Leseprobe aus Die Traurigkeit wird nie enden

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LESEPROBE
Auszüge aus:
"Die Traurigkeit wird nie enden…"
Vincent van Goghs letzte Lebenswochen
im Sommer 1890 in Auvers-sur-Oise
"… ich entdeckte den Menschen hinter dem Maler."
E
ine schmale Treppe führt hinauf in den zweiten Stock. Hier, ganz oben
unterm Dach, befand sich van Goghs letzte Unterkunft. Eine einfache
Holztür, dahinter eine kleine Kammer, einer Zelle ähnlich, mit schadhaftem
Putz und einem winzigen Fenster, das schräg in den Himmel zeigt. Unwillkürlich stockt der Schritt an der Schwelle. Immer noch scheint der Raum
ergreifend erfüllt mit dem Fluidum Vincent van Goghs, der hier in dieser
Dachkammer am 9. Juli 1890 starb.
Ein seltsamer Zufall wollte es, dass Dominique-Charles Janssens, ein ehemaliger belgischer Geschäftsmann, 1985 auf einer Reise in der Nähe
von Auvers-sur-Oise einen Autounfall hatte. Als Monsieur Janssens seine
Verletzungen auskurierte, nahm er sich die Zeit, die Briefe van Goghs zu
lesen.
„Ich war so bewegt“, sagte er, „ich entdeckte den Menschen hinter dem
Maler. Ich entschied mich, das Wirtshaus zu kaufen und daraus einen
Treffpunkt für Verehrer von Vincent van Gogh zu machen, aber keinen
Sammelplatz für Touristen aller Art. Ich wollte die Klischees vom verkannten Maler mit dem abgeschnittenen Ohr vermeiden."(Van Gogh schnitt sich
nicht ‘ein Ohr’ ab, wie Gauguin schrieb und wie noch heute oft behauptet
wird; es handelte sich um ein Ohrläppchen.)
Das alte Gasthaus, die "Auberge Ravoux", war fast hundert Jahre nach
van Goghs Tod noch geöffnet, aber recht verfallen. Überzeugt, dass ihn das
Schicksal hierher geführt habe, bedrängte Monsieur Janssens die Besitzerin, es ihm zu verkaufen. Doch woher für eine Gedenkstätte das Geld nehmen?
„Dann ging ich zu etwa 75 Banken. Sie sagten mir alle, ich würde träumen.“ Schließlich fand er doch Unterstützung, auch außerhalb Frankreichs. Die Pläne, das Gasthaus rechtzeitig zur Hundertjahrfeier des Todes
von Vincent van Gogh im Jahre 1990 fertig zu haben, scheiterten am
Geldmangel. Aber Janssens hielt durch und ließ es mit Geschmack, vor
allem aber scharfem Gespür für Authentizität und Details restaurieren.
Sechs Jahre lang waren Studien, Reparaturen und Millionen Francs nötig,
um die bescheidene Atmosphäre neu erstehen zu lassen, wie sie der Maler
gekannt haben mochte.
Die viele Arbeit hat sich gelohnt. Originalgetreu wiedererstanden ist das
einzige noch vorhandene Haus, in dem van Gogh einst lebte. Im September
1993 öffnete es als ein würdiges „Maison de Van Gogh“ seine Türen. Fast
traute Janssens seinen Augen nicht, als er damals die lange Schlange von
Menschen sah, die gewillt waren, stundenlang zu warten, um einen Blick
in die ländliche Schenke und die winzige Schlafkammer des Malers und
den danebenliegende Raum seines Künstlerkollegen Anton Hirschig zu
werfen.
Van Goghs kleine Kammer sieht genauso aus wie damals, von den Rissen
im Putz bis zu den modrigen Fußbodenbrettern, aber alles ist diskret konserviert worden. Ein Stuhl mit geflochtenem Sitz ist das einzige Möbelstück
in der Dachkammer. Er steht auf der Seite, wo sich wahrscheinlich das
Bett befand, in dem er starb. Janssens spürte echte Möbel aus der damaligen Zeit auf, doch er mogelte nicht – van Goghs Totenbett war nicht mehr
auffindbar.
In der kleinen, ärmlichen Behausung spiegelt sich van Goghs Verachtung
für alle nebensächlichen Äußerlichkeiten des Lebens wider. Hier zu malen
war allerdings unmöglich. Kein Wunder, dass er es vorzog, Tag für Tag im
Freien zuzubringen. Es ist berührend und scheint richtig, dass der Raum
nicht in eine Art Reliquienschrein verwandelt wurde. So wie er ist, farblos,
traurig und einsam, bestätigt er die Legende von dem gequälten, mittellosen Künstler, der an der Geringschätzung und Gleichgültigkeit der Welt
zugrunde ging.
"Er wurde in unserer Familie sehr geschätzt. Wir nannten ihn
zwanglos ‘Monsieur Vincent’.“
A
n einem Maiabend war Vincent van Gogh 1890 mit einer Staffelei
unterm Arm in Auvers-sur-Oise, der ländlichen Kleinstadt nördlich
von Paris, angekommen. Er entdeckte ein billiges Gasthaus, wo er für
3,50 Francs am Tag Kost und Logis erhielt, die „Auberge Ravoux“. Bevor
der nächste Tag zu Ende ging, hatte er schon eine Studie von den alten
strohgedeckten Hütten mit Kornfeldern dahinter gemalt.
„Auvers ist sehr schön, ... man ist hier richtig auf dem Lande ...“, schrieb
er an seinen Bruder Theo. Er war in der Hoffnung gekommen, dass er
nach seinen „psychotischen Zusammenbrüchen“ (Humberto Nagera) in
Arles und Saint-Rémy hier „im Norden schnell gesund würde“ und sein
„Gleichgewicht wiederfinden“ könnte.
Schon bei Tagesanbruch stand er auf, um zum Malen hinauszugehen.
Mittags oder am frühen Nachmittag kam er meistens mit einem völlig
oder fast vollendeten Bild nach Hause, aß etwas und nahm nachmittags
im Freien oder im Gasthof die Arbeit wieder auf. Nach dem Abendessen
ging er schlafen, schon um 21 Uhr. Im Gegensatz zu den Jahren in Paris
und Arles trank er hier kaum.
Nach den Aussagen von Adeline Ravoux, der damals 13-jährigen Gastwirtstochter, war Vincent ein mustergültiger Gast. Noch viele Jahre später erinnerte sie sich an ihn.
„Er war ein Mann von staatlicher Figur, die Schulter auf der einen Seite
seines verletzten Ohres leicht hochgezogen, die Augen sehr glänzend. Er
war sanft und ruhig, aber wenig mitteilsam. Wenn man mit ihm sprach,
antwortete er stets mit einem liebenswürdigen Lächeln. Sein Französisch
war einwandfrei, obgleich er manchmal nach Worten suchte... Als ich
sehr viel später erfuhr, dass er in einer Irrenanstalt im Süden eingesperrt
gewesen war, war ich sehr überrascht, da er auf mich immer freundlich
und lieb gewirkt hatte."
"Die Arbeit hat mich in den Krallen."
B
is heute ist Auvers ein ruhiger, ländlicher Ort geblieben. Schmale,
gewundene Straßen mit alten Steinmauern durchziehen ihn. Die
Häuser haben steile Dächer wie auf van Goghs Bildern. Eines seiner berühmten Bildmotive, die gedrungene romanische Kirche, kann fast man
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unverändert wieder entdecken. Auch die Landschaft rund um das Dorf
wurde durch seine Werke aller Welt bekannt.
Van Gogh stürzte sich mit ganzer Kraft in die Arbeit, sie hatte ihn auch
hier „in den Krallen“. Denn nur, wenn er wie besessen malte und zeichnete, spürte er einen Sinn für sein Leben. In jenen 70 Tagen von Auvers
schuf er rund 80 Gemälde und dazu mehr als 60 Zeichnungen und Skizzen. Diese Arbeiten lassen kein Nachlassen seiner Schöpferkraft erkennen – im Gegenteil, gerade viele von ihnen sind weltberühmt geworden.
Während auf den Feldern ringsum die Getreideernte begann, trug Vincent van Gogh Tag für Tag die letzten Früchte seines Künstlerlebens in
seine Herberge.
1894, vier Jahre nach seinem Tod, sprach der belgische Maler und bekannte Architekt Henry van de Velde (1863-1957) mit seiner jungen Frau
auf ihrer Hochzeitsreise bei Theo van Goghs Witwe in Bussum bei Amsterdam vor und bat, die Bilder van Goghs ansehen zu dürfen, die sie
verwahrte. In seinen Memoiren schreibt er:
„Ohne viele Worte führte uns Madame Theo van Gogh auf den Speicher.
Alle Bilder - fast das gesamte Oeuvre Vincents - standen ungerahmt mit
der Bildseite gegen die Wände. Auf Tischen lagen dicke Mappen mit Hunderten von Zeichnungen. ... Eine unbeschreibliche und fast scheue Erregung erfasste uns, so plötzlich und so unmittelbar vor den Werken eines
der größten Genies der Geschichte der Malerei zu stehen und an Hand
dieser Bilder seinen ganzen tragischen Lebensweg verfolgen zu können.
Während wir Bild um Bild umwandten, fühlten wir uns in eine Sphäre
versetzt, in der unser eigenes Empfinden eins wurde mit der Verzückung,
von der Vincent erfasst war, als er die Bilder malte, die wir jetzt berührten. Wir sahen ihn vor uns, wie er rasend den Pinsel ergriff, die Tuben
auf die Palette ausdrückte, wie er bisher Unempfundenes und Ungesehenes verwirklichte. ... Kein Wort kam über unsere Lippen. Ergriffen gaben
wir uns den Eindrücken hin. ... Es war offenbar, dass ein Maler, der in
diesem Maße die äußersten Grenzen überschritt, von einer Krise niedergestreckt werden musste. …
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