Interview mit MISEREOR-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel Gerechtigkeit als Maßstab von Entwicklung Warum richten MISEREOR und der Rat der christlichen Kirchen in Brasilien die Fastenaktion zum ersten Mal gemeinsam aus? Könnte dieses Modell, etwas Gemeinsames mit der Kirche eines anderen Kontinents zu machen, Schule machen für Fastenaktionen der nächsten Jahre? Spiegel: Wir wollen diese kommende erste Erfahrung auswerten und dann weitersehen. Auch Brasilien hat bereits seit mehr als 50 Jahren eine Fastenaktion und es gibt bei aller Unterschiedlichkeit sehr viele gemeinsame Elemente zwischen der Art, wie wir die Fastenaktion gestalten und wie es die brasilianische Kirche bzw. die christlichen Kirchen im ökumenischen Rat Brasiliens tun. Ob aus dieser Kooperation ein Modell werden kann, ist schwer zu beurteilen. Lateinamerika ist stark vom Christentum geprägt. Das trifft etwa auf den asiatischen Kontinent nicht in dieser Weise zu. In Brasilien hat die katholische Kirche eine dominante Rolle, während sie zum Beispiel in Indien nur einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung repräsentiert. Aber eine Erfahrung ist uns ganz wichtig: Wir vermitteln bei MISEREOR die klare Botschaft, dass wir künftig global betrachtet in anderen, neuen Kategorien denken müssen. „Nord und Süd“ sind heute nicht primär geographische Kategorie, sondern soziale. Es gibt Ausgrenzungen, Menschen, die nicht teilnehmen an einem Leben in Würde, in allen Ländern der Erde. Es gibt in allen Ländern Leute, die in sehr guten Verhältnissen leben. Wenn sich das weltweit widerspiegelt, dann gibt es diese Herausforderung auch in allen Ländern. Und wir müssen überall und gemeinsam die vorhandenen Potenziale nutzen, wenn wir die Transformation zu einer gerechteren, menschlicheren, teilhabenderen Welt für alle schaffen wollen. Die kommende MISEREOR- Fastenaktion hat das Motto „Das Recht ströme wie Wasser“, ein Zitat aus dem Buch Amos. Was soll mit diesem Leitgedanken vermittelt werden? Spiegel: Der Prophet Amos hat vor 2800 Jahren gelebt. Jetzt könnte man natürlich fragen, wie heute, also in einer ganz anderen Zeit, das ein geeigneter Impuls sein kann. In der Zeit, in der der Foto: MISEREOR Spiegel: Wir sind davon überzeugt, dass es große gemeinsame Herausforderungen wie den Klimawandel, die Menschenrechte oder die Frage einer zukunftsfähigen Lebensweise auf unserem Erdplaneten gibt, die nicht von einem einzelnen Land gelöst werden können. Zum Zweiten sagen die Vereinten Nationen, dass 80 Prozent der Menschen weltweit einer Religion angehören oder sich zumindest als religiös einstufen. Das wiederum zeigt uns, wie bedeutsam Religionen sind und dass sie deshalb auch einen Beitrag leisten müssen zu einer menschlicheren und gerechteren Welt. Weiterhin: Brasilien ist ein sogenanntes Schwellenland, also nicht nur Empfänger internationaler Hilfe, sondern ein wichtiger Akteur. Wir wollen gemeinsam an den großen Herausforderungen unserer Zeit arbeiten und dabei die unterschiedlichen Potenziale Brasiliens und Deutschlands einbringen. Interview mit MISEREOR-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel Prophet Amos gelebt hat, gab es einen großen wirtschaftlichen Aufschwung, besonders für einige Wenige. Am Großteil der Bauern, der einfachen Leute, ging dieser Aufschwung vorbei. Daraufhin hat der Prophet Amos die große Leitlinie ausgegeben: „Das Recht ströme wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“. Auch heute ist dieses Thema brandaktuell: Gerechtigkeit ist Maßstab von Entwicklung. Rechte für die, die keine Rechte haben – dafür einzutreten, bleibt eine große Herausforderung. Wir wollen mit dem Vers des Amos‘ einen Dreiklang zustande bringen: Der große Rahmen hierfür ist das gemeinsame Haus, wie es Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato Si“ formuliert hat: Partizipation, Teilhabe aller an diesem großen Haus des Erdplaneten – darum geht es. Die Brücke hierzu sind Recht und Gerechtigkeit. Und die Triebfeder, warum wir für Recht und Gerechtigkeit unterwegs sein wollen, ist die Barmherzigkeit. Deshalb passt unser Motto sehr gut mit dem von Papst Franziskus für 2015/16 ausgerufenen Jahr der Barmherzigkeit zusammen. Die Barmherzigkeit als Triebfeder für eine größere Gerechtigkeit, in dem großen Rahmen des gemeinsamen Hauses Erde, auf dem wir wohnen. Amos betont den unbedingten Vorrang der Gerechtigkeit. Dieser Gedanke wird auch von Jesus aufgegriffen, u.a. in der Bergpredigt: „Selig, die für die Gerechtigkeit unterwegs sind. Suchet zuerst die Gerechtigkeit Gottes“. Was gibt uns der Papst konkret mit diesem Jahr der Barmherzigkeit als Auftrag mit, und was hat das mit der Fastenaktion zu tun? Spiegel: Im Wort MISEREOR steckt das Wort Barmherzigkeit. MISEREOR heißt Compassion – ein Herz haben – besonders für die Armen, die Menschen, die kein Recht haben, die von der Gerechtigkeit ausgeschlossen sind. Papst Franziskus nennt Barmherzigkeit das „pulsierende Herz des Evangeliums“. Das bedeutet: Es darf keine Globalisierung der Gleichgültigkeit geben, wie es der Papst sagt, oder wie es in einem berühmten argentinischen Lied heißt: „Gott, ich bitte dich nur eins, dass ich nicht gleichgültig gegenüber fremden Leid werde“. Es geht bei allem um den Gründungsauftrag MISEREORs: Gegen Hunger, gegen Krankheit und deren Ursachen in dieser Welt aufzustehen und zu handeln. Nicht gleichgültig gegenüber fremden Leiden zu sein. Und die Haltung, mit der ich dabei unterwegs bin, ist die Haltung der Barmherzigkeit. Darum sind Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zwei Seiten der gleichen Medaille, und wir denken sie zusammen. Sie haben die Verantwortung aller Menschen für das gemeinsame Haus Erde nun schon mehrfach angesprochen. Was bedeutet das in Bezug auf das Thema der Fastenaktion konkret? Spiegel: Wir haben in Brasilien zwei Projekte ausgewählt, an denen wir diesen Gedanken deutlich machen wollen. Die konkrete Verantwortung für das Haus Erde betrachten wir einmal aus der städtischen Perspektive und einmal aus der des ländlichen Kontextes. Im städtischen Kontext in São Paulo stellen wir die Arbeit eines Zentrums in den Mittelpunkt, das seit den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts für die Rechte von Menschen ohne Rechte eintritt. Insbesondere geht es dabei um das Recht auf Wohnen in der Stadt, in der besonders krass Extreme aufeinandertreffen. Im ländlichen Gebiet am Amazonas im Norden Brasiliens geht es um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von Menschen, die seit Generationen vom Fluss leben und um die des indigenen Volkes der Munduruku. Wir wollen Zusammenhänge aufzeigen; zum Beispiel soll am Fluss Tapajós ein Staudamm gebaut werden, der das Land dieser Menschen überfluten würde. Dieser Staudamm ist Teil eines Projektes zur Erschließung des Regenwaldes, zur Beschleunigung des Wachstums in Brasilien: Stromerzeugung für Großkonzerne und eine ganzjährig befahrbare Wasserstraße bis zur Atlantikmündung, um vor allem Soja exportieren zu Interview mit MISEREOR-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel können. Auch wir profitieren von Rohstoffen aus der Amazonasregion und von billigen Agrarimporten. Diese Zusammenhänge wollen wir aufzeigen, ebenso die Tatsache, dass Entscheidungen an einem bestimmten Ort woanders Tsunamis auslösen können. Während der Fastenaktion laden wir dazu ein, Verbindungen zwischen Ländern und Kontinenten, Abhängigkeiten sowohl im negativen als auch im positiven Bereich in den Blick zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Wir wollen mit unserer Projektarbeit auch einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen ihre Rechte verteidigen können und Zusammenhänge aufzeigen, was mangelnde Rechte für Menschen in anderen Ländern mit uns in Deutschland zu tun haben. Welche Vorstellungen haben wir von Entwicklung und Fortschritt für Deutschland, für Brasilien, für die Welt? Die Fastenaktion ist stets auch eine Gelegenheit für Menschen, über das eigene Leben, die eigenen Bedürfnisse, aber auch ihre persönliche Verantwortung nachzudenken. Was können diese sieben Wochen für jeden einzelnen in Deutschland bedeuten. Was kann er davon mitnehmen und worüber sollte er sich Gedanken machen? Das MISEREOR-Hungertuch, das von dem chinesischen Künstler Prof. Dao Zi entworfen und gemalt wurde, macht das sehr deutlich. Er fragt mit seinem Bild, das den Titel „Gott und Gold – Wieviel ist genug“? trägt: „Woran hängt dein Herz?“. Das heißt: Fastenzeit bedeutet immer, sich zu fragen, welche Prioritäten ich setze. Was haben die Prioritäten, die ich setze, mit dem Leben anderer zu tun? Wir können uns das derzeit in Bezug auf ganz große Fragen der Menschheit verdeutlichen, in der Klimafrage oder ganz aktuell in der Frage der Flüchtlinge. Wie viel Platz ist in dieser Welt? Die Vision Gottes ist, dass alle Menschen auf diesem Erdplaneten Platz haben. Von daher zielt die Fastenzeit immer auf den Kern unseres Glaubens. Transformation – Umkehr zu einer Welt, in der Leben für alle möglich ist, das sollte unsere Perspektive sein. MISEREOR möchte einen Beitrag dazu leisten, diese Perspektive gerade in der Fastenzeit neu zu entdecken. Brasilien ist ein Land, das wirtschaftlich gesehen mittlerweile zu den „großen Playern“ gehört – ein reiches Land. Ich habe selber schon Spender getroffen, die mich gefragt haben, warum MISEREOR noch Spenden sammelt für Brasilien, wo sich Menschen dort theoretisch auch selbst helfen könnten. Warum macht MISEREOR dennoch gemeinsam mit den brasilianischen Kirchen eine Fastenaktion, und warum ist es immer noch wichtig, dieses Land auch mit Projekten und viel Geld zu unterstützen? Spiegel: In Brasilien leben mehr Menschen unter der Armutsgrenze, als Bolivien Einwohner hat, das sind etwa 14 Prozent der Bevölkerung. Bolivien hat zwölf Millionen Einwohner, Brasilien über 200 Millionen. Gleichzeitig ist Brasilien die siebtreichste Ökonomie dieser Welt. Nach dem sogenannten Gini-Koeffizienten, der die Einkommensgerechtigkeit misst, ist das Vermögen in Brasilien im Weltmaßstab besonders schlecht verteilt. Es gibt eine kleine, sehr reiche Gruppe von Menschen. Und dies bei weit verbreiteter extremer Armut. Es gibt in Brasilien zum Beispiel fünf Millionen Familien, die kein Land besitzen, um es für den eigenen Lebensunterhalt zu bearbeiten. Die brasilianische Regierung hat zwar große Programme aufgelegt, um die Ärmsten zu unterstützen, doch die große Ungerechtigkeit bei der Einkommensverteilung ist geblieben. Für MISEREOR bedeutet das, diese Entwicklungsverlierer nicht aus dem Blick zu verlieren, für diese rechtlosen Menschen Räume zu schaffen, damit sie für ihre Rechte kämpfen können. Es geht in der Zusammenarbeit mit diesem sogenannten Schwellenland darum, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen - und damit beginnt auch unsere Verantwortung in Deutschland. Wir leben in Interview mit MISEREOR-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel einem gemeinsamen Haus. Von daher ist auch Brasilien Akteur und nicht ein reines Empfängerland. Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, die Zivilgesellschaft zu stärken, damit die genannten Ungleichheiten, die sehr viele Konflikte heraufbeschwören, weniger werden, so dass alle Menschen an den großen Potentialen, die Brasilien besitzt, teilnehmen können. Foto: Kopp/MISEREOR Sie haben selbst 15 Jahre im Nordosten Brasiliens gelebt. Wie war damals die Situation, gerade der ärmeren Bevölkerungsschichten? Spiegel: Vor 25 Jahren ging ich nach Brasilien. Gesichter und Sätze von Menschen werde ich nicht vergessen wie etwa: „Padre, wir haben niemanden, der unser Recht verteidigt. Richter sind korrupt, die Polizei schlägt uns und verteidigt uns nicht, die Kirche ist eigentlich die einzige Instanz, die vom Evangelium her unsere Rechte verteidigt.“ Und dabei habe ich gelernt, dass der arm ist, der kein Recht hat, ein Recht zu haben. Von dieser Perspektive her habe ich erfahren, dass es wenig nützlich ist, wenn wir Entwicklungsprojekte auf dem Lande fördern, aber die Kleinbauern nicht Besitzer ihres eigenen Landes sind. Was nützt es, wenn lokale Märkte geschaffen werden, aber keine Straßen da sind, um die Produkte in die Städte zu transportieren? Da hat sich in den vergangenen 15 Jahren schon einiges verbessert, aber es bleibt noch viel zu tun. Was ist konkret besser geworden und wo liegen heute die Hauptprobleme? Spiegel: Brasilien wird seit vielen Jahrzehnten als das Land der Zukunft gesehen. Einmal von der kulturellen Vielfalt her, von der Schönheit des Landes, von dem Potential der Menschen, den verschiedenen Menschengruppen, von den Ressourcen her. Gleichzeitig liegt eine der großen Herausforderungen in vielen Systemen im Land, die immer wieder durch Korruption auffallen, und wie schon gesagt in der großen Ungleichverteilung des Reichtums. Ebenso werden Bevölkerungsgruppen, wie die indigene Bevölkerung, die Flussbewohner – die sogenannten „Ribeirinhos“ – weiter krass benachteiligt. Deren Rechte, in Würde dort zu leben, wo sie leben wollen, sind kaum auf der Tagesordnung der Politik. Große Fortschritte haben die politisch Verantwortlichen mit Projekten gemacht, um Schulbildung für alle zu ermöglichen. Dabei darf es allerdings nicht nur um Quantität, sondern auch um die Qualität der Schulbildung gehen. Es wird investiert in Infrastruktur, damit Bauern ihre Produkte auf lokalen Märkte vertreiben können, aber eine Vielzahl dieser Programme dient leider weiterhin dem Export, anstatt sich stärker an den Bedürfnissen der eigenen Bevölkerung zu orientieren. Da sind wir mit Kirche, mit Zivilgesellschaft unterwegs, um immer wieder Anwalt zu sein für die Rechte gerade derer, die in dieser Entwicklung des Landes durchfallen und um ein Entwicklungsmodell zu hinterfragen, das sich wenig an den Bedürfnissen und der Kultur der vor Ort lebenden Menschen orientiert.
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