung – ein nahezu hautlos
sensibler Mensch, der in einer Mischung aus Misstrauen und Hoffnung auf Liebe wartete,
auf Freundschaft und Zuneigung. (aus Fritz J. Raddatz: „ Jahre mit Ledig“ 2015)
Sprecher 1:
Dichter und Dandy Erinnerungen an Fritz J. Raddatz
von Rosvita Krausz
Es sprachen: Michael Witte, Robert Dölle, Claudia Mischke und Andreas Potulski
Ton und Technik: Ernst Hartmann und Jens Müller
Regie: Burkhard Reinartz
Redaktion: Tina Klopp
Produktion: Deutschlandfunk 2016