Hintergrund - Brigitte Pothmer, MdB

Brigitte Pothmer, MdB
Sprecherin für Arbeitsmarktpolitik
November 2015
Zu enge Definition der „guten Bleibeperspektive“ setzt Integrationschancen Asylsuchender aufs
Spiel
Je schneller Flüchtlinge damit beginnen können deutsch zu lernen, desto besser sind ihre Chancen
auf eine erfolgreiche Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt. Künftig haben Asylsuchende mit
guter Bleibeperspektive Zugang zu Integrationskursen und zu Förderinstrumenten der
Arbeitsmarktpolitik. So sieht es das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vor, das im Oktober
verabschiedet wurde. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, denn bisher waren alle
Asylsuchenden von diesen Angeboten ausgeschlossen. Wie viele Asylsuchende tatsächlich profitieren
können, hängt allerdings von der genauen Ausgestaltung dieser Neuregelung ab. Was unter einer
guten Bleibeperspektive verstanden wird, wird nicht im Gesetz geregelt. Diese Definition obliegt dem
Bundesinnenministerium. Wie die Antwort auf meine Anfrage zeigt, geht man dort nur dann von
einer guten Bleibeperspektive aus, wenn „ein Asylbewerber aus einem Herkunftsland stammt, das
eine Schutzquote von über 50 Prozent aufweist1.“ Mit dieser engen Definition bleiben aber
Asylsuchende z.B. aus Afghanistan, Somalia und Pakistan aus dem Kreis der berechtigten Personen
ausgeschlossen. Für die Dauer des Asylverfahrens haben sie nach wie vor keine Möglichkeit an einem
Sprachkurs oder an Fördermaßnahmen der Arbeitsagentur teilzunehmen. Und das obwohl viele von
ihnen in Deutschland bleiben werden - im Falle von afghanischen Antragstellern sogar fast jeder
zweite. Wenn die Herkunft das alleinige Kriterium für die Zuordnung bildet, ist das Ergebnis in vielen
Fällen nichts weiter als eine moderne Form der Wahrsagerei. Eine ziemlich fehlerhafte noch dazu.
Die „Fehlerquote“ dieser Einteilung würde im Falle afghanischer Asylbewerber bei fast fünfzig
Prozent liegen.
Stattdessen sollten vor allem Sprachkurse allen Asylsuchenden von Anfang an offen stehen. Denn
von dem Erlernen der deutschen Sprache profitieren sowohl sie selbst, auch wenn sie in ihre
Herkunftsländer zurückkehren, als auch das exportorientierte Deutschland. Mindestens müssen die
Mitarbeiter von Arbeitsagenturen und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen
Ermessensspielraum erhalten, damit sie bei individuell guter Bleibeperspektive Sprachkurse und
Förderung ermöglichen können. Davon will das Innenministerium aber nichts wissen. Selbst auf
Nachfrage lehnt man dort eine Ermessensentscheidung ab.
Asylbewerber aus Afghanistan oder Somalia müssen mit dieser starren Definition der „sicheren
Bleibeperspektive“ nach wie vor bis zur Anerkennung ihres Antrages warten, um mit dem
Spracherwerb zu beginnen. Hier wird die Unterstützung sprichwörtlich auf die lange Bank geschoben,
denn ein Asylbewerber aus Afghanistan musste im Jahr 2014 fast 14 Monate auf eine Entscheidung
über seinen Antrag warten. Die Bearbeitung seines Asylantrags dauert damit doppelt so lang wie im
Durchschnitt und sogar dreimal so lang, wie bei einem syrischen Antragsteller. Zwar verfolgt das
Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz das Ziel, Asylverfahren künftig deutlich schneller
abzuschießen. Doch gerade bei Anträgen aus Ländern deren Anerkennungsquoten im mittleren
Bereich liegen, ist die Bearbeitung offenbar viel zeitaufwendiger als bei Anträgen mit eindeutigeren
Anerkennungsquoten, wie etwa Syrien auf dem einen Ende oder Serbien auf dem anderen Ende der
Skala. Dies wird sich auch in naher Zukunft kaum ändern. Deshalb muss die Bundesregierung bei der
Definition der „guten Bleibeperspektive“ deutlich nachbessern, wenn sie die Integrationschancen der
Asylsuchenden aus diesen Ländern nicht aufs Spiel setzen will.
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Antwort des Bundesinnenministeriums vom 12.10.2015 auf die Schriftliche Frage Nummer 10/26 von Brigitte
Pothmer
Brigitte Pothmer, MdB
Sprecherin für Arbeitsmarktpolitik
November 2015
Hintergrund:
Anerkennungsquoten der 15 wichtigsten
Herkunftsländer im Jahr 20142
Syrien (89,3 %)
Serbien (0,2 %)
Eritrea (55,2 %)
Afghanistan (46,7 %)
Albanien (2,2 %)
Kosovo (1,1 %)
Bosnien-Herzegowina (0,3 %)
Mazedonien (0,3 %)
Somalia (25 %)
Irak (73,9 %)
Russische Föderation (6,5 %)
Pakistan (18,6 %)
Nigeria (8,1 %)
Ungeklärt (67,8 %)
Iran (51,8 %)
2
Durchschnittliche Bearbeitungsdauer in
Monaten im Jahr 20143
4,2
4,0
8,6
13,9
3,6
4,7
3,9
5,3
9,2
9,6
10,0
15,7
10,1
6,4
14,5
Alle Zahlen stammen aus der Antwort der Bundesregierung (18/3850
http://dip21.bundestag.btg/dip21/btd/18/038/1803850.pdf ), S. 4 oben
3
Alle Zahlen stammen ebenfalls aus der Antwort der Bundesregierung 18/3850, S. 11 oben