FAUST
Oper in fünf Akten von Charles Gounod
nach Johann Wolfgang von Goethe
Libretto von Jules Barbier und Michel Carré
Produktion der Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH
und
FAUST_EINS
Ein Musik_Theater_Schauspiel
von Johann Wolfgang Goethe
Musik u. a. von Alfred Schnittke und Hannes Pohlit
Produktion des Theaters Rudolstadt
Spielzeit 2015/2016
Oper: Tijana Grujic,
´ Florian Kontschak, Opern- und Extrachor
DIE HANDLUNG DER OPER
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1. Akt
Fausts Studierzimmer. Der alte Faust
will sich das Leben nehmen, da er sein
Lebensziel nicht erreicht hat. Gottes Natur
preisende Gesänge empfindet er als Hohn:
Gott ist nicht in der Lage, ihm zu helfen.
Faust verflucht das bisherige Leben und
ruft den Teufel zu sich. Von Méphistophélès verlangt er erneute Jugend, um die
Liebe noch einmal zu erleben. Der Teufel
schließt einen Pakt: Dafür, dass er Fausts
Wünsche erfüllt, soll der ihm später im
Jenseits dienen. Faust wird verjüngt.
hatte. Méphisto arrangiert ein Treffen
Fausts mit Marguerite, das die beiden zur
Annäherung nutzen, indem er Marthe in
ein amouröses Geplänkel treibt. Méphisto
heizt Faust an, so dass der über Nacht bei
Marguerite bleibt.
4. Akt
Marguerite, schwanger und verlassen,
sehnt sich nach Faust und schämt sich
ihrer Tat. Siébel spendet ihr Trost. In der
Kirche bittet sie Gott um Vergebung. Statt
seines Zuspruchs hört sie Méphistos Fluch,
der sie in die Hölle schickt. Valentin kehrt
mit den Soldaten aus dem Krieg zurück.
2. Akt
Siébel zeigt sich merkwürdig wegen
Kirmes. Während ausgiebig gefeiert wird,
Marguerite. Faust fürchtet die Reaktion
rekrutiert man Soldaten für den KriegsValentins, wenn der von Marguerites Gedienst. Die Sympathien der Mädchen
schichte mit Faust erfährt. Méphisto will zur
fliegen ihnen zu. Valentin, der nach dem
Walpurgisnacht, doch Faust zu Marguerite.
Tod der Mutter erstmals wieder einrückt,
übergibt besorgt seine geliebte Schwester Méphisto klimpert ein freches Liebeslied.
Erzürnt will Valentin seine Schwester bei
Marguerite der Obhut Siébels. Méphisto
den Verführern rächen. Doch Méphisto
fordert die Gesellschaft heraus: Er löst
leiht Faust teuflische Kräfte, so dass dieser
Wagner, einen Freund Valentins, beim
Valentin im Duell trifft. Sterbend macht
Singen ab, weissagt den Tod für Wagner
und Valentin und zaubert. Als er Marguerite Valentin seine Schwester für seinen Tod
verantwortlich und verflucht sie wegen
erwähnt, kommt es zum eifersüchtigen
ihres Lebenswandels.
Kampf. Der Teufel wird mit göttlicher Kraft
entzaubert. Faust verlangt, Marguerite zu
treffen, die ihm Méphisto vor der Verjün5. Akt
gung gezeigt hatte. Siébel will das verhinWalpurgisnacht. Méphisto führt Faust in
dern, doch Méphisto drängt ihn zurück.
seine Welt zu den Hexen. Die höllische
Marguerite weist Faust ab.
Feier lässt sein Herz nicht gesunden.
Stattdessen sieht Faust Marguerite als
Erscheinung und will zu ihr.
3. Akt
Siébel bringt Blumen zu Marguerites Haus, Kerker. Méphisto öffnet Faust die Zellentür
um ihr seine scheue Liebe anzudeuten. Mit der zum Tod verurteilten Kindsmörderin
Weihwasser löst er zwar Méphistos Zauber Marguerite. Während Faust sie durch
über die Blumen, doch der Teufel stellt als Flucht vor dem Tod retten will, fühlt sie
sich durch seine Rückkehr moralisch
rivalisierendes Geschenk des buhlenden
gerettet. Als Méphisto zum schnellen
Faust prächtigen Schmuck daneben.
Aufbruch drängt, wendet sich Marguerite
Nachbarin Marthe redet Marguerite zu,
auch von Faust ab. Gott nimmt ihre Seele
den gefundenen Schmuck zu behalten.
Marguerite hofft, dass der von jenem Herrn zu sich. Der wiederauferstandene Christus
hat Méphistophélès besiegt.
wäre, der sie auf dem Fest angesprochen
5
Oper: Tijana Grujic,
´ Lázaro Calderón
„VERWEILE DOCH, DU BIST SO SCHÖN!“
Gedanken und Fragen zu Goethes „Faust“ von Michael Kliefert
6
„Faust“ ist ein höchst zwielichtiges
Stück. Alle Versuche, ihn dem Verstand
näher zu bringen, seien vergeblich,
warnte Goethe. Über tausend Äußerungen sind allein vom Autor selbst zu
seinem Werk überliefert. Dazu kommen
Abertausende von Artikeln, Büchern,
Aufführungen, viele Bilder und Faustfilme sowie eine Flut von Kompositionen.
Wer sich in die Tragödie hineinbegibt,
läuft Gefahr, sich darin zu verlaufen angesichts der disparaten Sinnschichten
und Aufmerksamkeitsebenen. Goethe
hat in sein „Faust“-Fass, seine „sehr
ernsten Scherze“, wie er seine Tragödie
nannte, alle ihm wichtigen Gedanken
hineingeschüttet und wie ein Magier
zu einem geheimnisvollen Gebräu
vermengt.
Die zentralen Fragen, die im „Faust“
verhandelt werden, sind so alt wie die
Menschheit: Was ist der Mensch? Was
treibt ihn an? Hat er die Folgen seines
Tuns im Griff, kann er die Duplizität seiner physischen und psychischen Natur
meistern? Wie kann er Schöpfungsgenuss empfinden? Goethe bleibt uns
eine verlässliche Antwort schuldig.
Faust, dieser Abenteurer des Wissens,
glaubt an nichts mehr, nicht an Gott,
nicht an die Hölle, nicht einmal an sich
selbst. Jegliche Sinnhaftigkeit der Welt,
jegliche Daseinsbejahung scheint ihm
abhandengekommen. Und doch überrascht er sein teuflisches Gegenüber –
und auch uns – mit dem Verlangen
nach einem ekstatischen Urerlebnis.
Die berühmte Paktformel, die zwischen ihm und Mephisto in eine Wette
mündet, ist nicht nur eine willkürliche
Selbstermächtigung über seine eigene
Lebenszeit, sondern kann im Gegenteil
auch als eine utopische Sehnsucht
verstanden werden: „Werd ich zum
Augenblicke sagen,/Verweile doch, du
bist so schön!/Dann magst du mich in
Fesseln schlagen,/dann mag ich gern
zu Grunde gehen.“ Faust will die Ganzheit und wahrhaftige Fülle des Lebens
im Augenblick des Schönen erfahren.
Für Goethe eines der heiligsten Güter.
Dann ist er bereit fürs Sterben, dann
akzeptiert der Mann, der stets nach
dem Unendlichen, dem Absoluten
giert, seine Endlichkeit, seine Relativität. Ist so ein Augenblick bei Fausts
rastloser Konstitution überhaupt möglich? Wie müsste so ein Augenblick
aussehen und wie lange müsste das
Schöne andauern, damit Faust ihn
verspürt und dann auch annimmt?
Braucht man für diesen überhaupt den
Teufel oder vielleicht doch eher die
Musik – die „Göttermacht der Töne“?
Hat der Dichter auch aus diesem Grund
so viele musikalische Spuren in sein
Werk hineingeschrieben, weil Worte
allein nicht ausreichen für das Erlebnis
der Transzendenz? Fragen über Fragen.
Für Goethe selbst war die „Erfahrung
des Schönen“ ein Urquell des Lebens
und elementar „mit Hoffnung und
Zutrauen verknüpft“. Seine Innovation
des überlieferten Faust-Mythos’ bestand, neben der gravierenden Veränderung des klassischen Teufelspaktes
in die Form einer Wette mit offenem
Ausgang, in der Hinzufügung der
Gretchen-Tragödie. Für Faust wird das
Aufeinandertreffen mit Margarete zur
wichtigsten Begegnung mit dem Schönen. Es geht dabei keineswegs nur
um das Äußerliche, sondern Gretchen
steht für die Entdeckung einer ihm bisher verschlossenen Welt. Der Augenblick der Liebe – eine Urerfahrung des
Schönen – bricht über Faust hinein mit
der Plötzlichkeit einer Naturkatastrophe und genauso zerstörerisch endet
diese Liebesgeschichte auch. Ist Faust
7
Schauspiel: Lisa Klabunde, Steffen Mensching
der Täter seiner Taten oder reitet ihn
sein eigener Dämon in Gestalt von
Mephisto und das Schöne kann für
ihn nie etwas anderes sein als des
Schrecklichen Anfang? „Die Hölle ist
leer. Alle Teufel sind hier!“, heißt es bei
Shakespeare.
Mit der Inszenierung von „Faust, der
Tragödie erster Teil“ belebt das Theater
Rudolstadt eine über viele Jahrzehnte
verschüttete historische Aufführungspraxis. Schon Goethe plädierte bei den
ersten Inszenierungen für ein enges
Zusammenwirken von Schauspielkunst
und Musiktheater. Kein Schauspiel zu
seinen Lebzeiten sah eine so vielfältige
Mischung aus Liedern, Melodramen,
Chor- und Instrumentalpassagen vor.
Des Dichters eigener Wunsch war es,
Mozart hätte sein Opus Magnum vertont. Dazu kam es leider nicht. Auch
Beethoven trug sich ernsthaft mit der
Absicht, eine große „Faust“-Musik zu
schreiben. Was Goethe wohl von ihr
gehalten hätte, wo er doch ausrief,
als ihm der junge Mendelssohn den
Anfang der 5. Sinfonie auf dem Klavier
vorspielte: „Man möchte sich fürchten,
das Haus fiele ein. Wenn das nun alle
die Menschen zusammenspielen!“
Mittlerweile existieren zum gesamten
„Faust“-Stoff von über 650 Komponisten Vertonungen. Das musikalische
Spektrum reicht dabei von der Oper
bis zum Ballett, vom einfachen Lied bis
zum Musical, von der Ouvertüre bis zur
großen Sinfonie. In unserer Aufführung
erklingen u. a. Auszüge aus Werken
des berühmten russischen Polystilisten
Alfred Schnittke (1934–1998) und – als
Uraufführung – Neuvertonungen des
Leipziger Komponisten Hannes Pohlit,
die er eigens für das Theater Rudolstadt
geschrieben hat.
GOUNODS OPER UND GOETHES „FAUST“
von Anja Eisner
8
Gounods „Faust“-Oper wird von den
Deutschen gern als „Margarete“
tituliert, weil vorrangig nur die Gretchentragödie behandelt wird. Abgesehen davon, dass das Dilemma des
Gelehrten bei Gounod keineswegs
ausgespart ist, die vorschnelle Umbenennung verkennt, welche inhaltlichen
Qualitäten die Oper neu einbringt –
über die emotionalen Qualitäten, die
ein Musikwerk hinzufügt, hinaus.
Was ist anders?
Bei Goethe ist der Mensch Faust
Spielball einer Wette zwischen Gott
und Teufel. Gounods Faust bestimmt
sein Schicksal selbst: Er, der in seinem
Leben trotz strebsamer Forschung
und in stetem Übereinklang mit Gott
nicht die Erfüllung gefunden hat, ruft
den Teufel selbst herbei. Er will noch
einmal jung werden und neu anfangen.
Mephisto findet Freude an einem Pakt,
den er auf eigene Rechnung macht.
Während er bei Goethe an Gottes langer, beschützender Leine läuft, muss
er sich bei Gounod immer wieder gegen
Oper: Tijana Grujic,
´ Opernchor
die gottesfürchtigen Menschen durchsetzen. Findet er z.B. Gefallen daran,
Fausts Nebenbuhler Siébel die Blumen
zu verhexen, so wird ihm diese Freude
durch die Entzauberung der Blumen
mit Weihwasser verhext. Überhaupt
Siébel. Bei Goethe ist er eine der
Randgestalten aus „Auerbachs Keller“.
Gounod wertet die Figur auf, indem
er aus ihr einen Menschen macht, der
Margarete echtes Vertrauen und Liebe
entgegenbringt und somit zum Gegenspieler Fausts wird. Damit bekommt
die Beziehung Faust-Margarete ein
ganz anderes emotionales Gewicht als
bei Goethe. Dort ist das Gretchen vor
allem Mittel zum Zweck: ein Versuch
Mephistos, Faust durch Liebeständelei
von seinem Streben abzuziehen.
Gounod unterscheidet in seiner Oper
nicht zwischen den Szenen „Vor dem
Tor“, in der Faust beim Osterspaziergang feststellt, wie wenig er sich
den erwachenden Freuden der Natur
hingeben kann, ohne zu bedauern,
dass er sie nicht durchschaut, und
„Auerbachs Keller“, in dem Faust statt
mitgrölend zu saufen, sich angewidert
von solcherart Vergnügen abwendet.
Gounod führt eine Kirmes ein, in der
sich Elemente aus beiden Szenen
finden. Diese einzige Szene schon genügt, um das gesellschaftliche Klima,
in dem die Liebesgeschichte spielt,
hinreichend zu charakterisieren!
Ganz wesentlich unterscheidet sich
der Schluss: Während bei Goethe nach
Gretchens Rettung im Tod, Fausts
Geschichte in einem zweiten Teil
weiterverhandelt wird, endet Gounod
seine unterhaltsame Oper mit einer
eindrucksvollen Apotheose, die die
Gretchengeschichte im Sinne des Komponisten positiv löst.
Die MUSIK ZUM MUSIK_THEATER_SCHAUSPIEL
„FAUST_EINS“ VON GOETHE
HANNES POHLIT (*1976)
Zwölf Stücke zu Goethes „FAUST“
Clowns und Kinder
Suite aus der Filmmusik für Orchester
Kompositionsauftrag des Thüringer Landes- daraus: Satz I Titelmusik, Satz II
theaters Rudolstadt/Hannes Pohlit © 2015
Intermezzo
Nr. 1 Erdgeist
Der Aufstieg
Melodram mit Orchester
Suite aus der Filmmusik für Orchester
Nr. 2 Christ ist erstanden
daraus: Satz III Reue
für Chor und Orchester
Gogol-Suite
Nr. 3 Gesundheit dem bewährten Mann Suite aus der Bühnenmusik zum
Kanon für Chor a capella
Schauspiel „Die Revisionsliste“ von
Nr. 4 Ein junger Mensch
Nikolai Gogol
Lied des Mephistopheles für Singstim- Bearbeitung: G. Roshdestwenski (Zume und Orchester
sammenstellung) daraus: Ouvertüre
Nr. 5 Seid reinlich bei Tage
Agonie
Trinklied für Soli, Chor und Orchester
Suite aus der Filmmusik für Orchester
Nr. 6 Zaubermusik
daraus: Satz II Walzer
für Orchester
Der Walzer
Nr. 7 Gretchens Stube
Suite aus der Filmmusik für Orchester
Melodram für Sprechstimme und
Satz I Baustelle
Orchester
Nr. 8 Gretchen am Spinnrad
weitere verwendete Musiken:
Musik für Singstimme und Orchester
CHARLES IVES (1874–1954): The Unannach Motiven aus Franz Schuberts Lied swered Question (1906); FRITZ ROTTER
Nr. 9 Serenade des Mephistopheles
(1900–1984), WALTER JURMANN
„Was machst du mir an Liebchens Tür“ (1903–1971): Veronica, der Lenz ist da;
Lied für Solostimme, Gitarre und
ANTON GÜNTHER (1876–1937): ’s ist
kleines Orchester
Feierabend; UNBEKANNT: Auf einem
Nr. 10 Dies irae
Baum ein Kuckuck (Volkslied); RUDI
für Sopran-Solo, Chor und Orchester
CARELL (1934–2006): Goethe ist gut
Nr. 11 Satansmesse
Musik/Text: Cy Coben, Charles Grean,
für Chor und Orchester
Thomas Woitkewitsch.
Nr. 12 Hexentanz
ALFRED SCHNITTKE (1934–1998)
Die Musiken von Alfred Schnittke werden,
wenn nicht anders angegeben, in den Bearbeitungen von Frank Strobel aufgeführt.
Die Lebensgeschichte eines
unbekannten Schauspielers
Suite aus der Filmmusik
daraus: Satz II — Agitato 1 (Schlitten)
Das Märchen der Wanderungen
Suite aus der Filmmusik für Orchester
daraus: Sätze III, V, VII, IX
Schauspiel: Steffen Mensching
9
VOM VOLKSMÄRCHEN ZUR WELTLITERATUR
von Petra Maisak, Anne Bohnenkamp
10
Oper: Katharina Boschmann, Salomón Zulic del Canto, Yoontaek Rhim, Opern- und Extrachor
Goethes Arbeit am „Faust“ erfolgt in
einem spannungsreichen Werkprozess,
der eng mit seiner Biografie verknüpft
ist und mehr als 60 Jahre umfasst. Eine
Reihe von Zeugnissen und Kommentaren des Autors und seiner Zeitgenossen erhellt die Entstehungsgeschichte:
die Entwicklung vom „alten rohen
Volksmährchen“ (Goethe in Kunst und
Alterthum 1827; Kat. Nr. 40) über das
„innere Märchen“ (Goethe an Meyer,
20. Juli 1831) bis hin zu den „sehr
ernsten Scherzen“ (Goethe an Wilhelm
von Humboldt, 17. März 1832) einer
großen Dichtung der Weltliteratur.
Durch das Puppenspiel wurde Goethe
schon als Kind mit dem Faust-Stoff
vertraut; als Neunzehnjähriger kam er
durch Susanna Katharina von Klettenberg mit Alchemie und okkulter Philosophie in Berührung – Geheimlehren,
die ihn stark beschäftigten und erneut
der Sphäre des historischen Dr. Faustus
nahe brachten. Im Frühjahr 1772 hatte
Goethe die Hauptszenen der Frühen
Fassung konzipiert; 1831 schloss er
den zweiten Teil des „Faust“ ab, nahm
sich das Manuskript aber 1832, kurz
vor seinem Tod, noch einmal vor. Der
Stoff gewinnt eine völlig neue Komplexität und Bedeutungstiefe; Faust, der
„Unmögliches begehrt“ (V. 7488), und
sein vom Scheitern gezeichneter Weg
werden zur poetischen Parabel von der
Bestimmung des Menschen. Jede rational eingegrenzte Interpretation greift
bei dieser Dichtung zu kurz, wie Goethe
selbst in einem Gespräch mit Eckermann am 3. Januar 1830 betont: „Der
Faust … ist doch ganz etwas Inkommensurabeles, und alle Versuche, ihn
dem Verstand näher zu bringen, sind
vergeblich. Auch muss man bedenken,
dass der erste Teil aus einem etwas
dunkelen Zustand des Individuums her-
vorgegangen. Aber eben dieses Dunkel
reizt die Menschen, und sie mühen sich
daran ab, wie an allen unauflösbaren
Problemen.“
11
„An den Faust hatte er sich natürlich
vorläufig nicht gewagt. Es war ihm ja
leider noch immer nichts eingefallen
für die fehlende dramatische Handlung
im Mittelteil. Kein wirklich bewegender
Stoff, mit dem er die Episödchen aus
dem Volksstück ersetzen könnte. (…)
Ebenfalls ruhen und reifen ließ er
ersteinmal seine neueste geniale Idee
für ein aufsehenerregendes Drama:
‚Die Kindermörderin‘ oder so ähnlich,
inspiriert durch den jet zigen Fall.
Er wusste schon, wie er die Heldin
nennen würde: Nicht den Rufnamen
der Brandin würde er verwenden (…),
sondern ihren zweiten Vornamen:
Margarethe, kurz Gretchen.“
„Was hatte die Brandin erzählt: Der
Satan hat ihr den Mund zugehalten,
dass sie nicht sagen konnte, sie sei
schwanger. Der Satan wollte sie das
Gaubloch hinunterstoßen. Ihr schien
es, als ob was im Wein gewesen
wäre, das sie willenlos machte. Du
lieber Gott. Da hat er’s. Das ist es
doch, wonach er so lange gesucht
hat: Ein hochdramatischer, wirklich
bewegender Stof f, mit dem er im
Faust die Episödchen ersetzen kann.
Die Kindsmordtragödie ließ sich ja
wunderbar einbauen!
Gretchen, ver führ t von Faust mit
mephistophelischer Hilfe, bringt ihr
Kind um und landet im Kerker. Den
Faust reut es, doch es ist zu spät.
Besser ging es nicht.“
Ruth Berger in „Gretchen. Ein
Frankfurter Kriminalfall“
DER KOMPONIST CHARLES GOUNOD
12
Charles François Gounod wurde am 17.
Juni 1818 in Paris als Sohn eines Malers
sowie einer Malerin und Pianistin geboren. 1893 starb er am 18. Oktober im
Pariser Vorort Saint-Cloud.
Frühzeitig wurde er in Musik und
Malerei ausgebildet. Nachdem er dreizehnjährig Rossinis „Othello“ gesehen
hatte, gab er das Malen auf, um sich
vollends der Musik zuzuwenden. 18-jährig begann er am Konservatorium Paris
zu studieren (bei J.F. Halévy, Lesuer
und Paer). 1839 errang er den Prix de
Rom und nutzte das Stipendium zu
ausgedehnten Studien in Europa. In
Italien beschäftigte er sich mit geistlicher Musik des 16. Jahrhunderts und
entdeckte die Faszination der Religion
für sich. 1843 reiste er über Wien, Berlin und Leipzig, wo ihn Mendelssohn
mit Musik von Bach bekanntmachte,
zurück nach Paris. Dort arbeitete er als
Kirchenkapellmeister und Organist und
führte Musik von Bach und Palestrina
in die Gottesdienste ein. Um Kleriker zu
werden studierte er von 1846 bis 1848
an Saint-Sulpice. (Das ist übrigens jene
katholische Kirche, in der Chevalier des
Grieux Zuflucht vor Manon in der gleichnamigen Oper Massenets sucht). Doch
er schwankte zwischen Sinnenlust und
Entsagung. Man nannte ihn gar „der
poussierende Mönch“… Der charmante, kontaktfreudige Mann küsste
ausnahmslos jeden zur Begrüßung und
hoffte, dass er die Liebe aller gewinnen
könnte. Um die ihm so wichtige Anerkennung zu erringen, blieb ihm nichts
anderes übrig, als sich der Oper zuzuwenden, die allein Erfolg in der französischen Musikwelt versprach.
Dank der Vermittlung seines Schwiegervaters war er von 1852 (dem Jahr, in dem
er die Tochter eines Klavierlehrers vom
Konservatorium heiratete) bis 1860 fest
als Direktor des Orphéons angestellt
und somit Direktor und Leiter der Einstudierung der Gesangvereine der Stadt
Paris. Seinen ersten Opern – insgesamt
komponierte er 13 – war nicht allzu viel
Erfolg beschieden. Der Durchbruch
gelang ihm 1859 mit „Faust“, der Oper,
die ihn sofort zum bekanntesten französischen Komponisten machte. Auch
andere Opern hatten Erfolg, so „Mireille“ und „Roméo et Juliette“, doch die
Beliebtheit von „Faust“ erreichte keine
seiner weiteren Opern.
Der deutsch-französische Krieg war ihm
Anlass, von 1870 bis 1874 Zuflucht in
London zu nehmen. Sein dort gegründeter Chor, die heutige Royal Choral Society, weihte die Royal Albert Hall ein.
Im Alter wandte sich der Komponist, der
auch Schauspielmusiken, Orchesterwerke, Lieder, Klavierlieder, Instrumentalstücke und Kantaten komponiert
hatte, erneut der geistlichen Musik zu.
Seine Musik wurde vor allem in England
gefeiert, seine Oratorien brachten ihm
Reichtum. Sein „Inno e Marcia Ponteficale“ ist die heutige Hymne des Vatikans, seine Bearbeitung des Präludiums
C-Dur aus Bachs „Wohltemperierten
Klavier“ wurde mit dem Text des „Ave
Maria“ zu einem der populärsten klassischen Musikstücke.
Der Komponist war tief religiös und
wollte gleichzeitig als „Musiker der
Liebe“ gelten. Die Zuhörer entdeckten
verhüllte Erotik in seiner Musik, und er
selbst sagte gar einmal: „Wenn mich ein
guter Katholik einmal sezieren sollte,
wäre er sehr überrascht angesichts
dessen, was er drinnen fände.“
13
Oper: Florian Kontschak, Lázaro Calderón, Opern- und Extrachor
DIE OPER „FAUST“ IN IHRER ZEIT
von Anja Eisner
14
durchkomponiert war, sondern sich
in Dialogen weiterentwickelte. Dem
Unterhaltungswert „geschuldet“ sind
großartige, wirkungsvolle Solonummern, die nicht der Handlung bzw. wie
man es aus Arien kennt, der Schilderung innerer Befindlichkeiten dienen.
Sie sind wie Couplets eingefügt. So z. B.
das hinreißende Strophenlied, Mephistos „Rondo vom Goldenen Kalb“.
Wirkungsvolle Musik, die uns heute
Gounod, der nicht darauf aus war, die
erfreut, wurde auf Wunsch der Theater
Operngeschichte weiterzuschreiben
von Gounod nachkomponiert, so das
oder zu revolutionieren, schrieb im
besten Sinne für das Publikum. Er wollte Gebet des Valentin. Dem Geschmack
des französischen Publikums entankommen. Daher musste er auf Tradisprechend musste irgendwann für die
tionen, auf Erwartungshaltungen des
Publikums Rücksicht nehmen – was das Oper auch Ballettmusik her, und als
die Pariser Opéra „Faust“ ins Reperschlechteste nicht war.
toire übernahm, komponierte Gounod
auch Rezitative statt der Dialoge. So
Die Pariser Opéra, der Vorläufer der
heutigen Opéra Garnier, nahm „Faust“ wandelte sich die Oper jeweils für ihre
Adressaten.
nicht zur Uraufführung an. Am Uraufführungstheater, dem Théâtre-Lyrique,
war es üblich, dass die Handlung nicht
Ein Kunstwerk erzählt oft eine vom
Autor erdachte, erfundene Geschichte.
Und doch erzählt sie – über den damit
zumeist verbundenen philosophischen
Hintergrund hinaus – mehr. Der Autor
als Kind seiner Zeit, immer auch geprägt von ihr, lässt seine Zeit bewusst
oder unbewusst das Geschehen beeinflussen.
Schauspiel: Steffen Mensching, Matthias Winde
15
Oper: Salomón Zulic del Canto, Yoontaek Rhim, Katharina Boschmann, Florian Kontschak, Opern- und Extrachor
Napoleon III. bezahlte hohe kirchliche
Würdenträger aus der Staatskasse.
Zum Dank durfte er sich in seiner
Macht auf die Loyalität der katholischen Kirche stützen. Normen zur
Bewältigung des Lebens waren gefragt.
Frankreich war durch die Industrialisierung zu einer Wirtschaftsmacht aufgestiegen. Großer Prunk wurde gezeigt –
vor allem in der Hauptstadt, die damals
durch Haussmann architektonisch neu
geprägt wurde. Die Industrialisierung
bot den vom Lande kommenden ArbeiDie Außenpolitik wurde von internatern vollkommen neue, unbekannte,
tionalen Kriegen bestimmt. 1856, als
Gounod mit Barbier am Libretto arbei- nicht vorab einzuschätzende Möglichtete, wurde ein dreijähriger Krieg gegen keiten. Diese rieben sich mit den traRussland beendet, den Frankreich an
dierten Tugenden. Und auch das prägt
Gounods „Faust“ – und seinen Schluss
der Seite des Osmanischen Reichs,
– mindestens so sehr wie die Story um
Englands und Sardiniens um die Krim
Faust und Margarete.
und die Vorherrschaft in den Donaufürstentümern und auf dem Schwarzen
Meer führte. Die ideelle Unfreiheit und die physischen Grausamkeiten verlangten vehement nach der Klärung,
woher so viel Böses kam und machten
„Faust“ zum Thema der Stunde. Die
Zeit erklärt auch, weshalb in Gounods
„Faust“ das Militär eine wesentlich
größere Rolle als bei Goethe spielt.
Der Inhalt der Oper, der ebenfalls Auskunft über die Entstehungszeit gibt,
wandelte sich nicht. Die Mitte des 19.
Jahrhunderts, als die Oper entstand,
war – nicht nur in Frankreich – eine
sehr bewegte Zeit. Nach der Revolution
von 1848, die die Monarchie beseitigt
hatte, stieg schließlich mit Napoleon III.
ein neuer Kaiser auf den Thron. Sein
autoritäres Regieren trieb Andersdenkende wie Victor Hugo ins Exil.
16
„Doch welche Beziehung hat unser Leben noch zu Faust, zu dem faustischen
Menschen? Wir Kämpfer des heutigen
Werktages wollen die Welt erobern,
möglichst schnell, um durch die Materie zu persönlichem Wohlleben, zum
Genießen unsres Selbst zu gelangen.
Faust will Erkenntnis, will Eroberung
im Geistigen, Sieg über Werden und
Vergehen zum Nutzen der Menschheit –
Urtrieb überall. (…) Es geht nicht an,
Goethes große Schöpfung nur als
geniales Gemälde eines überwundenen
Mittelalters zu betrachten, als ein edles
Kunstwerk, wie die Vase im Schaufenster des Althändlers. Hier ist der Markstein, der Rubicon des Menschengewissens. Faust ist Wegscheide, Faust heißt
– bekennen! – Es geht nicht an, ihn für
den Ladenpreis an den Hut zu stecken
oder für ein Theaterbillet Kopf und Brust
damit zu füllen und morgen unsaubere
Börsenspekulationen zu machen.“
Erwin Hahn
„Natur! Wir sind von ihr umgeben und
umschlungen – …
Ungebeten und ungewarnt nimmt sie
uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf
und treibt sich mit uns fort, bis wir
ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. Natur! Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was
war, kommt nicht wieder – Alles ist neu
und doch immer das Alte. Natur! … Sie
spricht unaufhörlich mit uns und verrät
uns ihr Geheimnis nicht. … Sie ist die
einzige Künstlerin: aus dem simpelsten
Stoffe zu den größten Kontrasten: ohne
Schein der Anstrengung zu der größten Vollendung – … Natur! Sie spielt
ein Schauspiel: Ob sie es selbst sieht,
wissen wir nicht, und doch spielt sie’s
für uns, die wir in der Ecke stehen. …
Sie hat sich einen eigenen allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann … Sie spritzt ihre
Geschöpfe aus dem Nichts hervor, und
sagt ihnen nicht, woher sie kommen
und wohin sie gehen, Sie sollen nur
laufen; die Bahn kennt sie … Natur!
Leben ist ihre schönste Erfindung, und
der Tod ist ihr Kunstgriff viel Leben zu
haben … Sie hat keine Sprache noch
Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht. Natur! Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch
sie kommt man ihr nahe ... Sie belohnt
sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und quält sich selbst. Sie ist rauh
und gelinde, lieblich und schrecklich,
kraftlos und allgewaltig. … Natur! Sie
ist ganz und doch immer unvollendet.
So wie sie’s treibt, kann sie’s immer
treiben. … Natur! Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit
mir schalten … Alles ist ihre Schuld,
alles ist ihr Verdienst.“
Johann Wolfgang von Goethe
„In einer Zeit erbitterten Kampfes um die
Erhaltung der ehemaligen Hoftheater
Thüringens müssen wir Rudolstädter uns
immer wieder mit Stolz ins Gedächtnis
zurückrufen, dass das erste Jahrzehnt
unseres hiesigen Theaterlebens zugleich
auch ein wertvolles Stück deutscher
Bühnengeschichte bedeutet.“
Waldemar Klinghammer
Erwin Hahn war in den 1920er Jahren
Intendant am Theater Rudolstadt,
spielte in der Inszenierung „Faust“ mit
Orchester 1922 die Rolle des Mephisto.
Waldemar Klinghammer war Jurist,
Schriftsteller, Mundartdichter und Vorsitzender des Vereins „Rudolstädter
Abend“ und schrieb seine vorstehenden
Betrachtungen (über die Uraufführungen
Goethe’scher Dramen in Rudolstadt)
wie Erwin Hahn für das Programmheft
zur Rudolstädter Inszenierung „Faust.
Der Tragödie erster Teil“ von 1922!
Florian Kontschak und Opernchor
Johannes Arpe (oben),Günther Sturmlechner und Schauspielensemble
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Das Böse
von Anja Eisner
18
Der Begriff des „Bösen“ geht auf das
Germanische zurück. Aus „bausja“ entstanden im Althochdeutschen „bôsi“
und mittelhochdeutsch „bœse“, die im
Sinne von „schlimm“, aber auch „gering“ und „wertlos“ verwendet wurden,
obwohl die ursprüngliche Bedeutung
„aufgeblasen“ oder „geschwollen“
meinte.
Das Böse ist heute Inbegriff des moralisch Falschen, ist der Gegenspieler
zum Guten. Jenseits des philosophischen Gebrauchs bezeichnet „böse“
etwas, das sich gegen Jemanden
richtet, bezeichnet etwas, das den
etablierten gesellschaftlichen Normen
widerspricht.
Wendet sich das Böse gegen religiös
bestimmte Normen, so wird es im
Judentum, Christentum und Islam zur
„Sünde“. Der Sünder verrät Gott, indem er verunsichert, misstrauisch oder
bewusst seine Lebensweise nicht mit
Gottes gutem Willen in Übereinstimmung bringt. Das Urbild dafür ist der
biblische Sündenfall, die Geschichte
von Gott, Adam, Eva, der Schlange
und dem Apfel, die zur Vertreibung
des Menschen, zu seiner Trennung von
Gottes Paradies führte.
und sich erst auf die Seite des Bösen
begibt, wenn er auf die Seite geht, die
von etwas außerhalb seiner selbst –
dem Schatten – markiert wird!
Die Psychologen haben das Phänomen
des Abschiebens der Sünde aus dem
Selbst auf etwas außerhalb vielfach
beschrieben. Da wird von „institutioneller Abwehr“ (S. Mentzos), „psychosozialem Arrangement“ (A. Heigl-Evers)
oder „psychosozialer Abwehr“ (S.O.
Hoffmann und G. Hochapfel) gesprochen. Von einer Abwehr, die nicht nur
psychologisch als Lösung eines inneren Konfliktes zu beobachten ist, sondern die gleichzeitig ein soziales, ein
gesellschaftliches Phänomen ist, das
E. Neumann als „Sündenbockpsychologie“ bezeichnet.
Woher der Name Mephistopheles, kurz
Mephisto, kommt, ist nicht eindeutig
zu belegen. Es gibt drei Erklärungsvarianten, die zwar sehr verschieden, aber
alle drei dennoch einleuchtend sind.
Da gibt es zunächst die Rückführung
des Namens auf zwei hebräische
Wörter. „Mephir“ heißt Zerstörer oder
Verderber, als „tophel“ bezeichnet man
einen Lügner. Doch auch das Griechische kann Pate gestanden haben.
In verschiedenen Kulturen taucht das
Die ältere Form Mephostophiles kann
Böse in Person auf. Die Christen kensich aus „me“ für „nicht“ und „phosto“
nen den Teufel, Araber haben Dschinn für „Licht“ oder besonders interessanund die Hindus kennen Dämonen. Sie
terweise auch „Faust“ zusammensetbringen – ganz ohne Zutun anderer,
zen. Dafür spricht, dass der Teufel auch
also auch der Menschen – das VerLuzifer (Lichtbringer) genannt wird, da
derben. Damit schiebt der Mensch die man ihn auch als einst zu den Engeln
Verantwortung für „böse Taten“ von
gehörend und wegen Selbstüberhesich, muss bestenfalls in Reue verfalbung vom Himmel gefallenen Morgenlen, weil er sich zu wenig hat vor dem
stern erklärt. Und die dritte Herleitung
personifizierten Bösen schützen könschließlich nimmt noch das Lateinische
nen. Auch die landläufige Formulierung hinzu; sie erklärt im Wortsinne des
„über seinen Schatten springen“ sagt
Namens, dass Mephistopheles mit
aus, dass der Mensch selbst gut ist
dem Gestank der Hölle umgeben ist:
19
Oper: Tijana Grujicć,
´ Lázaro Calderón
Verfolgt man den Gedanken, dass der
Teufel die Personifizierung der nach
außen verlagerten, von sich weggeschobenen Sünde ist, dann könnte der
Bei Goethe treffen Mephisto und Faust Ruf nach dem Teufel auch bedeuten,
dass Faust, als er sich vollkommen
aufeinander, weil Gott mit seinem
am Ende fühlt, jene Seite seines Ichs
Untergebenen, Mephisto, eine Wette
schließt. Mephisto soll es nicht gelinzulässt, die er als gutes Mitglied der
gen, den unzufriedenen Wissenschaft- christlichen Gesellschaft immer in sich
verleugnet hat. Man könnte sagen, der
ler Dr. Faust von seinem vernunftgeWissenschaftler entdeckt buchstäblich
steuerten, göttlich bestimmten Weg
am Ende seines Lebens die Dialektik
abzubringen. Mephisto darf Faust mit
allen „teuflischen“ Mitteln locken, mit von Gut und Böse. Fausts bisherige,
amüsierender, sinnfreier Zerstreuung, von göttlich ethischen Normen bemit Drogen und mit Herumweiberei.
stimmte Forschung hat es ihm nicht
ermöglicht, herauszufinden, „was die
So wird Faust bei Goethe zum abhängigen Spielball zwischen Gott und dem Welt im Innersten zusammenhält“.
Deshalb begeht er die Sünde, Gott zu
Teufel.
verraten, indem er dem Bösen, seiner
In Gounods Oper existieren Faust und
dunklen Seite, Platz gibt. In der Oper
Mephisto als integre Persönlichkeiten
sogar wirklich, äußerlich sichtbar: Das
nebeneinander, sozusagen auf AugenBöse findet in Gestalt Mephistos Platz
höhe. Als Faust endgültig feststellt,
an der Seite Fausts.
dass der ihm selbst jetzt gerade geAuf diese Weise holt Gounod, obwohl
priesene Gott keinen Weg aufzeigen
er sich thematisch vor allem auf die
konnte, um ihm Erfüllung im Leben zu
gewähren, da ruft er selbst – ganz ohne sogenannte Gretchentragödie bezieht,
doch die ganze Goethe’sche Tragweite
äußeren Anstoß – nach Satan, dem
des Dualismus von Gut und Böse in
Teufel, der dann unter dem Namen wie
seine Oper.
bei Goethe, als Mephisto, auftritt.
„mephitis“ steht lateinisch für „schädliche Ausdünstung der Erde“, und das
griechische „phílos“ steht für Liebe.
GOETHES MEPHISTO ALS SELBSTBEOBACHTER
von Peter-André Alt
20
Schauspiel: Lisa Klabunde und Ensemble
Die Größe des Problems wird auch
nicht geschmälert durch die letztlich
sehr religiös geprägte Wertung der
Handlungen Fausts und Gretchens
durch den Komponisten und seine
Librettisten. Gounod bringt eingangs
der Oper das ewige Problem von Gut
und Böse. Und dann stellt er sich im
weiteren Verlauf – wie jeder andere
Mensch in seinem Leben in seiner
konkreten Zeit – der Beantwortung
der daraus resultierenden Fragen. Der
tief religiöse Komponist Gounod, der
Kleriker werden wollte und von 1846
bis 1848 an Saint-Sulpice studierte,
sah sich in Übereinstimmung mit dem
Katechismus der Katholischen Kirche:
„Das verhängnisvollste dieser Werke
(des Teufels – AE) war die lügnerische
Verführung, die den Menschen dazu
gebracht hat, Gott nicht zu gehorchen.
Die Macht Satans ist jedoch nicht
unendlich. Er ist bloß ein Geschöpf;
zwar mächtig, weil er reiner Geist ist,
aber doch nur ein Geschöpf: Er kann
den Aufbau des Reiches Gottes nicht
verhindern. Satan ist auf der Welt aus
Hass gegen Gott und gegen dessen
in Jesus Christus grundgelegtes Reich
tätig. Sein Tun bringt schlimme geistige
und mittelbar selbst physische Schäden über jeden Menschen und jede
Gesellschaft. Und doch wird dieses
sein Tun durch die göttliche Vorsehung
zugelassen, welche die Geschichte des
Menschen und der Welt kraftvoll und
milde zugleich lenkt. Dass Gott das Tun
des Teufels zulässt, ist ein großes Geheimnis, aber wir wissen, dass Gott bei
denen, die ihn lieben, alles zum Guten
führt“ (Röm 8,28). Stimmen wir der religiös geprägten Sicht des Komponisten
auf das Thema Gut–Böse zu, haben wir
eine Lösung gefunden.
Glauben wir nicht an die göttliche
Schlussapotheose, mit der Gounod
seine Oper krönt, dann schließt sich
der Kreis wieder zu Goethe, der den
Menschen zum ewigen Spielball zwischen Gut und Böse, zwischen Gott
und Mephisto gemacht hat.
Als Gehilfe aus dem Gefolge Satans
scheint er gemäß der Tradition des
Faust-Mythos ein subalterner Bösewicht, als Himmelsbesucher der Knecht
Gottes, als sophistischer Wortverdreher
ein robuster Zyniker, als Fausts chargé
d’affaires ein eleganter Weltmann, als
distanzierter Beobachter des Tragödiengeschehens ein kalter Materialist ohne
Mitgefühl. Nur eins ist er nicht: ein
Teufel, der über die unbedingte Macht
verfügt, die Seele Fausts dauerhaft in
die Hölle zu bannen. Was immer er tut,
steht unter der generellen Einschränkung, dass es von Gott inszeniert wurde. Der Teufel handelt nicht autonom,
sondern im Zeichen seiner Abhängigkeit von der himmlischen Schöpfung,
die er verspotten, aber nicht gleichberechtigt bekämpfen darf. Mephisto ist
eine Verkörperung der Paradoxie, die es
bedeutet, ein Teufel unter den Bedingungen der Aufklärung zu sein. Das
heißt keinesfalls, dass er nicht böse ist,
sondern lediglich, dass das Böse sich
in seinem Fall andere Wege sucht, um
zur Anschauung zu gelangen. (…) Seine
nach dem Vorbild der Hiobsgeschichte
angelegte Wette um Fausts Seele wird
von einem doppelten Gesetz gesteuert,
das ihren Ausgang festlegt. Dessen
erstes Prinzip besagt, dass Gott seinen
„Knecht“ Faust bald „in die Klarheit
führen“ werde (V. 299ff.); sämtliche
Versuche Mephistos, ihn in die Irre zu
lenken, sind ihrerseits von der Täuschung über die Machtmöglichkeiten
des Bösen bestimmt. Diese Täuschung
legt das zweite Prinzip offen, demzufolge der Teufel nur „frei erscheinen“
(V. 336) darf, ohne es tatsächlich zu
sein. Mephisto besitzt a priori keine
ernsthafte Aussicht, die Wette um
Fausts Seele zu gewinnen. Das gesamte
Arrangement der Szene geht auf die
Regie Gottes zurück, der in ihm seine
eigene Macht spiegelt. (…)
Nur dort, wo das Böse als treibendes
Gesetz der Zerstörung die Dynamik des
menschlichen Willens bezeichnet, kann
die Ruhe des Guten im Sinne einer von
Gott geschaffenen vollkommenen Welt
identifiziert werden. Exakt diese (…)
Auffassung reflektiert Goethes Prolog,
wenn der Schöpfer den Teufel als Teil
des großen Welttheaters „zulässt“.
Die Aufgabe, die er ihm zumisst, ist die
des aktiven Störers, dessen Wirkungen
jedoch begrenzt bleiben, weil der Herr
stets die Befugnis besitzt, die vom
Teufel verwirbelten Verhältnisse zu
ordnen. (…) Die Figur des Teufels gehört damit zur Geschichte der Ästhetik
als Geschichte gemischter Gefühle,
in der sich der Reiz des Ambivalenten
durch die Mixturen von Sinnlichem und
Ekelhaftem, Rührung und Schrecken,
Komik und Horror, Pathos und Ironie
offenbart. Der Teufel verkörpert nicht
das Böse, sondern die Lust des Menschen, sich das Böse vorzustellen und
in Bildern nahezubringen.
21
DIE KINDSMÖRDERIN
von Friedrich Schiller (Auszüge)
Horch – die Glocken weinen dumpf zusammen
Und der Zeiger hat vollbracht den Lauf,
Nun, so sei’s denn! – Nun, in Gottes Namen!
Grabgefährten, brecht zum Richtplatz auf.
Nimm, o Welt, die letzten Abschiedsküsse,
Diese Tränen nimm, o Welt, noch hin.
Deine Gifte – o sie schmeckten süße
Wir sind quitt, du Herzvergifterin.
22
Weinet um mich, die ihr nie gefallen,
Denen noch der Unschuld Lilien blühn,
Denen zu dem weichen Busenwallen
Heldenstärke die Natur verliehn!
Wehe! menschlich hat dies Herz empfunden!
Und Empfindung soll mein Richtschwert sein!
Weh! vom Arm des falschen Manns umwunden,
Schlief Louisens Tugend ein.
Und das Kindlein – in der Mutter Schoße
Lag es da in süßer goldner Ruh,
In dem Reiz der jungen Morgenrose
lachte mir der holde Kleine zu.
Ach, in jedem Laut von dir erklingen
Schmerzgefühle des vergangnen Glücks,
Und des Todes bittre Pfeile dringen
Aus dem Lächeln deines Kinderblicks.
Hölle, Hölle, wo ich dich vermisse,
Hölle, wo mein Auge dich erblickt,
Eumenidenruten deine Küsse,
Die von seinen Lippen mich entzückt,
Seine Eide donnern aus dem Grabe wieder,
Ewig, ewig würgt sein Meineid fort,
Ewig – hier umstrickte mich die Hyder; –
Und vollendet war der Mord –
Schauspiel: Lisa Klabunde, Steffen Mensching, Matthias Winde
Trauet nicht den Rosen eurer Jugend,
Trauet, Schwestern, Männerschwüren nie!
Schönheit war die Falle meiner Tugend,
Auf der Richtstatt hier verfluch ich sie! –
Zähren? Zähren in des Würgers Blicken?
Schnell die Binde um mein Angesicht!
Henker, kannst du keine Lilie knicken?
Bleicher Henker, zittre nicht!
23
KRITIK UND STUDIE ZU GOUNODS OPER „FAUST“
von Eduard Hanslick (1875)
EINE FÜLLE AN WOHLLAUT,
WIE IN KAUM EINER ANDEREN OPER
Interview mit dem musikalischen Leiter der Opernproduktion, mit Markus L. Frank
24
Der 19. März 1859 war der Tag der ersten
Aufführung des „Faust“ am ThéâtreLyrique zu Paris – der entscheidendste
Tag in Gounods Künstlerleben. Der
große Erfolg, den diese Oper in Paris
errang und bis jetzt ungeschwächt behauptet, breitete bald seine Strahlen
über das ganze musikalische Europa.
Darmstadt war in Deutschland die erste
Stadt, welche die Novität aufführte.
Der Versuch gelang vollständig; aber je
mehr deutsche Bühnen ihm zu folgen
Miene machten, desto heftiger erhob
sich eine leidenschaftlich teutonische
Opposition dagegen. Mit einem Gerassel
von Gesinnung (…) wurde die neue Oper
schlechtweg als ehrenrührige Parodie
des Goethe’schen „Faust“ gefasst, deren
Aufführung auf deutschen Bühnen geradezu als eine Art musikalischer Landesverrat zu strafen sei. Die Kritiker, welche
so heftig die Ausschließung von „Faust“
aus Deutschland forderten, scheinen uns
in einer doppelten Befangenheit zu stecken. Sie denken zu gering von Gounod
und von der Oper überhaupt. Gounods
Talent und Streben ist zu respectabel,
als dass sein Faust nur eine freche
Verhöhnung des Goethe’schen Werkes
werden konnte. Die Oper ist aber eine zu
gemischte, unreine, bedingte Kunstgattung, als dass sie im Stande wäre, einen
„Faust“ von der Höhe und Vollendung
des Goethe’schen hervorzubringen. (…)
Es ist ein sehr verschiedenes Unterfangen, ob Jemand sich vermisst, Goethes
„Faust“ komponieren, diese reiche, die
höchsten Anliegen des Menschengeistes
umfassende Gedankenwelt nachmusizieren zu wollen, oder ob er lediglich
aus den sinnenfälligsten Momenten
des Gedichtes sich ein dramatisches
Gerüste, ein Libretto zusammenstellt.
Ersteres ist Gounod nicht beigefallen,
dazu denkt er zu praktisch, selbst wenn
er minder bescheiden wäre. (…) Allerdings sind in Frankreich musikalische
Bearbeitungen berühmter Dramen selten, allein der Grund liegt nicht sowohl
in der größeren Pietät gegen die Dichter
als vielmehr in der größeren Wichtigkeit, die das Textbuch einer Oper für die
Franzosen jederzeit hatte. Sie mögen
auch in musikalischer Einkleidung nicht
gern einen ihnen schon bekannten Stoff
sehen, sondern verlangen, dass die
dramatische Grundlage sie als etwas
vollständig Neues interessiere und beschäftige. (…) Will man für die Beurteilung der Gounod’schen Oper einen richtigen Standpunkt einnehmen, so möge
man nichts weiter von ihr erwarten, in
ihr erblicken als eine Art musikalischen
Bilderbuchs zu Goethes „Faust“.
Der Komponist nahm aus diesem dramatischen Mikrokosmos echt musikalisch
die Liebesszenen heraus und legte sie in
einer Reihe von Bildern aneinander. Manche dieser Bilder sind so zart und gemütvoll, dass sie sich ihres hohen Ursprungs
nicht zu schämen brauchen; dahin gehört sehr Vieles aus Margarethens Rolle,
vor allem die Gartenszenen im dritten
Akt. (…)
Die Vorzüge und Schwächen von Gounods Musik zeigen sich am klarsten im
Faust. Gounod ist nicht, was man ein Originalgenie nennt, sondern ein Eklektiker
im bessern Sinne des Wortes. Seine Erfindung weist auf höherliegende Quellen,
namentlich auf Weber und Meyerbeer,
auf deutscher Seite schweift sie weiter
bis zu R. Wagner, auf französischer bis
zu Auber. Diese fremden Elemente haben
sich aber mit Gounods künstlerischer
Individualität so glücklich assimiliert,
dass ohne Frage etwas Neues und Eigentümliches daraus entstand, wie die
einschlagende Wirkung seines „Faust“
beweist.
Gounod schrieb, nachdem er eine Bearbeitung des Goethe’schen „Faust“ kennengelernt hatte, seine Oper zu einem
Libretto von Barbier und Carré. Vieles,
was bei Goethe wichtig ist, floss in die
Oper nicht ein. Entdecken Sie mehr bei
Gounod, wenn Sie das Schauspiel in
Ihre Interpretation mit einbeziehen?
Für mich handelt es sich bei der Oper
um ein eigenständiges Kunstwerk.
Zum einen liegt das an der Sprache:
Goethes Faust ist für die deutsche
Sprache ja fast so bedeutend wie
Luthers Bibelübersetzung. Denken Sie
nur an die vielen Verse, die im Laufe
der Geschichte zu geflügelten Worten
geworden sind! Das geht in einer Übersetzung notgedrungen verloren.
Wie auch in anderen Literaturopern
übernehmen die Librettisten die Handlung und die Grundkonflikte aus dem
Schauspiel. Daraus schaffen sie eine
funktionierende Opernhandlung, die in
der notwendigen Kürze der Gesangstexte und in den dramaturgischen
Abläufen ihre ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten hat. Gounods Anliegen ist es,
den Zuhörer mit musikalischen Mitteln
am Seelenleben der Protagonisten
teilhaben zu lassen. Beispielhaft ist
der Beginn der Oper in Fausts Studierstube: Bei Goethe rezitiert Faust einen
700-Worte-Monolog („da steh ich nun,
ich armer Tor…“), um seine verzweifelte
Situation zu beschreiben. Gounod
schreibt ein 20-taktiges Orchestervorspiel – und ohne dass ein einziges
Wort gesungen worden ist, befindet
sich der Zuhörer in der richtigen Stimmung.
Also: Hier der Vorteil der Sprachkunst,
dort die Vorzüge der Musik?
Goethes geschliffene Sprache provoziert ja geradezu, dass wir versuchen,
tiefschürfend zwischen den Zeilen
zu lesen. Es gibt allerdings mehrere
Briefe, in denen Goethe den Wunsch
äußert, dass seine Werke möglichst
fantasievoll und vor allem zum Vergnügen der Zuschauer auf die Bühne
gebracht werden sollten. Gounods
Kompositionsstil kommt dem sehr
entgegen. Seine Musik ist geprägt von
gesanglichen und sehr eingängigen
Melodien. Dazu erfindet Gounod
Nebenstimmen im Orchester, die auf
wunderbare Weise mit den Gesangsstimmen verwoben sind. Er überschüttet uns geradezu mit einer Fülle an
Wohllaut, wie wir sie in kaum einer
anderen Oper erleben.
Oper: Tijana Grujicć
´
25
DAS BÖSE IST EIN POTENZIELLER TEIL VON UNS
Interview mit dem Regisseur der Oper „Faust“, mit Toni Burkhardt
Goethes „Faust“ als der Deutschen
größtes Drama nötigt besonderen
Respekt ab, lässt den Umgang damit
kaum unbefangen zu. Ist es leichter,
sich „Faust“ zu widmen, wenn er als
Oper erscheint?
26
Oper: Anja Daniela Wagner, Yoontaek Rhim, Katharina Boschmann, Opern- und Extrachor
Sie haben sich für die Aufführung der
Oper in Nordhausen entschieden, die
gedruckt vorliegende Opernfassung im
Fünften Akt um eine Einlage zu ergänzen. Zudem haben Sie im selben Akt
den bacchantischen Gesang gegen ein
Mephisto-Couplet – alles auch Musik
von Gounod – ausgetauscht. Warum?
Gounod und die Produzenten der ersten Stunde haben die Oper immer wieder bearbeitet. Ursprünglich hat man
die Oper ja sogar mit gesprochenen
Dialogen aufgeführt, der Komponist
hat diese erst später in Rezitative mit
Orchesterbegleitung umgearbeitet.
Es war auch gängige Praxis, einzelne
Nummern hinzuzufügen – oder eben
auch mal wegzulassen. So nahm man
Rücksicht auf den Geschmack des Publikums oder auch auf die Wünsche der
Starsänger an der Pariser Oper.
Ihre Frage bezieht sich auf die Hexen-Szene, die auf dem Brocken spielt:
Goethes Dichtung ist hier ja unglaublich derb und vulgär. Die Librettisten
jedoch verzichten – französisch elegant – auf die Übertragung dieser drastischen Textstellen. Gounods musika-
lische Umsetzung wirkt in der üblichen
Zusammenstellung der Musiknummern
demzufolge auch merkwürdig blass.
Wir haben nun bei den üblicherweise
gestrichenen Nummern zwei gefunden,
ein temperamentvolles Mephisto-Couplet und das berühmte „Hexeneinmaleins“, von denen wir glauben, dass
sie unserer Walpurgisnacht die nötige
Würze verleihen.
Es ist ein ganz anderer Zugang. Natürlich hat man „den Goethe“ immer
im Hinterkopf und muss ihn ein Stück
weit mitdenken. Aber die Oper legt
ganz bewusst den Fokus auf einen
kleineren Teil des großen Dramas.
Die Gretchen-Tragödie wird hier zum
Mittelpunkt des Geschehens. Aus
diesem Grund ist die Oper vor allem
in Deutschland auch unter dem Titel
„Margarete“ bekannt geworden. Mit
diesem Schwerpunkt kann man das
Geschehen aus einem ganz anderen
Blickwinkel betrachten und sich eher
auf der emotionalen Ebene nähern,
was natürlich der Gattung Oper sehr
zugute kommt, die wie geschaffen ist
für die großen Gefühle.
Die Gelehrten-Tragödie tritt dem Drama
gegenüber etwas in den Hintergrund,
ohne jedoch ganz zu verschwinden.
Fragen nach dem Sinn des Lebens, der
Quelle und der Macht des Bösen und
der Kraft des Glaubens spielen eine
zentrale Rolle und machen die Oper zu
einer sehr reizvollen Auseinandersetzung mit dem Faust-Stoff, der ohnehin
viel älter ist als Goethes berühmtes
Drama.
Du hast die emotionale Ebene angesprochen, die von der Oper viel mehr
bedient wird. Inwiefern?
Die Oper ist voll von regelrechten Ohrwürmern. Jeder kennt die berühmte
„Juwelenarie“ Gretchens oder Mephistos kraftvolles „Rondo vom goldenen
Kalb“. Und Valentins Gebet am Anfang
des 2. Aktes, kurz bevor er in den Krieg
ziehen muss, ist mit Sicherheit eine
der bewegendsten Arien der Operngeschichte. Man könnte diese Aufzählung
sehr lange fortsetzen. Da fällt es sehr
schwer zu sagen, dies oder jenes ist
mein großer Favorit. Die ganze Oper ist
im besten Sinne großartige Musik der
französischen Schule. Sie hat sehr viel
Herz und Emotion und entwickelt in
den großen Ensembles eine unglaubliche Kraft und Eindringlichkeit. Schon
alleine deswegen lohnt die Auseinandersetzung mit diesem Werk.
Der Regisseur findet aber heute sicher
auch inhaltlich Lohnendes, das nicht
vor allem auf die Musik zurückzuführen
ist?
Ganz sicher. Das Faustdrama beschäftigt sich mit vielen essentiellen Fragen
unseres Lebens: Was ist der Sinn hinter
unserem täglichen Tun? Was macht ein
erfülltes Leben aus? Würde alles besser werden, wenn wir unser Leben mit
der Erfahrung des Alters noch einmal
von vorne beginnen könnten? Faust
steht am Ende eines solchen Lebens.
Er hat Wissen aufgetürmt, sein ganzes
Leben der Wissenschaft verschrieben.
Jetzt zieht er Bilanz und hat das Gefühl,
dass das irgendwie nicht alles gewesen sein kann. Erinnerungen steigen
auf, z.B. an eine frühe Liebe, die er
seinem Streben nach Wissen geopfert
hat. War diese wie viele andere seiner
Entscheidungen richtig? Mephisto gibt
ihm die Chance, noch einmal von vorne
zu beginnen. Aber auch dieses Experiment führt ihn schließlich, aufgrund
seiner eigenen Entscheidungen, in eine
Katastrophe.
27
Eine andere sehr interessante Frage
ist die nach dem Ursprung des Bösen
in der Welt. Und gerade hier finden
sich eine ganze Reihe spannender
Ansatzpunkte im „Faust“. Die Figur des
Mephisto und dessen Wirken lässt sehr
viel Raum für Auseinandersetzungen.
Kokettiert deine Inszenierung mit dem
Teufel oder ist sie nur „dem Guten“
verpflichtet?
28
Tatsächlich ist die Frage nach dem
Bösen in der Welt und dem Teufel zu
einem zentralen Punkt für die Produktion geworden. All die schrecklichen
Dinge, die Menschen tagtäglich anrichten, die sie sich gegenseitig antun,
passieren ja nicht wirklich, weil eine
fremde Macht sie dazu verführt oder
gar gedrängt hat. Unsere These ist,
dass das Böse ein Teil von uns ist. Es
steckt in uns und wir müssen Verantwortung dafür übernehmen, uns damit
auseinandersetzen, es bändigen, wenn
man so will.
Der Teufel ist dann nur eine Projektions- und Entlastungsfigur, etwas,
auf das man sehr einfach die Schuld
schieben kann, wenn Schreckliches
geschieht. Nicht umsonst wird der
Teufel oft als Verführer beschrieben.
Er bringt in der Mythologie das Böse,
er verkörpert es. Wenn es geschieht,
dann waren wir nur zu schwach, ihm zu
widerstehen. Damit ist das Böse aber
aus uns herausgelöst und etwas, das
von Außen zu uns kommt. Würde man
den Teufel besiegen, wäre das Böse
auch besiegt. Aber wenn wir das Böse
so von uns trennen, machen wir uns
auch ein Stück weit frei von der Verantwortung für unser Tun. Und hier liegt
eine große Gefahr, denn das Böse ist
nun mal ein potenzieller Teil von uns,
den wir nicht einfach so heraustrennen
und irgendwo auf Nimmerwiedersehen
wegsperren können. So lange wir existieren, wird es uns immer begleiten
und wir müssen uns immer wieder
aktiv damit auseinandersetzen, Verantwortung dafür übernehmen und es, so
gut es geht, im Zaum halten.
29
Steht nun der Teufel wie im „Faust“ in
Persona auf der Bühne, erscheint sozusagen als konkrete Figur und damit
als greifbarer Gegenpart der Protagonisten, dann liegt es sehr nahe, sich
mit diesem Themenkreis in einer Inszenierung auseinanderzusetzen.
Quellen:
S. 4: Die Handlung wurde für dieses Heft von Anja Eisner nacherzählt. S. 6/7, 9, 11, 16, 17 und 21: zit. mit
frdl. Genehmigung des Theaters nach Programmheft des Theaters Rudolstadt zu „Faust_Eins“, Spielzeit 2014/2015. (S. 6: Originalartikel für das Rudolstädter Programmheft; S. 11 aus Petra Maisak, Anne
Bohnenkamp, Goethes „Faust“, Verwandlungen eines „Hexenmeisters“, Frankfurt/Main 2007; S. 16:
aus Programmheft zur Inszenierung „Faust. Der Tragödie erster Teil“ am Theater Rudolstadt, 1922, in:
ThStA Rudolstadt, Theaterprogramme des Rudolstädter Theaters, Nr. 302; S. 17: aus Johann Wolfgang
von Goethe: Die Natur. Fragment. In: Tiefurter Journal, 1783; S. 21 aus Peter-André Alt, Ästhetik des
Bösen, München 2010.) S. 11: Ruth Berger zit. nach Berger, Ruth, Gretchen. Ein Frankfurter Kriminalfall,
Reinbek bei Hamburg 2007. S. 12: Der Artikel wurde redaktionell zusammengestellt unter Verwendung
von Schonberg, Harold C. Die großen Komponisten, Bindlach 1990; Wikipedia. S. 18: Originalbeitrag für
dieses Heft unter Verwendung von Katechismus der Katholischen Kirche, zit. nach https://de.wikipedia.
org/wiki/Teufel, www.duden.de/rechtschreibung/boese; Stichwörter Böse, Teufel, Schatten in Wikipedia, die freie Enzyklopädie; www.bibel-online.net/buch/luther_1912/jesaja/14/. S. 23: Die Kindsmörderin, zit. nach www.gah.vs.bw.schule.de/leb1800/schiller.htm. S. 24: gekürzt aus Hanslick, Eduard,
Die moderne Oper, Berlin 1892, zit. nach: http://imslp.nl/imglnks/usimg/1/1d/IMSLP96840-PMLP199055-diemoderneoperkr00hans_bw.pdf. S. 25–28: Die Interviews sind Originalbeiträge für dieses
Programmheft.
Urheber der Photos „Faust_Eins“ (Schauspiel, S. 7, 9, 14, 17, 20, 22, 31) ist Christian Brachwitz, Urheber
der Probenphotos von der ersten Kostümprobe der Oper „Faust“ (S. 2, 5, 8, 10, 13, 15, 16, 19, 25, 26, 29) ist
Roland Obst.
Oper: Hugo Zeplichal und Opernchor
DIE STADTBIBLIOTHEK
„Rudolf Hagelstange“, Nikolaiplatz 1, Tel. (0 36 31) 69 62 62, hält zu „Faust“
u. a. folgende Medien bereit:
30
Literatur
Deutsche Volksbücher:
in drei Bänden – Berlin; Weimar: Aufbau-Verl., 1968.
Bd. 3. Historia von Doktor Johann
Fausten. Histori von den vier Heymonskindern
Goethe, Johann Wolfgang von: Faust:
der Tragödie erster und zweiter Teil,
Urfaust/Johann Wolfgang von Goethe.
Hrsg. u. kommentiert von Erich Trunz.
– München: Beck, 1999. – 777 S.
Hippe, Robert:
Stoffe der Weltliteratur: Erläuterungen
zu Faust: das Volksbuch, Christopher
Marlowe, Lessing, Goethes „Urfaust“,
Paul Valery. – Hollfeld: Bange,
1980. – 59 S.
CD
Goethe, Johann Wolfgang von: Faust:
Der Tragödie erster Teil/Goethe,
Wolfgang von. Sprecher: Rolf Günther. – steinbach sprechende bücher,
2005. – CD
31
Goethe, Johann Wolfgang von:
Faust II: Die Gründgens-Inszenierung
am Deutschen Schauspielhaus Hamburg 1959/Johann Wolfgang von Goethe. Darst.: Paul Hartmann; Gustaf
Gründgens; Maria Becker u.a. – Hamburg: Deutsche Grammophon GmbH,
2004. – CD
Gounod, Charles:
Faust/Charles Gounod. Chorus and
Orchestra of Welsh National Opera.
Carlo Rizzi [Dir.]. – Germany: Teldec
Classics International, 1994. – CD
Mahal, Günther:
Faust: die Spuren eines geheimnisvollen Lebens/Günther Mahal. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt,
1995. – 392 S.
Safranski, Rüdiger:
Goethe: Kunstwerk des Lebens; Biografie/Rüdiger Safranski. – Leipzig:
Hanser Verl., 2013. – 748 S.
DVD
Faust/nach d. Drama von Johann Wolfgang von Goethe. Regie: Peter Gorski.
Darst.: Will Quadflieg; Gustaf Gründgens; Elisabeth Flickenschildt. – Kinowelt GmbH, 2009. – DVD
Schauspiel: Matthias Winde, Steffen Mensching und Ensemble
Impressum:
Herausgeber: Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH,
Intendant: Lars Tietje, Käthe-Kollwitz-Straße 15, 99734 Nordhausen, Tel. (0 36 31) 62 60-0,
Programmheft Nr. 1 der Spielzeit 2015/2016, Premiere der Oper: 18. September 2015
Redaktion und Gestaltung: Dr. A. Eisner
Layout: Landsiedel | Müller | Flagmeyer, Nordhausen