unschuldig unheimlich Das Sennentuntschi

unschuldig unheimlich
Das Sennentuntschi
Ein Gastspiel des Bündner Kunstmuseums im Rätischen Museum
In der Sammlung des Rätischen Museums Chur befindet sich eine Sennenpuppe aus dem
Calanca-Tal, die in der Literatur als einzig real existierendes «Sennentuntschi» bezeichnet
wird. Das Bündner Kunstmuseum widmet diesem geheimnisvollen Objekt eine kleine
Ausstellung und bringt im Rahmen seiner Gastspiele Werke zeitgenössischer Kunst in die
Räume des historischen Museums.
Wegen den Bauarbeiten bleibt das Bündner Kunstmuseum bis Sommer 2016 geschlossen
und organisiert während dieser Zeit Gastspiele an verschiedenen Orten und in Zusammenarbeit mit andern Kulturinstitutionen im Kanton und darüber hinaus. Bevor im Juni 2016
das erweiterte Bündner Kunstmuseum wieder eröffnet wird, gastiert es mit der Ausstellung
«unschuldig unheimlich» im Rätischen Museum und nützt die Chance, neue Perspektiven
auf die sagenhafte Wirklichkeit des «Sennentuntschi» zu eröffnen.
Die Sage ist bekannt und im ganze Alpenraum verbreitet: Ein Senn und seine Hirten erschaffen sich aus Stroh, Lumpen und Teig eine Puppe. Sie treiben mit ihr allerhand Unfug
und machen sie sich gefügig, bis diese lebendig wird und dem ganzen Treiben ein blutiges
Ende setzt: Beim Alp Abzug rächt sich das «Tuntschi» und spannt die Haut des Sennen über
dem Hüttendach auf. Heute sind verschiedene Varianten dieser Sage bekannt und es gibt
verschiedene Namen für die frevelhaft getaufte Puppe. Erstaunlich ist aber, dass es neben
den die Fantasien beflügelnden Geschichten keine Objekte gibt, die diesen unmoralischen
Zeitvertreib auf der Alp belegen würden – mit einer Ausnahme: der Sennenpuppe aus dem
Calanca-Tal, die sich heute in der Sammlung des Rätischen Museums befindet. Sie dient als
Ausgangspunkt für die aktuelle Ausstellung.
Immer wieder erschaffen sich Menschen mehr oder weniger leibhaftige Gegenüber. Was
in der Mythologie und der Sagenwelt vielfach aufgegriffen wurde, ist auch in der Literatur
und der bildenden Kunst ein sehr beliebter Stoff: Schon Ovid hat in seinen Metamorphosen
von Pygmalion erzählt, von Leid und Freud eines Mannes, der durch die Erfahrung der Einsamkeit zum Bildhauer wurde und sich eine bildschöne Frauenfigur erschuf, die schliesslich
lebendig wurde und ihm half, die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu durchbrechen.
Bekannt sind auch verschiedene Künstlerpuppen: So liess sich etwa Oskar Kokoschka als
Ersatz für seine verlorene Geliebte Alma eine Puppe machen, die ihm bis zum finalen Liebesmord als Fetisch, künstliche Frau, ideale Geliebte und Modell diente. Und der surrealistische
Fotograf und Zeichner Hans Bellmer hat im «Spiel mit der Puppe“ sein wichtigstes Thema
gefunden und jahrzehntelang obsessiv das erotisierende Bild eines oft geschundenen
weiblichen Körpers zur Darstellung gebracht.
Auch in die Theater- und Kinowelt fand das Thema des «Sennentuntschi» Eingang.
Hansjörg Schneiders Dialektschauspiel (1972) hat vor allem nach einer Ausstrahlung durch
das Schweizer Fernsehen (1981) heftigste Proteste ausgelöst. Die sexuelle Praxis, die Beseelung der Puppe und die Deftigkeit der verbalen Ausdrücke erhitzten die Gemüter. Das
Skandalstück kam dennoch weiter auf den Spielplan verschiedener Theater und der jüngste
Film «Sennentuntschi» von Michael Steiner (2010) wurde gar zum Kinoerfolg.
Selbst in der zeitgenössischen Kunst gibt es Reflexe auf diesen Stoff: Peter Fischli und David
Weiss haben das «Lumpentiti» aus dem bäuerlichen Umfeld als «Geldsack» in den urbanen
Kontext der Zürcher Börse gebracht. Und auch die beiden Künstlerinnen Klodin Erb und
Eliane Rutishauser lehnen sich an die überlieferte Sage an: Sie nähern sich dem Stoff mit
subversiver Kraft. Weit weg von jedem moralischen Impetus kehren die Künstlerinnen in
ihrer multimedialen Werkgruppe «Baby» die anarchische Seite der Geschichte hervor und
treiben mit unseren Wünschen und Ängsten ein unheimlich lustvolles Spiel. Ihr «Baby» ist
mal Opfer, mal Täter. Es steht aufreizend zwischen Bäumen, sitzt lasziv im Lehnstuhl, gibt
sich preis. Niemand weiss, wer und was es umtreibt. Niemand weiss, was mit ihm geschieht.
Und niemand weiss, was zu verschweigen es uns anhält. Klodin Erb und Eliane Rutishauser
haben eine Figur von grosser Ambivalenz geschaffen und zeigen das «Sennentuntschi» als
Wesen, das überall und nirgends zuhause ist, das sich nicht fassen lässt. Sie bedienen sich
dazu auch aller künstlerischer Medien: Malerei, Zeichnung, Fotografie, Performance, Film
und kombinieren und mischen alles, um einmal mehr deutlich zu machen, dass sich das
«Sennentuntschi» nicht kategorisieren lässt.
Das Bündner Kunstmuseum hat 2014 fünfzehn Bilder der mehrteiligen Arbeit «Baby» von
Erb/Rutishauser erworben und bringt sie nun im Rahmen dieses Gastspiels in direkte Nachbarschaft mit der merkwürdigen Sennenpuppe aus dem Rätischen Museum. Damit soll der
Fokus auf ein einzelnes Objekt aus dem historischen Museum gerichtet und gleichzeitig eine
Neuerwerbung aus dem Kunstmuseum vorgestellt und vermittelt werden. Dass dabei die
Männerfantasie auf eine weibliche Perspektive trifft, ist nicht zufällig, sondern gewollt. Die
sagenhafte Wirklichkeit des unschuldig unheimlichen «Sennentuntschi» kann so jedenfalls
auf vielschichtige Weise erfahren werden.
In der Ausstellung:
Sennentuntschi (Sennenpuppe)
Holz, Tuch und Haar
1978 erworben vom letzten Bewohner des Weilers Masciadon, Gemeinde Cauco, Val Calanca
Rätisches Museum
Hirtenamulette
Holz, Tuch, Leder und Metall
1973 im Keller eines Hauses in Cauco, Val Calanca gefunden
Verwendung unbekannt
Leihgabe Susanne Müller-Bertschinger, Praden
Klodin Erb (*1963) und Eliane Rutishauser (*1963)
Baby, 2003 – 2006
Mehrteilige Arbeit, verschiedene Medien und Materialien
Bündner Kunstmuseum Chur / Galerie Rotwand, Zürich
Hans Bellmer
Die Puppe
Berlin: Gerhardt Verlag 1962
(Erstausgabe 1934)
Peter Fischli (*1952) / David Weiss (1946 – 2012)
Lumpentiti / Rag Doll (Geldsack). 2000
Schwarzweiss-Fotografie nach Objekt von 1992
Die mit Münzen gefüllte Puppe aus rohem Sackleinen entstand als Teil
des künstlerischen Schmucks des Neubaus der Börse Zürich
Leihgabe Antiquariat und Galerie Gerhard Zähringer, Zürich
Das Rätische Museum und das Bündner Kunstmuseum bedanken sich bei den Leihgebern
sowie bei weiteren Personen und Institutionen für die Unterstützung:
Bündner Kunstverein, Peter Egloff, Tim Krohn, Limmat Verlag, Robert Rüegg,
Stiftung Rätisches Museum, Muriel Stillhard, Andrea Zogg